Читать книгу Esariel - Andreas Michels - Страница 10
4. Kapitel
ОглавлениеBetont langsam schließe ich kurz die Augen, um dann tief durchzuatmen. Es ist lange her, dass jemand meinen wahren Namen mir gegenüber ausgesprochen hat. »So, du kennst mich also!«, presse ich hervor und will am liebsten das Handy in der Hand zerdrücken. »Damit bist du im Vorteil! Mit wem habe ich denn die Ehre?« Abgehacktes, irgendwie nass klingendes Lachen ertönt. »Ich heiße Agahaz, kleiner Schutzengel!« Augenblicklich zermartere ich mir das Gehirn, doch sagt mir der Name rein gar nichts. »Und was willst du?«, frage ich also in arktischem Tonfall.
Abermals muss ich mir widerwärtiges Gelächter anhören, bevor eine Antwort erfolgt. »Weißt du, mein Freund. Ich beobachte dich jetzt schon recht lange. Deinesgleichen ist rar geworden! Deswegen gestalte ich diese kleine Jagd auch als etwas ganz Besonderes.« Wiederrum lacht er. »Du hast die Frage zu Beginn unserer tiefschürfenden Konversation nicht beantwortet! Vermisst du dein Kätzchen?«
Ich balle schweigend die freie Hand zur Faust, als weitergesprochen wird. »Keine Sorge, sie war schon tot, als der Sprengstoff hochging. Ich habe ihr vorher persönlich das Fell abgezogen! Aber seltsam, dass dir als Katzenfreund noch nicht klar ist, was ich mit dir vorhabe: Wie eine Katze mit der Maus wird es hier einen Tatzenschlag von mir geben, dann da einen. Und ganz zuletzt, wenn du alles verloren hast, das dir etwas bedeutet, komme ich dich holen! Na, wie klingt das?«
Mir ist schleierhaft, wie meine Stimme ruhig bleiben kann. »Hier ist ein Gegenangebot: Lass Stefanie gehen und krümme ihr kein Haar. Dann vergessen wir die Sache. Andernfalls wirst du herausfinden, wozu ich fähig bin, das verspreche ich dir!«
Seinem Gelächter zufolge unterhalte ich meinen Gegenspieler königlich. »Oh du kleiner, tapferer Schutzengel! Wie unerwartet mutig! Ich möchte dir etwas zu bedenken geben: Ich fange doch gerade erst an! Mit deiner Kleinen lasse ich mir schön viel Zeit, ja vielleicht bleibt sie sogar am Leben und wird nur ein bisschen nach meinen Bedürfnissen umgestaltet. Aber vorher gibt es da noch jemanden, den ich mir holen werde. Erinnerst du dich an diese kleine Hure, für die du den Ritter in der gleißenden Rüstung gespielt hast? Sobald ich sie gefunden habe, wird deine ach so heiß geliebte Steffi zusehen dürfen, wie ich sie genüsslich ausweide!«
Dann holt Agahaz Luft und brüllt hasserfüllt los. »Genau wie ich jeden anderen Menschen holen werde, der dich auch nur einmal angelächelt hat! Du und deinesgleichen ihr widert mich an!«
Bevor ich eine Antwort zustande bringe, ist die Verbindung unterbrochen. Sprachlos blicke ich auf das Hafenbecken vor mir, um alsbald auf den Knien zu landen.
Das Handy fällt mir aus den kraftlosen Händen, während mir die boshafte Stimme von Agahaz einer Endlosschleife gleich durch meinen Geist hallt.
So einfach ist es also: Von allen Gefallenen, die noch existieren, erwische ich jetzt ausgerechnet einen derjenigen, die eine Vernichtung eines Himmlischen bis ins kleinste Detail zelebrieren. Und ganz offensichtlich kennt er die Schwächen meiner Art genau…
Wie ein Schlafwandler greife ich nach dem Handy, rapple mich hoch und kehre zum Wagen zurück. Mangels anderer Ideen ist es wohl das Beste, einfach mit dem Plan weiterzumachen wie bisher, allerdings muss ich zunächst eine Warnung aussprechen.
Auf dem Weg zum Auto wähle ich eine Nummer. Es ist kaum verwunderlich, dass Anil schon nach dem ersten Läuten ans Telefon geht. »Hier ist Michael!«, beginne ich übergangslos. Die Stimme des Deutschtürken bricht nahezu bei seiner Antwort. »Micha. Hier ist die Hölle los. Das ganze Haus…« Weiter kommt er nicht, bevor ich ihm harsch ins Wort falle. »Hör mir jetzt gut zu: Verschwindet von da! Wer zu Verwandten anderswo ziehen kann, soll das tun! Lasst euch keinesfalls mehr dort blicken, wenn euch euer Leben lieb ist! Ein anderer, wie ich es bin, befindet sich in der Gegend. Er ist für die Explosion verantwortlich und kommt möglicherweise wieder! Hast du das verstanden?«
Anil und ein Großteil seiner Sippe leben, oder besser gesagt lebten auch in dem Wohnblock, dessen oberer Teil dank mir in die Luft geflogen ist. Verwirrung und Angst klingen in Anils Tonfall bei seiner Antwort mit. »Ja, Mann! Aber wie soll…?«
Abermals schneide ich ihm das Wort ab. »Kein Aber! Tut es, oder tragt die Folgen!« Jetzt ist es an mir, die Verbindung zu unterbrechen. Ich komme mir wie das letzte Arschloch vor, als ich mich auf den Weg mache.
Anil verdient eigentlich eine Erklärung, doch je weniger er weiß, desto besser für ihn.
Vor meinem geistigen Auge sehe ich Fatma, eine rundliche Frau mit fleckigen Zähnen, die mich in der Vergangenheit regelmäßig mit allerlei Köstlichkeiten gefüttert hat. Beim Gedanken daran, dass etliche Bewohner des Wohnblocks jetzt höchstwahrscheinlich nicht mehr am Leben sind, möchte ich vor Wut einfach nur schreien. »Wir werden ja sehen, wer die Katz und wer die Maus ist!«, höre ich mich selbst murmeln und starte den Wagen.
Nur wenig später checke ich in einem kleinen Hotel ein. Eine Katzenwäsche auf einem öffentlichen Klo, sowie ein Reservehemd aus dem Kofferraum ermöglichen mir dies zu tun, ohne dass der Nachtportier gleich die Polizei ruft. Es ist eine billige Absteige, die Sorte von Unterkunft, in der Monteure und dergleichen übernachten. Immerhin sieht der Eigentümer davon ab, die Zimmer stundenweise zu vermieten, was schon mal von Vorteil ist. Eine kleine Reisetasche, die sich für Notfälle immer im Kofferraum befindet, ist mein einziges Gepäck. Scheiße, eine bessere Definition des Wortes Notfall habe ich seit Jahrhunderten nicht mehr erlebt!
Das Zimmer ist schlicht, aber sauber. Den Koffer werfe ich aufs Bett, bevor ich mit einer Bestandsaufnahme beginne. Knapp 300 Euro in bar, mein treuer Begleiter aus dem Hause Heckler & Koch, plus zwei Reservemagazine und Wechselklamotten. Nicht allzu üppig, doch notfalls kann ich mir aus einigen Depots noch mehr Kram und Geld holen, wenn sich die Notwendigkeit ergibt.
Um zur Ruhe zu kommen, pflanze ich mich in den etwas wackligen Sessel des Raums und schalte den Fernseher ein. Großer Fehler, denn als erstes ist mein eigenes Gesicht in Nahaufnahme zu sehen. Irgendein Kasper hat wohl nach der Explosion im Ramses nichts Besseres zu tun gehabt, als die Flüchtenden auf dem Parkplatz zu filmen. Glücklicherweise wandert die Kamera schnell weiter, dennoch widert mich meine offensichtliche Hilflosigkeit in dieser Aufnahme an. Also schalte ich den Fernseher wieder aus und werfe die Fernbedienung achtlos in Richtung Bett.
Zwar müsste ich Dressler Senior über die Entführung informieren, aber was will ich ihm bitte sagen? Dass seine Tochter von einem hasskorrumpierten Engel entführt wurde und er sie höchstwahrscheinlich nie wieder sehen wird? Den Job und die zugehörige Identität kann ich sowieso in den Wind schießen, unabhängig davon, wie ich jetzt weiterhin meine Rolle spiele.
Nach weiteren Überlegungen wähle ich dennoch seine Nummer und setze ihn mit wenigen Worten über die grundlegende Sachlage der Entführung in Kenntnis. Dressler tobt, verhält sich aber ansonsten wie erwartet: Keine Polizei oder dergleichen! Zunächst soll eine mögliche Lösegeldforderung abgewartet werden, bevor er weitere Schritte veranlasst, wie auch immer sie ausfallen mögen. So wenig ich normalerweise mit seinem paranoiden Verhalten konform gehen würde, so sehr freue ich mich über den Aufschub von ein paar Tagen.
Ruckartig stehe ich anschließend auf, um ans Fenster zu treten und mit verschränkten Armen auf die schlafende Stadt zu blicken. Ich beobachte die rasch vorbeieilenden Passanten dort unten und gehe dabei immer wieder die Unterhaltung mit Agahaz durch.
Aber eigentlich drücke ich mich nur vor den notwendigen Schritten, denn mir ist nur zu klar, was als nächstes zu tun ist. Also verlasse ich das Zimmer und stehe wenig später unten an der Rezeption, wo ich den Portier übermäßig freundlich nach Stift und Papier frage.
Mit dieser Beute bewaffnet, kehre ich zurück in meinen Raum und beginne zu zeichnen. Eine Kunst, die ich in den Jahrhunderten der Existenz als vermeintlicher Mensch wahrlich zur Meisterschaft gebracht habe. In wenigen Minuten entsteht eine passable Phantomzeichnung der jungen Frau aus der Nebenstraße.
Sie zu finden, wird nicht leicht werden, aber zumindest muss ich es versuchen. Wenn ich eine Entdeckung vermeiden will, bleibt mir nur der klassische Weg, um sie aufzuspüren, schon weil es mir jedes anderen Ansatzpunktes ermangelt. Leider ist der Gedanke für mich unerträglich, Agahaz dabei zusehen zu müssen, wie er seine Ankündigung bezüglich des Mädchens in die Tat umsetzt. Stellt sich nur noch die Frage, ob mein Gegenspieler mit dem Anruf genau diese Aktion meinerseits bezweckt hat.
Es ist kurz vor vier Uhr, als ich in Bomberjacke und Cargo-Pants erneut am Nachtportier vorbeimarschiere, um das Hotel zu verlassen. Als erste Station halte ich auf einen Geldautomaten zu, wo ich mein Konto mit dem Tageslimit belaste. Eigentlich ist es Wahnsinn, mit knapp tausend Euro in den Taschen herumzuspazieren, aber fast schon wünsche ich mir gerade einen Überfall, um mich abzureagieren.
Die Suche beginnt genau da, wo ich die unbekannte Dame zum ersten Mal getroffen habe. Sie muss dort in der Gegend wohnen, denn dem horizontalen Gewerbe wird hier eher nicht nachgegangen. Primär gibt es hier Sozialwohnungen, die in den Siebzigern aus dem Boden gestampft wurden und inzwischen zumeist stark sanierungsbedürftig sind.
Ich stelle den Wagen in einer Nebenstraße ab, steige aus und beginne mich umzuhören. Eben kehren die Nachtschwärmer, darunter auch viele Kolleginnen meiner unbekannten Schönheit, in ihre trauten Heime zurück.
Ich fange also an, auf gut Glück Passanten zu fragen und zeige ihnen dabei die Zeichnung.
Normalerweise würde sich hier kaum jemand von einem bullig gebauten Typen ansprechen lassen und schon gar nicht zu dieser Zeit. Aber wie so oft im Leben wirkt ein Lächeln, in Kombination mit einem gefalteten Geldschein, Wunder. Und hinzu kommen die Auren der Leute, die mir doch den einen oder anderen Hinweis geben, bei wem ich Glück haben könnte.
Eine halbe Stunde und knapp zweihundert Euro später, bin ich dennoch geneigt, fürs Erste abzubrechen. Ich will mich schon auf den Rückweg machen, da biegt in die Straße vor mir eine mittelgroße Dame ein, deren müdes Gesicht viel zu viel Schminke gesehen hat. Eine, trotz der Kälte, sehr offenherzige Kleidung, vor allem über die Knie reichende, hochhackige Stiefel, sprechen eine deutliche Sprache, welcher Profession sie angehört.
Ihre leicht schräg stehenden Augen, sowie der Rest ihrer Gesichtsstruktur deuten auf einen osteuropäischen Ursprung hin. Also noch ein Versuch. Langsam gehe ich ihr entgegen, die Hände deutlich sichtbar vor mir, mit der gefalteten Zeichnung darin. Um sie nicht zu erschrecken, spreche ich sie schon auf fünf Meter Entfernung an. »Guten Morgen! Hättest du kurz Zeit? Ich brauche deine Hilfe!«
Naturgemäß hält sie an und beäugt mich. Trotz des unmittelbar in Erscheinung tretenden Lächelns erkenne ich deutliches Misstrauen in ihrem Blick. Also stehe ich zunächst einfach nur da, spiele mit dem gefalteten Stück Papier in den Händen und erwarte ihre Antwort. Diese bestätigt dann auch die Vermutung ob des Herkunftslandes der Dame, denn ihr Akzent ist unverkennbar. »Ich hab Feierabend, Süßer! Tut mir leid!«
Für mein Schmunzeln hätte ich eigentlich einen Oskar verdient! »Nein, das meinte ich nicht! Ich suche jemanden und vielleicht könntest du mir da helfen!« Langsam trete ich dabei näher und entfalte die Zeichnung. Allein ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, ist das der Jackpot! Erst mit deutlicher Verzögerung gibt sie vor, das Bild zu studieren, um dann den Kopf zu schütteln. »Kann sein, kann auch nicht sein. Warum suchst du sie?«
Schnell gehe ich verschiedene Vorgehensweisen durch und entschließe mich, bei der Wahrheit zu bleiben. »Sie steckt in Schwierigkeiten, die ich wohl zu einem Teil mitzuverantworten habe.« Nun explodiert ihre Aura förmlich, aber auch die Miene der jungen Frau entgleist deutlich. »Das ist die Untertreibung des Jahres!«, schnaubt sie. »Und du willst ihr helfen?« Langsam hebe ich die Schultern. »Ja, ich brauche Informationen von ihr. Eine Hand wäscht die andere, du weißt, wie das ist!«, versuche es auf gut Glück und lande damit noch einen Volltreffer. »Kenne ich, ja! Kann sein, dass ich weiß, wo Nadja zu finden ist! Aber ich hab so ein schlechtes Gedächtnis!«
Innerlich seufzend greife ich in meine Jackentasche und reiche ihr einen Fünfziger, was eine wundersame Genesung des angeschlagenen Erinnerungsvermögens bewirkt. »Sie wohnt nur zwei Straßen weiter…« Rasch und detailliert erhalte ich eine genaue Wegbeschreibung, die keinerlei Fragen offenlässt. »Wunderbar!«, meine ich mit einem Lächeln und lasse ungefragt noch einen Zwanziger folgen, den ihre Hand förmlich absorbiert.
Im Anschluss hat sie es aber verdächtig eilig, weiterzukommen. »Ich muss nach Hause, war eine lange Nacht!«, meint Svetlana mit einem entschuldigenden Lächeln und stöckelt los. Ihren Namen, sowie etliche andere Details habe ich aus ihrem Geist gelesen, als sich unsere Hände bei der Scheinübergabe kurz berührten. »Ja, mach´s gut. Schönen Tag noch!«, meine ich tonlos und gehe.
Ihr ist es egal, ob ich Nadja helfen will, oder aber geschickt wurde, um sie aus dem Weg zu räumen, Hauptsache es springt etwas dabei für sie heraus. Normalerweise stößt mich eine derartige Geisteshaltung ab, doch gerade habe ich keine Zeit für Moralpredigten. Und außerdem konnte ich sehen, warum sie so dringend Geld braucht…
Jeden Gedanken daran beiseiteschiebend, beschleunige ich meine Schritte und lehne mich gegen den Wind, der hier durch die Straßen heult. Auf dem Weg zu Nadjas Unterkunft bleibt mir genug Zeit, die Informationsbrocken aus Svetlanas Geist durchzugehen: Nadja lebt allein in einer winzigen Bude im obersten Stockwerk eines Wohnblocks, was mir die Sache sehr viel einfacher machen wird.
Meine unfreiwillige Informantin weiß nichts Genaueres über die Umstände der Morde, nur dass Nadjas Zuhälter unter den Opfern gewesen ist. Hinzu kommen die Meldungen aus diversen Boulevardblättern und natürlich eine Menge Straßenklatsch, der ihr letztlich genug Gründe gibt, sich aus der Sache herauszuhalten. Kluges Mädchen!
Nach kurzer Zeit erreiche ich den Plattenbau und rüttle versuchsweise an der marode aussehenden Eingangstür. In einer Gegend wie dieser sollte man von einer soliden Barrikade gegen Eindringliche ausgehen, doch weit gefehlt. Ich kann die Tür ohne Widerstand aufdrücken und erhalte Ausblick auf ein heruntergekommenes Treppenhaus, dessen Wände inzwischen mehrere Lagen Graffiti aufweisen. Stinkende Müllsäcke türmen sich im Gang auf, zwischen denen eine Ratte herum huscht. »Wunderbar!«, murmle ich und setze mich in Bewegung, was das Vieh schnell den Rückzug antreten lässt.
Acht Stockwerke liegen vor mir, weil es natürlich hier keinen Aufzug gibt. Wie ich die Sache angehen soll, ist mir momentan noch schleierhaft, denn die Wohnung kann durchaus auch verlassen sein.
Tatsächlich sollte das Mädel schon lange das Weite gesucht haben, aber manchmal fehlen einem dazu die Möglichkeiten.
Nach den ersten sechs Stockwerken werde ich langsamer und bewege misstrauisch den Kopf hin und her. War da eben etwas zu hören? Letztlich schließe ich die Augen und lausche mit angehaltenem Atem. Weiter oben im Treppenhaus kann ich verhaltenen Tumult ausmachen. Dummerweise ist kaum absehbar, ob der Lärm aus dem obersten Stockwerk kommt, oder nicht.
Aktuell stehe ich vor dem Problem, jetzt keine Kräfte anwenden zu können, was die Angelegenheit ungemein erleichtert hätte. Da ich aber keinesfalls sagen kann, ob Agahaz bereits in der Nähe ist, fällt diese Option definitiv flach. Irgendwie fühle ich mich auf besonders unangenehme Art und Weise nackt, als ich meine Pistole, nur der Sicherheit halber, mit einem Schalldämpfer versehe und sie anschließend wieder unter der Jacke verschwinden lasse.
Vermutlich geht es in einer der Wohnungen hinsichtlich Matratzensports zur Sache, aber man wird nicht mehrere tausend Jahre alt, ohne sich eine gewisse Paranoia anzueignen.
Ein kurzer Gang zweigt vom Ende der Treppe ab, der in insgesamt sechs Wohnungstüren mündet. In einem seltsamen Anfall von Ordnungswahn in dieser versifften Hütte hat der Hauseigentümer an jeder Tür den Einwohnernamen stehen. Ich kenne Nadjas Nachnamen zwar nicht, aber nur ein Name auf den Schildern stammt aus dem osteuropäischen Raum und hat als Bonus sogar noch „N.“ davorgestellt. Als nächstes fällt mein Blick auf das Türschloss, welches mir ein ungläubiges Schnauben entlockt. Spätestens seit den Siebzigern sind solche Schlösser aus der Mode geraten. Aber hier oben sieht auch sonst alles nach stehengebliebener Zeit aus. Kurz lege ich den Kopf an ein Türblatt und höre eine Dusche rauschen, unterlegt von gedämpfter Musik. Perfekt!
Trotz des auf der Innenseite steckenden Schlüssels hält mich die Tür dank einiger Dietriche keine dreißig Sekunden auf und gibt mir alsbald den Eintritt in ein winziges Zimmer frei. Leise schließe ich die Tür hinter mir und sperre ab. Den Wohnungsschlüssel lasse ich daraufhin in meiner Jackentasche verschwinden, man weiß ja nie.
Anschließend sehe ich mich kurz in dem karg eingerichteten Raum um, bevor ich auf dem Bett und damit der einzigen freien Sitzfläche Platz nehme, um zu warten. Nach ein paar Minuten wird nebenan die Dusche ausgestellt und nur wenig später kommt Nadja aus dem Bad. Sie bleibt wie vom Donner gerührt stehen, als sie mich sieht. Respekt, es gibt kein Geschrei, lediglich ihre Augen weiten sich, während sie das Handtuch festhält, das bei ihr als Bademantelersatz dient.
Bevor das Schweigen für sie doch zu unangenehm wird, lächle ich. »Guten Abend, Nadja! Bitte entschuldige, dass ich mich selbst hereingelassen habe, aber meine Zeit ist momentan ziemlich knapp bemessen!« Ihr Blick huscht zur Tür, dann wieder zurück zu mir. »Bleib einfach, wo du bist. Der Versuch, wegzulaufen würde die ganze Sache nur massiv verkomplizieren.« Immer noch lächelnd stehe ich auf. »Vor allem, weil ich dir nichts tun will, im Gegenteil, ich bin gekommen, um dir zu helfen!«
Nadja starrt mich an, als ob ich ein Gespenst wäre, was in gewisser Hinsicht ja durchaus zutrifft. Ihre Haltung ist angespannt, sie wirkt dabei aber primär wie eine in die enge gedrängte Raubkatze. »Wer bist du und was willst du?«, bekommt sie schließlich gepresst heraus und weicht vor mir zurück, bis sie gegen die Wand in ihrem Rücken stößt.
Fast schon rolle ich mit den Augen. Irgendwie waren solche Sachen in der alten Zeit, als ich den Menschen noch mit Flügeln auf dem Rücken und leuchtender Korona um mich herum erschienen bin, doch um einiges leichter. »Ich bin Micha. Und ich glaube, du weißt genau, wo wir beide uns das erste Mal getroffen haben!« Ihre Hand krampft sich um das Handtuch, während Sie zeitgleich zu zittern beginnt. Aber dennoch hält sie die Stellung. »Du hast Pjotr und seine Jungs getötet!« Als ich verächtlich schnaube, zeigt ihr Gesicht Verwunderung. »Ja, mir blieb kaum etwas anderes übrig, nachdem du nicht gerannt bist. Wärst du stiften gegangen, hätte ich das alles abkürzen können und niemand wäre zu dauerhaftem Schaden gekommen!«
Jetzt wäre es von Vorteil zu wissen, wie viel sie gesehen hat. Für den Fall, dass sie bis zuletzt geblieben ist, sollten sich ihr einige interessante Fragen stellen.
Schon ihre nächsten Worte geben mir darauf die Antwort. Sie blickt gehetzt ein weiteres Mal zur Tür und scheint eine Flucht zu erwägen, was, nur mit einem Handtuch bekleidet, relativ dämlich wäre. Dann sieht sie wieder zu mir, deutlich steht ihr die aufkeimende Panik ins Gesicht geschrieben. »Was bist du?«, flüstert sie und rutscht zitternd an der Wand herab. Ihre Aura ist in Aufruhr, ein wirbelndes Kaleidoskop von Farben und Formen.
»Deine Frage legt nahe, dass du alles gesehen hast!«, antworte ich betont langsam. »Aber glaube mir bitte, was ich sage: Ich will dir kein Leid zufügen, ganz im Gegenteil. Du steckst in weitaus größeren Schwierigkeiten, als du ahnst. Und damit spiele ich nicht auf die Toten an! Etwas macht Jagd auf dich, weil du zufällig in dieser Gasse von deinem Luden Dresche bezogen hast und ich dir geholfen habe!«
Sichtlich überfordert sieht sie mich an. »Etwas? Was meinst du? Du warst einfach weg, mit einem Messer im Rücken. Und auf einmal tauchst du wieder auf und…!«
Sie bricht ab, wimmert gequält und krallt sich die Hände in die nassen Haare. Gut, keine Fragen mehr, euer Ehren! Langsam, sehr langsam erhebe ich mich vom Bett und gehe vor ihr in die Hocke, so dass sie mir aus nächster Nähe in die Augen sehen kann. Anfangs will sie noch zurückweichen, was aber von der Wand in ihrem Rücken ziemlich schnell unterbunden wird.
Dann treffen sich unsere Blicke. Ihre Miene wird reglos, als ich sie nur für einen Moment die Ewigkeit erblicken lasse, die in mir lebt. »Alles ist in Ordnung!«, flüstere ich bedächtig, ohne erneut Distanz zwischen uns herzustellen. Immer noch steht ihr die Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben, aber nun ist zumindest die Angst fort.
Dafür gleicht ihr Blick jetzt schon sehr viel mehr dem, wie mich Menschen früher ansahen. »Nadja!«, setze ich wieder beschwörend an. »Bitte zieh dich an! Ich habe vorhin keine Witze gemacht, als ich meinte, du wirst verfolgt. Es wird für alles eine Erklärung geben, aber jetzt müssen wir verschwinden!« Es kostet wertvolle Zeit, bis sie gänzlich aus dem La-La-Wunderland zurückkehrt, nickt dann aber eilfertig, steht auf, um zu dem Klamottenstapel in einem Eck des Raums zu hasten, der hier den Kleiderschrank ersetzt.
Ohne Zögern wirft sie das Handtuch weg und beginnt, sich Klamotten zusammen zu suchen. Nur kurz betrachte ich ihren mit Tätowierungen bedeckten Körper und frage mich, ob ich ihr zu viel gezeigt habe. Aber auch wenn dem so ist, kann ich es jetzt nicht mehr ändern. Außerdem besteht durchaus die Chance, dass sie weitere Nachbarn wie Svetlana hat, also geht es hier wirklich um jede Minute.
Nagende Unruhe steigt in mir auf, je länger Nadja beschäftigt ist. Um mich abzulenken, trete ich an das einzige Fenster der Wohnung, um auf die Straße unten ein Auge zu haben. Auch wenn es mir wie eine Ewigkeit vorkommt, sind nur Sekunden vergangen, bis letztlich Nadja neben mich tritt. »Fertig!« Nach einem kurzen Moment des Zögerns fügt sie in nun weitaus unsicherem Tonfall hinzu. »Und jetzt?« Eine Musterung lässt Nadja ein ganzes Stück in meiner Achtung steigen. Sie trägt nun flache Schuhe, eine ausgewaschene Jeans und ein schlichtes Top. Allesamt unauffällige, aber vor allem praktische Kleidungsstücke.
Statt zu antworten, schließe ich jedoch die Augen, um mich zu konzentrieren. Nein, keine Spur von Agahaz in der Nähe, soweit ich das sagen kann. »Wir verlassen das Haus! Du bleibst bei mir, als wären wir uns gerade handelseinig geworden. Versuche, dich ganz normal zu verhalten, ohne zu übertreiben! Und wenn es Ärger geben sollte: Lauf dieses Mal bitte einfach weg, ja?«
Mir gelingt es dabei nicht, den Sarkasmus gänzlich aus der Stimme zu verbannen, doch Nadja zeigt daraufhin keine Reaktion. Sie schaut mich nur mit großen Augen an und nickt. Der Unglauben steht ihr immer noch deutlich ins Gesicht geschrieben und ich hoffe, dass dieser Zustand für eine Weile anhalten wird. Denn erfahrungsgemäß beginnen Menschen alsbald in Frage zu stellen, was sie nicht begreifen können, bis sie es letztlich verdrängen.
»Gut. Dann verschwinden wir von hier!«, meine ich und trete an ihr vorbei zur Tür. Ein schneller Blick durch den Türspalt zeigt mir einen immer noch leeren Flur. »Los jetzt!«