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1. Kapitel
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Nietzsche schrieb einst: Gott ist tot!
Damit lag er nicht ganz richtig, denn tatsächlich hat der Schöpfer, kurz nachdem er frustriert die Sintflut entfesselte, die Welt einfach nur verlassen. Ich muss es wissen, denn ich bin einer der Engel, die er damals ebenso wie die gesamte Menschheit zurückließ.
Natürlich haben wir versucht, das ganze Projekt Erde irgendwie am Laufen zu halten, allerdings mit sehr überschaubarem Erfolg. Bald schon gab es unter den Erzengeln Streit, wie genau wir die Menschen auf den Pfad der Tugend leiten sollten. Je weiter dieser Konflikt eskalierte, umso tiefer wurde auch die Menschheit hineingezogen, bis diejenigen, die wir liebten und immer nur beschützen wollten, in einem letztlich entbrannten Krieg Schlachten in unserem Namen ausfochten. Jetzt, Jahrtausende später, sind kaum noch Himmlische übrig, zumindest verglichen mit früher. Doch der Krieg kam niemals wirklich zu einem Ende, denn eine Entscheidung steht bis heute aus.
Soweit es mich betrifft, habe ich meinen Dienst in den Reihen des Erzengels Michael vor einer ganzen Weile quittiert und versuchte im Anschluss eine Zeitlang, wieder zu meinen Wurzeln zurückzukehren, um als Schutzengel auf Menschen aufzupassen. Vor knapp tausend Jahren ging allerdings auch dieses Ansinnen endgültig in die Binsen. Man sagt sich eben nicht einfach von seinem Herrn los, ohne früher oder später die Quittung zu erhalten. In meinem Fall musste ich in den vergangenen Jahrhunderten gänzlich zwischen den Menschen untertauchen, die ich gleichzeitig so liebe und verabscheue.
Aktuell lebe ich seit einigen Jahren in Hamburg, wo ich still unter dem Radar meiner Artgenossen als Bodyguard arbeite. Kein allzu strahlender Job für einen Engel, selbst wenn er nur den niederen Chören entstammt, aber genau richtig für mich. Auch wenn ich meine Kräfte nicht mehr einsetze, kann ich so zumindest, einer Arbeit nachgehen, die sich für mich natürlich anfühlt.
Zum Verzicht auf meine Kräfte bin ich gezwungen, da ich unter allem Umständen verhindern muss, Gefallene auf mich aufmerksam zu machen, die eine kleine Portion wie mich mit Wonne zum Frühstück verspeisen würden. Das Gleiche gilt für die meisten meiner alten Kampfgenossen, die mir den Gefolgschaftsbruch an Michael vor nicht ganz zweitausend Jahren immer noch sehr übelnehmen.
Und so lebe ich nun still und in Verborgenheit unter den Menschen. Michael Schwarz, Personenschützer und Privatermittler, angenehm!
Heute beginnt für mich der Arbeitstag gegen zehn Uhr. Ich hole Steffi, meinen aktuellen Schützling, ab und bringe sie zu ihrem Samstagsseminar. Anschließend warte ich auf sie in einem der zahllosen Studentencafés in der Nähe der Uni, wo ich versuche, mich inmitten des schnatternden Jungvolks auf die Tageszeitung zu konzentrieren. Beiläufig lausche ich den Gesprächen in der Umgebung, schon um herauszufiltern, welche kommenden Parties mein kleiner Schützling besser meiden sollte.
Abgesehen davon kann ich über einige der hier vorgetragenen politischen Ansichten nur den Kopf schütteln: Die Menschen um mich herum sollen einmal die Elite dieses Landes bilden und diskutieren dennoch auf Stammtischniveau. Alternativ sind sie dermaßen mit mentalen Scheuklappen ausgestattet, dass ich sie am liebsten tröstend in den Arm nehmen möchte, bevor ich das Gesicht der entsprechenden Person mehrfach mit der Tischplatte bekannt mache. Aber warum sollte sich in dieser Hinsicht in den letzten paar tausend Jahren der Menschheitsgeschichte auch irgendetwas ändern?
Meine philosophische Erörterung über den Geisteszustand der heutigen Jugend wird durch eine kurze Meldung in der Zeitung unterbrochen, die banaler eigentlich nicht sein könnte. Mir aber schlägt die Nachricht förmlich ins Gesicht und nur mit Mühe kann ich Ruhe bewahren. Es ist ein schlichter Nachruf auf einen Oswald Rosenbaum, Geschäftsführer einer kleinen Restaurantkette im bayrischen Raum, der nach dem Konkurs seiner Läden Selbstmord begangen hat. Scheinbar hat die Belegschaft zusammengelegt, um den Nachruf veröffentlichen zu können, denn eine Familie wird nicht erwähnt.
Tragisch, aber was hat das mit mir zu tun? Betont langsam lege ich die Zeitung weg und trinke von meinem inzwischen kalt gewordenen Kaffee. Ich kann Oswald deutlich vor mir sehen. Ein freundlicher, etwas rundlicher Herr, Mitte Fünfzig, für den das Kochen zu Lebzeiten sowohl Leidenschaft als auch Lebensinhalt dargestellte. Ich habe ihn zwei Jahre lang bewacht, als die Russenmafia versuchte, bei ihm einen Fuß in die Tür zu bekommen und Schutzgeld zu erpressen. Damals wurde es hässlich, ein paar der Kerle lernten durch mich auf die harte Tour, wo ihre Grenzen lagen.
Und jetzt ist er tot. Betroffen sehe ich auf die Meldung, die auf der Zeitungsseite gerade mal den Platz einer Spielkarte einnimmt und massiere mir dabei die rechte Hand. Oswald war ein freundlicher, aber zurückhaltender Herr, den im Kern nichts mehr erfreute, als die zufriedenen Gesichter der Kunden nach dem Essen zu sehen. Der Verlust der Restaurants muss für ihn einen unerträglichen Schicksalsschlag bedeutet haben. Genau wie sein Tod es jetzt mir verdammt schwer macht, die Fassung zu bewahren.
Mit leicht zitternden Fingern greife ich schon nach meiner Zigarettenpackung und halte erst im letzten Moment inne, als ich realisiere, wo ich mich befinde. Also erhebe ich mich und stelle Blickkontakt mit der Bedienung, einer übernächtigt wirkenden Studentin her. Ihre Augen weiten sich, als ich anschließend einen Zwanziger auf den Tisch fallen lasse und gehe. Ein fürstliches Trinkgeld für einen servierten Kaffee, aber selbst die Zeit auf Wechselgeld zu warten dauert mir zu lange. Ich muss einfach raus hier!
Kaum fällt die Tür hinter mir ins Schloss, als ich auch schon die Kippe im Mund habe, um alsbald den ersten Zug zu inhalieren. Mit raumgreifenden Schritten laufe ich los, fast wie auf der Flucht vor diesem kleinen Zeitungsausschnitt. Wieder ein Mensch tot, den ich einst beschützt habe!
Wahrscheinlich kann man die Schmerzen, die ich empfinde, nur verstehen, wenn man meine ehemalige Tätigkeit als Schutzengel in Betracht zieht. Nach der Schöpfung der Welt tat ich wenig anderes, als über einen mir anvertrauten Menschen zu wachen. Und ich habe meine Arbeit gut gemacht, egal wie viel Kummer mir die jeweiligen Schützlinge bereiteten. Nie wäre es mir in den Sinn gekommen, sie im Stich zu lassen, bis zu dem Moment, an dem einer der Todesengel sie holen kam. Doch mit dem Krieg ging alles den Bach runter…
Innerlich knurrend schiebe ich die sich anbahnenden Gedankengänge zur Seite und kämpfe gegen einen im Hals ansteigenden Kloß an. Oswald ist tot, daran kann ich nichts mehr ändern. Dennoch spüre ich nur zu bald die altbekannte Wut in mir hochkochen, die mir seit den ersten Kriegstagen ein ständiger Begleiter geworden ist. Ich muss etwas tun, sonst wird meine Umgebung leiden. Also greife ich in die Tasche und ziehe mein Handy hervor, um mit dem Daumen eine Nummer zu wählen und lausche anschließend dem Klingelton. In der Zeitung steht Selbstmord, aber ich will einfach sicher gehen…
Nach einer Weile wird abgenommen. »Ja?«, werde ich kurz und knapp begrüßt. »Walther, hier ist Michael! Du musst etwas für mich herausfinden!«, antworte ich genauso kurz angebunden. Erst einmal herrscht Stille in der Leitung, bevor ein leises Seufzen folgt. »Name?«, wird dann barsch gefragt. »Oswald Rosenbaum, ein Restaurantbesitzer aus Nürnberg. Ich will wissen, was über die Begleitumstände seines Selbstmords aktenkundig ist.« Zunächst höre ich kurz eine Tastatur, dann ertönt wieder die vertraute Stimme. »Gut, ich klemme mich dahinter. Wird ein paar Tage dauern, bis ich die richtigen Fragen stellen kann. Sonst noch etwas?«
Ich schlucke trocken. »Nein, danke!« Walther unterbricht, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, die Verbindung. Was genau er beim Bundesnachrichtendienst macht, habe ich in den zwanzig Jahren nie gefragt, die ich ihn jetzt kenne. Ich weiß aber gewiss: Ich werde bald alles über Oswalds Tod wissen, was den Weg in eine Polizeiakte gefunden hat. Nur für den Fall…
Erneut wallt siedende Wut in mir auf. Schnell stecke ich das Handy weg, vergrabe die Hände in den Jackentaschen und gehe weiter. Der Herbst schickt seine ersten Vorboten durch die Stadt, was für Hamburg eine steife Brise von der See her und kühle Temperaturen bedeutet. Ich achte nicht mehr auf die Leute um mich herum, sondern beschleunige meine Schritte und trachte nur noch danach, die in mir tobende Wut loszuwerden.
Das Klingeln meines Handys reißt mich aus dem Strudel, in den ich immer tiefer zu sinken drohe. Ohne auf die Nummer zu sehen, nehme ich das Gespräch an und halte mir das Gerät ans Ohr. Doch noch bevor ich etwas sagen kann, plärrt mir Steffis Stimme entgegen. »Verdammt, Micha, wo bist du?« Unvermittelt bleibe ich stehen, schließe die Augen und versuche das Gefühl loszuwerden, als ob mir gerade jemand einen Kübel Eiswasser über den Kopf gekippt hat. »Ich bin seit zehn Minuten fertig, wann gedenkst du mich abzuholen?«, tönt es weiter aus dem Gerät. »Ich bin sofort da, Frau Dressler!«, antworte ich und marschiere los. »Bleiben Sie bitte im Gebäude, bis ich da bin!«
»Darauf kannst du Gift nehmen!«, ätzt sie noch und legt auf. Einfach wunderbar: Weil ich mir die Haare über den Tod eines ehemaligen Schutzbefohlenen raufe, vernachlässige ich meine aktuellen Pflichten!
In Rekordzeit erreiche ich das Campusgelände und finde Steffi nur wenig später genau da, wo sie auf mich warten soll. Auch ohne ihre Aura zu betrachten, weiß ich nur zu gut, wie sauer sie ist.
Doch überraschenderweise weicht der distanzierte Ausdruck in ihrem Gesicht auf, als ich näherkomme. »Micha?«, fragt sie in vorsichtigem Tonfall. »Alles in Ordnung?«
Kurz zögere ich und versuche, mich zu sammeln. »Ich habe eben vom Tod eines guten Freundes erfahren!«, erwidere ich vorsichtig. »Bitte entschuldigen Sie mein Versäumnis!« Wahrscheinlich hat Steffi die Wartezeit genutzt, um sich eine gründliche Schimpftirade bereitzulegen. Doch diese bleibt aus, stattdessen lächelt sie mich an. »Ist schon gut! Du siehst aus, als ob dir ein Gespenst begegnet wäre.« Ich nicke nur und atme tief durch, bevor ich ihr die Tür aufhalte. »Wollen wir dann?«
Steffi wirkt nach wenigen Schritten wie ausgewechselt, als ich sie zum Wagen bringe. Eine leise Stimme in meinem Hinterkopf warnt zwar vehement vor einer sich anbahnenden Stolperfalle, aber gerade erscheint mir jede Ablenkung wie einem Ertrinkenden der Rettungsreifen. Zum Verständnis: Es gab auch schon Zeiten, in denen ich aus Wut über eine erschütternde Nachricht einen kleineren Landstrich verwüstet habe. Mein Wiederholungsbedarf in dieser Hinsicht ist allerdings mehr als gedeckt, weswegen ich mich förmlich an Steffis Worte klammere.
Während wir unterwegs sind, erzählt sie mir munter allerlei Trivia aus ihrem Studienalltag, beschwert sich über ihre Kommilitonen und spricht beim Einsteigen ganz beiläufig die Abendplanung an. Wider Willen muss ich lächeln, als ich mich hinter das Steuer klemme. Daher weht also der Wind! Ihre Vorhaben werden Papa Dressler sicher nicht in den Kram passen, wenn sie es mit dieser Taktik versucht. Denn ihr Vater, ein Bankier, der es als Sportart betrachtet, von einem Bankenvorstand zum nächsten zu wechseln, bezahlt mich auch dafür, Steffi von Örtlichkeiten und Personen fernzuhalten, die sich als schädlich für das geliebte Töchterlein erweisen könnten.
Die junge Dame stellt im Übrigen ein kleines »Ups« dar, das ihr feiner Herr Vater nach Feierabend mit einer Putzfrau im Büro produziert hat. Nachdem aber ein Motorradunfall wenig später weitere Erben für Herrn Dressler unmöglich machte, geniest Steffi jetzt dennoch seine volle väterliche Aufmerksamkeit, die aber neben einer Menge Geld vor allem in meiner Anstellung resultiert.
Vorsichtig gesagt ist die Arbeitsbeziehung mit Steffi deswegen etwas wechselhaft, um es diplomatisch auszudrücken, denn es existieren zwischen uns oftmals erhebliche Meinungsdifferenzen, wie genau die Weisungen des hohen Herrn Dresslers auszulegen sind. Trotzdem mag ich sie, oder eigentlich sogar exakt wegen ihres beständigen Kleinkriegs gegen die väterlichen Allmachtsphantasien. Aber besonders heute könnte sie mir wahrlich weiß Gott was aus den Rippen leiern.
Ich betrachte Steffi kurz im Rückspiegel, schmunzle ein weiteres Mal und starte den Wagen. »Na, dann lassen Sie mal hören, was Ihnen so vorschwebt!«
Es sieht nach einer langen Nacht aus…