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Wachstumsmodelle zwischen Exportorientierung und Binnenkonsum

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Der Kern der Unterscheidung unterschiedlicher Wachstumsmodelle, wie sie etwa von Lucio Baccaro, dem Direktor des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, Engelbert Stockhammer, King’s College London, Eckhard Hein von der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin oder Anke Hassel von der Hertie School verfolgt wird, besteht darin, nationale Volkswirtschaften hinsichtlich ihrer wesentlichen wirtschaftlichen Antriebskräfte zu differenzieren. Insbesondere die »growth model perspective« innerhalb der Vergleichenden Kapitalismusforschung, die maßgeblich von Lucio Baccaro und seinem politikwissenschaftlichen Kollegen Jonas Pontusson von der Universität Genf formuliert wurde, kann uns sehr gut dabei helfen, die aktuellen Probleme der deutschen Wirtschaft zu erklären.

Ein genereller Vorteil der Vergleichenden Kapitalismusforschung besteht darin, dass sie das komplexe Zusammenwirken verschiede­ner politischer Maßnahmen und Institutionen in Bezug auf eine Nationalökonomie analysieren kann, anstatt sich eng auf einen ökonomischen Teilaspekt zu fokussieren, wie große Teile der modernen Wirtschaftswissenschaften. Während frühere Ansätze der Vergleichenden Kapitalismusforschung (»Varieties of Capitalism«) den Fokus einseitig auf die Angebotsseite der Ökonomie legten, wird von dieser Forschungsrichtung nun auch die Nachfrageseite einbezogen. Und als Teil der Politischen Ökonomie geht es der Vergleichenden Kapitalismusforschung nicht nur um die richtigen wirtschaftspolitischen Rezepte, sondern auch um die politischen Hintergründe und Realisierungschancen.

Ausgangspunkt der Forschung von Baccaro und Pontusson ist, dass in den heutigen Volkswirtschaften der Industrieländer die von Investitionen und Löhnen stammende wirtschaftliche Nachfrage nicht mehr für ein ausreichendes Wachstum sorgt, im Gegensatz zu den ersten drei Jahrzehnten der Nachkriegszeit. Um das Wachstum trotzdem zu stimulieren, haben die modernen Ökonomien Ersatzstrategien entwickelt. Eine dieser Strategien beruht darauf, die Wirtschaft in erster Linie durch den Konsum der Haushalte anzutreiben. Da die Löhne heute für einen ausreichenden Konsum nicht mehr genügen, erlaubt man den Haushalten eine relativ leichte Verschuldung, etwa zum Erwerb von Immobilien. Die Alternativstrategie hingegen sieht vor, dass die notwendige Nachfrage aus dem Ausland mobilisiert, also sehr stark auf Exporte gesetzt wird.

Europäische Staaten haben sich laut Baccaro und Pontusson diese Strategien in unterschiedlichem Maße zunutze gemacht. Großbritannien hat in den vergangenen Jahrzehnten voll auf die Strategie des schuldenfinanzierten Konsums gesetzt, Deutschland ebenso eindeutig auf die Exportstrategie, Schweden hat beide Strategien im Rahmen eines eher balancierten Wachstumsmodells kombiniert und Italien hat weder über den schuldenfinanzierten Konsum noch über die Exporte das Wachstum forciert. Die Strategien der Länder sind zueinander komplementär – Deutschland (und Schweden) hätten weit weniger exportieren können, wenn nicht Länder wie Großbritannien diese Exporte durch ihre Konsumstrategie aufgenommen hätten.

Ein exponiertes Export-Wachstumsmodell wie in Deutschland (spätestens seit Ende der 1990er-Jahre) erfordert eine Reihe von ineinandergreifenden Elementen, um erfolgreich zu sein. Zu den Kernelementen gehört ein großer Industriesektor, ein System der institutionalisierten Lohnmäßigung und ein System fester Wechselkurse. Die beiden letztgenannten Institutionen sind essenziell, um dauerhaft über niedrige Exportpreise erfolgreich zu sein. Löhne und Preise hängen faktisch eng zusammen, Lohnmäßigung führt daher zu niedrigen Preisen, auch für Exporte. Ohne ein System fester Wechselkurse würden erfolgreiche Exporte zu einer hohen Nachfrage nach der nationalen Währung führen, diese dann gegenüber anderen Währungen aufwerten und über die entsprechend höheren Preise in internationalen Währungen die Exporterfolge wieder zunichtemachen.

Der Nachteil eines klar exportlastigen Wachstumsmodells (für große Teile der Bevölkerung) liegt darin, dass wegen der für den Export preissensibler Güter notwendigen Lohnmäßigung die Binnennachfrage relativ schwach ausfällt. Es gibt hier einen klaren Zielkonflikt zwischen Konsum und (preissensiblen) Exporten. Ein extremes Exportmodell ist notwendig mit Phänomenen wie Lohnmäßigung und fiskalischer Austerität verknüpft. Bei preissensiblen Exporten würde eine Stimulierung der Binnennachfrage – etwa über höhere Löhne oder über kreditfinanzierte Investitionen – ansonsten dafür sorgen, dass diese Ausfuhren einbrechen würden, da sie zu teuer werden.

Ganz besonders getroffen von der Lohnmäßigung in extremen Exportmodellen sind jene Arbeitnehmer, die in einfachen Dienstleistungen (beispielsweise im Einzelhandel oder der Gastronomie) arbeiten. Durch die Auskopplung solcher Dienstleistungen aus Industrieunternehmen und Tarifverträgen – und der damit einhergehenden Lohnreduktion – konnten die hochqualifizierten Arbeitnehmer in den Exportbranchen überzeugt werden, sich mit mäßigen Lohnsteigerungen zufriedenzugeben, da ihre Kaufkraft trotzdem gleich blieb oder sogar stieg.

Ein balanciertes Wachstumsmodell vermeidet diese Probleme weitgehend. Es stimuliert die Wirtschaft sowohl über die Binnennachfrage als auch über die Exporte. Hier sind also neben starken Exporten auch durchgehend solide Löhne und hohe staatliche Ausgaben machbar. Das ist allerdings nur dann möglich, wenn die Exporte vergleichsweise wenig preissensitiv sind. Baccaro und Pontusson gehen davon aus, dass das in Schweden der Fall ist, wo sie in jüngerer Zeit zunehmend auf hochwertigen wissensintensiven Dienstleistungen und dem IT-Sektor beruhen.

Um längerfristig stabil zu sein, müssen die – historisch eher zufällig gefundenen – Wachstumsmodelle politisch und institutionell abgesichert werden. Institutionell erfolgt das über Institutionen wie das System der Lohnaushandlung oder die Wechselkurse. Politisch geben aus der Sicht von Baccaro und Pontusson Leitsektoren die Richtung vor, im Falle Deutschlands besonders die Automobilindustrie und der Maschinenbau, basierend auf einer klassenübergreifenden Koalition von Arbeitgebern und Gewerkschaften.

Aus dieser Perspektive können wir das Schicksal der deutschen Wirtschaft in der Corona-Krise gut erklären. Da das deutsche exportgetriebene Modell sich seine Wachstumsimpulse überwiegend aus dem Ausland holt, musste es in einer Krise, die die wichtigsten Handelspartner erfasst, hart getroffen werden. Das gilt selbst in einer Situation, in der der Bund viel Geld für die Stabilisierung der Exportwirtschaft aufgewendet hat – und eindeutig überproportional viel, wenn man bedenkt, dass nur etwa ein Viertel der Deutschen im Exportsektor tätig sind.

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