Читать книгу Esariel - Andreas Michels - Страница 6
Prolog
ОглавлениеJerusalem, 15. Juli 1099 n.Chr.
Es wird nicht mehr lange dauern!
Sorgenvoll betrachte ich die beiden Flügel des Stadttores, die immer wieder unter wuchtigen Schlägen eines Rammbocks erzittern. Auch die Balken, die panische Verteidiger eben noch zur Verstärkung des Tores dagegenstemmen, werden nichts mehr am Schicksal Jerusalems ändern. Wochen der Belagerung haben die Streitkräfte der Stadt dezimiert und ihren Bewohnern gleichermaßen Hunger und Leid beschert.
Bald schon donnert ein letzter Schlag gegen das geschundene Tor und lässt es krachend aufschlagen, während an anderen Stellen die Christen über Belagerungstürme die Mauern stürmen. Resigniert verfolge ich, wie sich die verbliebenen Verteidiger verzweifelt den hereinströmenden Angreifern entgegenwerfen, nur um binnen Augenblicken von den zahlenmäßig weit überlegenen Kreuzfahrern niedergemacht zu werden. Es wäre mir ein Leichtes, sie aufzuhalten, doch sind diese Zeiten endgültig für mich vorbei.
Stattdessen sehe ich mit einem inneren Seufzen nach Kedira, meinem Schützling. Anstatt wie der Rest ihrer Freundinnen davon zu laufen, kauert sie am Rande eines Flachdachs und beobachtet von hier oben mit schreckgeweiteten Augen das Wüten der Eroberer unten in den Straßen. Wie üblich scheint mein kleiner Dickkopf nicht zu realisieren, in welcher Gefahr sie selbst schwebt, denn die Kreuzfahrer machen keinen Unterschied zwischen Christen, Juden oder Moslems. Wer ihnen unter die Klingen kommt, wird abgeschlachtet.
Ich unterdrücke den sinnlosen Drang, sie anzuschreien, damit sie endlich flieht. Kleine, süße, unschuldige Kedira, bitte lauf und schau nicht zurück! Mit wachsender Verzweiflung versuche ich, sowohl das Mädchen als auch die Umgebung im Auge zu behalten. Nicht mehr lange, bis andere Engel auf dem Schlachtfeld erscheinen werden. Und damit meine ich nicht die Todesengel, die unten in den Straßen bereits eine reiche Ernte einfahren, sondern diejenigen, die ich einst als Waffenbrüder bezeichnet habe.
Ich will vor Erleichterung fast schon aufschreien, als sich Kedira endlich in die Höhe drückt und totenblass zur Rückseite des Hauses hetzt, wo eine Treppe nach unten führt. Noch hat sie genug Zeit, bevor die Kreuzfahrer auch in die Nebenstraßen ausschwärmen werden, aber dennoch muss sie sich beeilen! Ich schwebe über ihr und achte auf ihre Schritte, während ich gleichzeitig dem Massaker in der Hauptstraße lausche.
Verflucht sei Michael und sein verdammtes Christentum! Alles, was es uns gebracht hat, war nur noch mehr Leid im Namen eines Gottes, der uns längst verlassen hat!
Fieberhaft überlege ich, wie ich Kedira unbeschadet in Sicherheit bringen soll, doch meine Möglichkeiten sind begrenzt, solange ich nur aus der Anderswelt über sie wache.
Am Fuß der Treppe angekommen, sieht Kedira sich kurz um, bevor sie endlich losrennt. Für kostbare Augenblicke kommt mein Schützling gut voran, bis sie in der nächsten Querstraße in die Masse der Flüchtenden hineingerät. Sofort habe ich alle Hände voll damit zu tun, das Mädchen durch die Menschenmenge hindurchzulotsen, ohne dass sie niedergetrampelt wird.
Als nur wenig später am Ende der Straße die ersten Kreuzfahrer auftauchen, bricht Panik aus. Bisher haben die Menschen unbewusst den Platz gemieden, an dem ich in der Anderswelt schwebe, doch nun rennen sie blindwütig durch mich hindurch. Bald bleibt mir keine andere Wahl mehr, als Kedira einen direkten Stoß zu geben, der sie in eine weitere Nebengasse in Sicherheit vor dem fliehenden Mob taumeln lässt.
Gerade will ich ihr folgen, als Kälte meinen Rücken hinabgleitet. Langsam drehe ich den Kopf, wohl wissend, was ich dort sehen werde: Über die Flüchtenden hinweg gleitet schweigend einer der Todesengel in Richtung der wahllos mordenden Kreuzritter an mir vorbei.
Doch, obwohl es für ihn wahrlich genug zu tun gibt, hält der Engel in der schwarzen Kapuzenrobe kurz inne und dreht den Kopf, um mich zu betrachten. Wie üblich ist unter der Kapuze statt eines Gesichts nur Dunkelheit zu sehen. Dennoch vermeine ich, überraschtes Interesse zu erkennen, als mich der Engel kurz mustert und anschließend weiter schwebt. »Ja, meinesgleichen gibt es noch!«, murmle ich grimmig in die Richtung meines Artgenossen, erhalte jedoch erwartungsgemäß keine Antwort.
Auch wenn die Engel aus dem Gefolge Azraels niemals am großen Krieg teilgenommen haben, behalte ich ihn im Auge, bis er aus meiner unmittelbaren Nähe verschwunden ist. Zwangsläufig erblicke ich dabei jene Männer, die immer noch mit sichtlicher Begeisterung die Bürger der Stadt massakrieren. Kurz sehe ich zweifelnd zur Seite, wo Kedira eben mit aufgeschrammten Händen wieder auf die Füße kommt. Auch wenn sie in dieser Gasse vor den panisch flüchtenden Massen in Sicherheit ist, braucht sie dennoch mehr Zeit, um entkommen zu können.
Also wende ich mich abermals den Kreuzfahrern zu und konzentriere mich, bis ein lichterloh brennendes Haus in der Nähe der Mörder in sich zusammenfällt. Lächelnd verfolge ich, wie die herabfallenden Trümmer einen Großteil der Straße blockieren und sich etliche der Eroberer nur durch einen beherzten Sprung nach hinten vor der Verschüttung retten können. Der Todesengel nimmt mein Eingreifen mit Gelassenheit hin, ihm kommt es kaum auf ein paar Minuten mehr oder weniger an. Wessen Zeit abgelaufen ist, den wird er auch bekommen. Vor allem, da inzwischen kaum noch ein Mensch durch meinesgleichen beschützt wird.
Das Lächeln vergeht mir nur Augenblicke später, als einer der Kreuzfahrer mich sichtlich überrascht durch den Rauch hindurch direkt ansieht, was unmöglich sein sollte, da ich in der Anderswelt verweile. Ich spüre das Aufwallen himmlischer Kräfte, als der bis eben maskierte Engel seitwärts wechselt und mich nun in wahrer Gestalt anstarrt. Hass verzerrt das selbst nach unseren Maßstäben wunderschöne Gesicht des Herolds, während er auf mich zu schwebt und dabei ein gleißendes Schwert in seiner Hand manifestiert.
»Verräter!«, herrscht er mich an. »Wie kannst du es wagen, dich hier sehen zu lassen?« Bevor ich antworte, sehe ich nach Kedira, die eben im Dunkel der Gasse verschwindet. Zufrieden taxiere ich wieder den Herold, sehe aber davon ab selbst eine Waffe zu formen.
»Du nennst mich einen Verräter, weil ich tue, was Gott uns einst aufgetragen hat? Weil ich Menschen wieder beschütze und nicht mehr wie Vieh zur Schlachtbank treibe?«, erwidere ich kühl und schwebe dabei langsam nach oben, weg von Kedira und all den anderen Sterblichen.
Wie erhofft, folgt mir der zornbebende Herold und verschafft damit den Flüchtenden eine kurze Ruhepause.
»Du hast dich gegen den Willen deines Herren, dem Erzengel Michael gestellt! Nun trage die Folgen!«, faucht er und geht zum Angriff über. Ich bin etwas verwundert, denn obwohl er sicherlich den oberen Chören angehört, sind die Kampffähigkeiten der meisten Herolde für gewöhnlich eher von bescheidener Natur. Meine Kräfte dagegen sind weitaus schwächer ausgeprägt, doch dafür habe ich Äonen als Fußsoldat Michaels gedient, bevor ich mich schließlich lossagte. Aber gut, ganz wie er möchte!
Da ich sicher bin, seine Aufmerksamkeit voll und ganz zu genießen, tauche ich, ohne zu antworten, in das Gassenmeer der Stadt ab und ergötze mich zumindest ein wenig an dem Wutschrei des enttäuschten Seraphen. Eilends flitze ich im Zickzack durch die Gassen, bis er vor Zorn jede Vorsicht fahren lässt und seine Kräfte einsetzt, um mich ausfindig zu machen. Den kurzen Augenblick, den er benötigt, um sich zu konzentrieren, nutze ich, um wie ein Blitz wieder in die Höhe zu schießen und ihm meine zur Doppelfaust gefalteten Hände ins Gesicht zu schmettern. Ohne einen Laut von sich zu geben, stürzt er in die Tiefe, während ich mit fast schon beiläufiger Bewegung das Schwert auffange, dass er dabei fallengelassen hat.
Nur kurz mustere ich die Klinge. Sie ist weitaus mächtiger, als alles, was ich zu erschaffen in der Lage wäre und dennoch werfe ich sie einfach neben meinem angeschlagenen Gegner auf den Boden, nachdem ich vor ihm stehe. »Lass mich in Ruhe!«, fahre ich ihn kalt an. »Ich kämpfe nicht mehr gegen meine Brüder und Schwestern! Aber ich werde dich auch nicht noch einmal warnen!« Er starrt mich schwer atmend an, während sich die Verletzungen in seinem Gesicht bereits wieder schließen, doch ich glaube, er hat verstanden.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schwebe ich davon und versuche, Kedira ausfindig zu machen. Obwohl mich ein besonderes Band mit jedem Menschen verbindet, den ich zu beschützen geschworen habe, brauche ich dafür eine halbe Ewigkeit, da all die Todesangst und der Hass um mich herum meine Wahrnehmung nahezu komplett eintrüben.
Als ich sie schließlich finde, komme ich gerade noch rechtzeitig. Im letzten Augenblick kann ich mit einem gut platzierten Windhauch verhindern, dass sie von der Brüstung einer teilweise geborstenen Wehrmauer stürzt, über die sie hektisch balanciert. Zwei Waffenknechte hetzen johlend hinter ihr her, die sie bereits eine ganze Weile verfolgen müssen. Andernfalls hätte sie sich nie auf diesen, durch Katapultbeschuss stark in Mitleidenschaft gezogenen, Teil der inneren Stadtmauer geflüchtet.
Mit bangem Blick verfolge ich ihren Weg über die bröckelnde Mauerkante und bin dabei stets bereit, ein weiteres Mal einzugreifen. Wie sehr juckt es mich in den Fingern, ihre Verfolger einfach abstürzen zu lassen, doch habe ich geschworen, keinem Menschen mehr etwas zuleide zu tun. Aber die Beiden zu verlangsamen, das geht durchaus! Also konzentriere ich mich, um einiges von dem losen Geröll vor ihnen zur Abschreckung in die Tiefe stürzen zu lassen, doch zu meinem Erschrecken geschieht rein gar nichts.
Fassungslos reiße ich die Augen auf und versuche mich aus der eisernen Klammer zu befreien, die mich auf einmal gefangen hält. Viel zu spät bemerke ich einen weiteren Todesengel, der vom Fuße der Mauer zu mir aufsieht und eine blasse Hand nach mir ausstreckt. Augenblicklich kocht Panik in mir hoch, denn diesen Moment habe ich in der Vergangenheit nur allzu oft erlebt. Immer wieder stemme ich mich gegen die Macht meines Artgenossen und schreie gleichzeitig wie von Sinnen eine Warnung in die Welt der Sterblichen hinaus.
Mein Ruf wird jedoch vom Rauschen eines nahenden Katapultgeschosses übertönt, wie es von den Christen immer noch dutzendweise in die Stadt geschleudert wird. Kedira ist viel zu sehr mit der Flucht vor den Waffenknechten beschäftigt, als dass sie etwas von der nahenden Gefahr bemerkt. Als sich wenig später ihre Augen vor Schreck weiten und sie endlich nach dem Ursprung des Fauchens Ausschau hält, dauert es nur noch Sekundenbruchteile, bevor das Geschoss gegen die Mauer kracht. Hektisch versucht sie, mit rudernden Armen die Erschütterung auszugleichen, doch ist der Versuch von vorneherein zum Scheitern verurteilt.
Mit einem gellenden Schrei stürzt sie zusammen mit ihren Häschern in die Tiefe und schlägt mit absoluter Endgültigkeit auf dem Pflaster unten auf, ohne dass ich bis dahin meine Fesseln auch nur im Ansatz lockern kann. Erst als der Todesengel sich über Kediras zerschmetterten Leib beugt, gibt er mich wieder frei.
Allein bleibe ich über den Mauern einer sterbenden Stadt zurück und verfolge mit leeren Augen das Gemetzel in den Straßen.