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Mich laust der Affe

»Mich laust der Affe! Das kann doch nicht wahr sein! Das glaub ich nicht.« Und in der Tat: Wer ihn selber nicht wahrgenommen hatte, wähnte sich buchstäblich im falschen Film. Da spielen ein paar Leute Basketball, dribbeln, werfen sich auf engem Raum die Bälle zu. Unvermittelt taucht ein Gorilla auf, klopft sich ein paar Mal auf die Brust und verschwindet gemächlich wieder. Bis vor wenigen Jahren durfte dieses kurze Filmchen an keinem pädagogischen Vortrag fehlen, an keiner Hauptversammlung, an keinem Elternabend, an keinem Managementseminar. Denn die Menschen konnten nicht glauben, was sie da sahen – oder besser: nicht sahen. Den Gorilla nämlich.

Sie sind auf etwas hereingefallen, was wissenschaftlich als Unaufmerksamkeits- oder Veränderungsblindheit bezeichnet wird.

Ans Licht befördert haben den »Gorilla-Effekt« vor mehr als einem Jahrzehnt die Psychologen Christopher F. Chabris und Daniel J. Simons – mit einem Experiment, das so verblüffend ist, dass es Geschichte schrieb: Versuchsteilnehmern wurde eben dieser Film mit den ballspielenden jungen Menschen vorgeführt. Dazu hatten die Probanden eine Aufgabe zu lösen: Sie mussten zählen, wie oft sich die Spieler in den weißen Shirts den Ball zuwarfen.


Blind fürs Wesentliche: vor lauter Bäumen den Wald (oder den Gorilla) nicht sehen

Eine simple Aufgabe. Die meisten kamen denn auch aufs richtige Ergebnis. Doch, und das haben Experimente manchmal so an sich, darum ging es eigentlich gar nicht. Denn im Anschluss an die kurze Videosequenz wurden die Versuchsteilnehmer gefragt, ob ihnen etwas Ungewöhnliches aufgefallen sei. Mehr als die Hälfte verneinte. Auch als sie explizit nach einem Gorilla gefragt wurden, einem Gorilla, der direkt vor der Kamera herumhampelte, winkte, sich auf die Brust trommelte, war die Antwort: Nein. Ganze neun Sekunden produzierte sich die Studentin im Gorillakostüm vor der Kamera, endlos lange neun Sekunden – und die Hälfte der Probanden hatte nichts davon bemerkt!

Dass Menschen so offensichtliche Dinge übersehen, beruht auf einem grundlegenden Funktionsprinzip des Gehirns. Die grauen Zellen haben nämlich genug zu tun. Sie können nicht auf alles achten. Passiert gerade etwas wie auch immer Offensichtliches, das aber nichts mit der gewählten Aufgabe zu tun hat, ist es dem Gehirn völlig Wurst.

Das bedeutet: Für das menschliche Gehirn ist Aufmerksamkeit eine Art Nullsummenspiel. Wer sich auf etwas Bestimmtes fokussiert, ist buchstäblich blind für andere Dinge. Sogar für Gorillas!

Nun, mittlerweile kennt man den Film in der Bildungs­szene. Angenommen, er wird in einer Veranstaltung dennoch präsentiert. Was passiert, wenn ein paar Basketballspieler auf der Leinwand erscheinen? Die Zuschauer setzen diese gönnerhafte Expertenmiene auf. Und mit ihrer »Das-ist-doch-kalter-Kaffee-Mimik« bringen sie zum Ausdruck: He, wir lassen uns nicht mehr für dumm verkaufen. Und diesem inneren Vorbeimarsch folgend zählen sie die Pässe natürlich nicht, wenn sie dazu aufgefordert werden. Denn sie wissen ja schließlich: Jetzt kommt gleich der Gorilla.

Und tatsächlich: Er erscheint. Sie haben es ja gewusst. Aber etwas anderes ist ihnen entgangen: Es ist nämlich ein anderer Film. Im Verlauf des Basketballspiels verlassen Spieler die Bühne. Und der großflächige Vorhang im Hintergrund wechselt die Farbe. Das Verrückte daran: Niemand merkt’s. Das Warten auf den Gorilla macht die Betrachter blind für den Rest der Szenerie.

Die Dinge sind, wie wir sind

Der Mensch verlässt sich in aller Regel auf das, was er mit eigenen Augen sieht. Warum auch nicht? Wenn das Glas leer ist, ist es leer. Und es wird nicht voller, wenn man das Glas noch etwas genauer unter die Lupe nimmt. Aber auch wenn es um Veränderungen geht: Im Grunde genommen hat der Mensch keine Probleme damit, sie wahrzunehmen. Wenn die Ampel von Rot auf Grün wechselt, gibt man Gas. Und gerade weil es so ist, verlässt man sich darauf. Aber eben: Wahrnehmung hat nichts mit »wahr« zu tun. Es gibt Veränderungen, die sich der Wahrnehmung entziehen, obwohl sie sich direkt vor unseren Augen abspielen.

In Experimenten verwickelte man beispielsweise Menschen auf einer Einkaufsstraße in ein Schein-Interview. Während einer kurzen Ablenkung wurde der Gesprächspartner ausgetauscht. Das erstaunliche Ergebnis: Die Hälfte der Befragten bemerkte in keiner Weise, dass ihnen nun eine völlig andere Person gegenüberstand, selbst wenn ein dunkelhaariger Mann gegen eine blonde Frau ausgetauscht wurde.

»Die Menschen sind im ganzen Leben blind«, lässt Johann Wolfgang von Goethe die Sorge im Dialog mit Faust erklären. Sie hat wohl nicht ganz Unrecht, die Sorge. Denn Menschen sehen nur das, was sie erwarten zu sehen. Unser Gehirn konstruiert aus unvollständiger Information, momentanen Befindlichkeiten und lang gehegten Vorurteilen ein Bild von der Welt und den Dingen. Und wir meinen dann »So sind sie, die Dinge.« Doch: Dinge sind nicht, wie sie sind. Wir sehen sie so, wie wir sind. Deshalb sehen wir Gorillas nicht. Oder wir sehen den Gorilla – und dafür entgehen uns andere Dinge.

Daraus nährt sich auch das, was umgangssprachlich als Betriebsblindheit bezeichnet wird. Nach dem Motto »Das haben wir schon immer so gemacht« werden Pässe gezählt und Gorillas übersehen.

Schule – Nummer eins der Betriebsblinden

Die unangefochtene Nummer eins unter den Betriebsblinden ist die Schule. Und da die meisten Menschen hierzulande mal zur Schule gegangen sind, hat sich so eine Art epidemische Betriebsblindheit ausgebreitet, wenn es um schulisches Lernen geht.

»Schlimmer als blind sein, ist nicht sehen wollen«, hat Lenin einst zu bedenken gegeben. Darin liegt ein Kernproblem der heutigen Schulsituation. Die Beteiligten kommen nicht aus den alten Mustern raus. Sie sehen den Gorilla nicht und wollen partout nicht glauben, dass es ihn gibt. Man hält die Illusion aufrecht, Schule müsse so sein, wie sie eben ist. Man zählt Pässe, forscht akribisch zu weißen Shirts und zum Luftdruck in den Bällen – und ist nicht fähig oder willens, den Blick auf das Offensichtliche zu richten, das eigentlich – wie der Gorilla – nicht zu übersehen ist. Schule, das ist ein Spielfeld neben der Wirklichkeit, auf dem ein Rollenspiel inszeniert wird. Alle nehmen mehr oder weniger passiv an der Aufführung teil und gaukeln sich gegenseitig etwas vor. Und solange alle das Spiel mitspielen, ist das auch kein Problem. Im Gegenteil: Korrumpiert vom So-tun-als-ob können sich viele an den vollen Töpfen der Illusionen auf bequeme Weise gütlich tun. So wird denn in weiten Kreisen ein Bild von schulischem Lernen aufrechterhalten, das in starkem Maße davon lebt, dass die Betrachter auf mindestens einem Auge blind sind. Bewusst oder unbewusst. Denn wie sonst ließe es sich erklären, dass die Schule in weiten Teilen immer noch nach Mustern organisiert ist, die den aktuellen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Realitäten in keiner Weise Rechnung tragen. Ein Beispiel: Ein konstruktiver Umgang mit der zunehmenden Heterogenität ist durch das strukturell eng geschnürte Korsett (Jahrgangsklassen, Arbeitszeit­modelle …) nur unzureichend möglich.


Mehr Sein als Schein: ein Blick hinter die sprachlichen Kulissen schulischen Lernens lohnt sich

Die ganze Szenerie erinnert ein bisschen an ein Potemkinsches Dorf. Für diese Bezeichnung stand Feldmarschall Grigori Alexandrowitsch Potemkin Pate. Der Überlieferung zufolge ließ er, der Günstling der russischen Zarin Katharina II., 1787 vor dem Besuch seiner Herrscherin im gerade eroberten Neurussland entlang der Wegstrecke Dörfer aus bemalten Kulissen errichten, um das wahre Gesicht der Gegend zu verbergen.

Ein Potemkinsches Dorf kann also dem zweiten Blick nicht standhalten, wie das schulische Lernen auch. Auch hier werden Kulissen aufgestellt – sprachliche zumindest:

•Schulen sind gedacht als Orte, wo Schüler lernen.•Dort bringen die Lehrer ihnen wichtige Dinge bei.•Aufgabe der Schüler ist es, konzentriert zuzuhören.•Und: Sie müssen sich die Dinge gut merken.•Prüfungen und Noten zeigen, wie viel sie gelernt haben.•Je mehr Stoff behandelt wurde, desto mehr wissen die Schüler.•So erwerben sie Kompetenzen, die ihnen später nützen.

So ein Quatsch! Lernen vollzieht sich nach völlig anderen Mustern. Was auf den ersten Blick zwar wie »Lernen« aussieht, entpuppt sich auf den zweiten Blick als »Schule«. Und das ist nicht das Gleiche. Bei Weitem nicht.

Bock auf Lernen

Grundsätzlich läuft die Sache etwa so ab: Das Leben – und die Schule ist ein spezieller Teil davon – stellt die Menschen vor bestimmte Aufgaben. Morgens aufstehen ist eine solche Aufgabe. Die Zähne putzen eine andere. Oder: Am Ende Geldes noch viel Monat übrig haben. Oder: Ein Buch in englischer Sprache lesen und verstehen. Oder: Frühmorgens joggen gehen. Oder: Die binomischen Formeln kennen.


Hürden auf dem Weg: Auch fürs Lernen gilt – wer erfolgreich sein will, muss Bock haben

Jede dieser Aufgaben stellt in gewisser Weise eine Hürde dar. Sie unterliegt damit einer meist unbewussten Bewertung nach subjektiven Erfahrungskriterien: Wie hoch ist der vermutete Aufwand? Und wie groß ist der potenzielle Nutzen?

Und klar: Je ungünstiger das Verhältnis zwischen vermutetem Aufwand und potenziellem Nutzen, desto weniger Bock haben Menschen, sich der Sache anzunehmen. Wenn das Leben in irgendeiner Weise erfolgreich verlaufen soll, müssen die Menschen Bock darauf haben, sich den Anforderungen zu stellen. Viel Bock sogar. Das gilt uneingeschränkt auch für schulisches Lernen. Bock auf Lernen heißt deshalb die Devise.

Bock auf Lernen (E-Book)

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