Читать книгу Die Rückkehr der Dämonen, Teil 1 (Indien, 1747 n. Chr.) - Andreas Parsberg - Страница 4
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ОглавлениеGermering bei München
Mai 2015
Der muskulöse Mann mit dem markanten Gesicht belauerte Chloé von Bartenberg mit Mordlust in den Augen. Er wirkte kräftig und beweglich, die weiße Robe, die er trug, raschelte leise, als er mit langen, zielstrebigen Schritten auf sie zukam.
Chloé blickte sich um und erkannte voller Entsetzen, wo sie sich befand. Es war eindeutig die Aussegnungshalle der St. Martins Kirche in Germering. Diese Halle kannte sie nur zu deutlich. Vor einem Monat erfolgte hier die Beerdigung ihrer Großmutter.
Sie wusste nicht, wie sie hierhergekommen war, erinnerte sich nur noch daran, dass sie in ihrem Bett lag. Eines jedoch war klar. Der Mann, der auf sie zuschritt, hatte die Absicht, sie zu töten!
Der Fremde war nur noch wenige Meter von Chloé entfernt, und das Einzige, was zwischen ihnen lag, war ein breiter Blumenkasten, in dem weiße Rosen blühten. Chloé dachte, er würde dem Hindernis ausweichen, doch er stapfte einfach hindurch, als wäre es Luft. Sie wich zurück, bemüht, nicht zu stolpern.
Plötzlich redete der fremde Mann in der weißen Robe.
„Beket-Amun, chetemu. Herj-seschta iri hut-netjer?“
Chloé verstand kein Wort, war sich auch nicht sicher, ob sie den Sinn überhaupt begreifen wollte.
„Du bist meine Nummer fünf, verstanden?“, erklärte der unheimliche Mann. „Fünf! Cinquième! Quinque! Beş! Kvin! Viisi!“
Er griff in seine weiße Robe und zog ein langes Messer heraus. Chloé sah die scharfe Klinge im düsteren Licht blitzen. Sie öffnete den Mund, um zu schreien, brachte jedoch keinen Laut hervor.
Und trotz ihrer Panik flüsterte eine leise Stimme in ihrem Inneren, dass irgendetwas an dieser Szene nicht stimmte. Es war, als wäre sie da und doch auch wieder nicht. Als wäre sie im Augenblick in ihrem Körper und sähe sich selbst im nächsten Moment aus einiger Entfernung zu.
Ihre Angst verhinderte weitere Überlegungen, denn der fremde Mann kam näher, das Messer fest in der Hand.
„Ich schneide dir dein Herz heraus“, fauchte der Unheimliche und funkelte sie bösartig an.
Endlich drehte sich Chloé um und wollte davonlaufen. Sie glaubte, wenn sie die Aussegnungshalle verlassen würde, wäre sie in Sicherheit. Doch ihre Beine gehorchten ihr nicht. Sie fühlten sich schwer und kraftlos an. Trotzdem zwang sie sich zu laufen. Langsam, wie in Zeitlupe, kam sie dem Ausgang näher.
Doch im nächsten Moment hatte der kräftige Mann sie eingeholt. Chloé spürte seine starke Hand in ihrem Haar, die ihr den Kopf in den Nacken zog, sodass die Kehle frei lag. Sie sah die Hand mit dem Messer, die Klinge kratzte ihre Kehle entlang, bis die Spitze direkt über ihrem Herzen lag.
„Nein!“, schrie sie voller Entsetzen laut auf. „Ahhh...“
Der Rest des Schreis blieb Chloé würgend im Hals stecken, als heller Lichtschein ihre Augen traf. Sie schützte sie mit den Händen. Als sie die Augen endlich aufschlug, stellte sie fest, dass sie im Bett ihres Zimmers lag.
Eine ganze Weile sah sie verwirrt zum Fenster hinüber. Es war hell, die Sonnenstrahlen fielen auf ihr Gesicht. Da wurde ihr klar, dass sie nur einen Alptraum gehabt hatte.
Seufzend schlüpfte sie aus dem Bett, ging noch leicht zittrig zum Fenster und blickte hinaus. Es war Mai, die sonnigen Tage der letzten Wochen hatten die Natur bereits erblühen lassen. Sie betrachtete den weitläufigen Garten ihres Elternhauses und versuchte, die Erinnerung an den Alptraum abzuschütteln.
Während Chloé die Schönheit der Natur genoss, erinnerte sie sich an die Bemerkung des Mannes in der weißen Robe. „Du bist die Zahl fünf!“
Wieso eine Fünf? Was um alles in der Welt sollte dieser Traum bedeuten?
Sie schüttelte den Kopf und ging barfuß ins Bad. Er war nur ein blöder Alptraum, vergiss es, riet sie sich. Nach einer ausführlichen Dusche betrachtete sie sich in dem großen Spiegel hinter der Tür. Sie war ein großes Mädchen von achtzehn Jahren mit einer schlanken, sportlichen Figur, langen blauschwarzen Haaren und leuchtend grünen Augen.
Mit diesem Aussehen ähnelte sie ihrer Großmutter väterlicher Seite. Ihre Mutter und ihre ältere Schwester Michelle waren blond und blauäugig.
Sie wandte sich zum Waschbecken um und putzte ihre Zähne. Nachdem sie die Zahncreme ausgespuckt hatte, rubbelte sie ihr Gesicht trocken und verscheuchte damit auch die letzten Erinnerungen an den Alptraum.
Sie musterte ihr Gesicht im Spiegel über dem Waschbecken. Die kleine Nase, der schön geschwungene Mund, die hohen, etwas hervorstehenden Backenknochen, die dem Gesicht einen unverwechselbaren, typischen Ausdruck verliehen, wirkten geheimnisvoll und anmutig.
Sie hob die Schultern. Chloé wusste, dass die Jungs im Gymnasium sie attraktiv fanden, doch das interessierte sie nicht. Sie war intelligent und aufgeschlossen. Das sollte reichen, um sie zu mögen. Außerdem hatte sie seit zwei Monaten einen festen Freund.
Sie lächelte verträumt, als sie an Henri dachte. Er war im gleichen Alter und ging in die Nebenklasse des Max-Born-Gymnasiums. Verliebt hatte sie sich in seine rehbraunen Augen, die so intensiv glänzen konnten und voller Feuer und Zärtlichkeit waren.
Sie lächelte ihr Spiegelbild mit einem schiefen Grinsen an. „Du hast den besten Jungen der Welt gefunden“, flüsterte sie halblaut.
Sie verließ das Badezimmer und kleidete sich an. Mit einem nachdenklichen Seufzer ging sie dann in die Küche, um zu frühstücken. Ihre Eltern waren bereits seit den frühen Morgenstunden in der eigenen Firma. Ihre drei Jahre ältere Schwester Michelle studierte in Innsbruck Mikrobiologie und kam nur noch gelegentlich, meist an den Wochenenden, nach Hause.
Chloé machte das Radio auf dem Kühlschrank an und stellte ihren Lieblingssender ein. Es lief gerade ein fetziges Stück und sie drehte die Lautstärke auf. Der pulsierende Rhythmus vertrieb die letzten Schatten ihres Alptraums.
Während sie sich frisches Obst für ihr Müsli schnitt, blickte sie aus dem Küchenfenster auf die Straße. Ihre nächste Nachbarin, eine alleinstehende ältere Dame namens Christel Böhm, besaß eine ähnlich große Villa. Die alte Frau machte sich den lieben langen Tag nur in Haus und Garten zu schaffen. Zwar fand Chloé ihre Nachbarin ein bisschen komisch, aber sie mochte sie und besuchte sie von Zeit zu Zeit.
Sie kannte Christel Böhm seit ihrer frühesten Kindheit. Die alte Dame behauptete, Chloé besäße die Gabe einer Seherin. Als Chloé sie fragte, was das zu bedeuten hätte, antwortete Christel, dass sie Dinge sehen und spüren könnte, die die meisten Menschen nicht wahrnahmen.
„Wie ein Medium?“, hatte Chloé damals gefragt.
Und Christel Böhm hatte mit dem Kopf genickt und ihr geraten, diese Fähigkeit weiterzuentwickeln. Doch Chloé hatte das als Geschwätz einer alten Dame abgetan. Inzwischen war sie sich jedoch nicht mehr so sicher, dass Christel nur so dahergeredet hatte. Offenbar wollte der Alptraum sie vor etwas warnen. Wie sie auf diesen Gedanken kam, wusste sie allerdings nicht.