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Die kleine, nach allen Seiten offene Holzhütte stand unweit des Wanderweges, der leicht erhöht über dem an dieser Stelle steinigen Strandabschnitt verlief. An den Längsseiten waren Bretter zum Sitzen angebracht, und auf einer dieser Bretter hatte Kurt Schwinge sein Gepäck gestellt. Für die Maßstäbe eines Obdachlosen war das fast ein Hotel der gehobenen Klasse, dachte er, - das Badezimmer in Form der Ostsee direkt vor der Tür.

Es hatte angefangen zu dämmern, und die Spaziergänger, meist mit Hund, welche manchmal an der Hütte vorbeigekommen waren, blieben nun ganz aus. Schwinge lauschte der leisen Brandung und rauchte. Er war froh, dass er die Bettelmonate in der Stadt hinter sich gelassen hatte, dass die Winterdepression endlich von ihm abgefallen war und er sich wieder in Bewegung gesetzt hatte. Sich bewegen bedeutete zu leben, irgendwo zu hocken dagegen war wie tot sein.

Plötzlich hörte er Schritte, die näher kamen und nach kurzem Zögern die Stufen zur Hütte hinauf stiegen.

Wenn da nicht diese Augen gewesen wären, dieser sture Blick, dann hätte er sie nicht sofort erkannt. Die Mumie aus der Gruft!

„Was willst du denn hier? Verfolgst du mich etwa?“, entfuhr es Schwinge.

Es wurde schon dunkel, als Verena Lorke die Steilküste bei Holnis erreichte. Aus der Ferne erkannte sie die Wanderhütte, in der sie im letzten Jahr ein paar Nächte verbracht hatte.

Am Treppenabsatz angekommen, hielt sie kurz inne, weil sie glaubte, ein Geräusch gehört zu haben. Egal, dachte sie müde, und ging hinauf.

Sie traute ihren Augen nicht, denn auf der Bank saß der alte Penner von gestern Abend.

„Was willst du denn hier? Verfolgst du mich etwa?“, fragte er.

„Warum sollte jemand dich verfolgen? Du siehst eher zum Weglaufen aus!“, erwiderte sie wütend.

Er kniff die Augen zusammen, deutete mit seinem nikotinverfärbten Zeigefinger unbestimmt in Richtung des Strandes und sagte: „Nochmal gebe ich nicht nach, heute wirst DU verschwinden!“

„Aber ich werde mich doch wohl mal kurz setzen dürfen, oder? Bin den ganzen Tag gelaufen“, antwortete Verena und setzte ihren Rucksack ab.

„Wenn’s sein muss!“

Sie holte die angebrochene Schokolade aus ihrer Tasche und reichte sie ihm. „Hier, nimm, ich hab noch mehr davon.“

„Geklaut?“, fragte er.

„Nee, auf Schein.“

„Ach so.“

Während er schweigend die Schokolade aß, drehte Verena sich aus den krümeligen Resten ihres Tabaks eine dünne Zigarette, zündete sie an und inhalierte tief. „Kennst du die Gegend?“, fragte sie.

„Nein, du?“

„Bin im letzten Jahr ein paar Tage hier gewesen.“

„Aha.“

Das gegenseitige Misstrauen lag fast als etwas Greifbares in der Luft, Misstrauen als Summe von tausend Erfahrungen und Enttäuschungen, und an einem normalen Tag wären beide wohl nach wenigen Minuten wieder auseinandergegangen, wie zwei wilde Tiere, die sich kurz beschnuppern, um dann voneinander wegzuspringen. Aber dieser Tag war weder für Kurt Schwinge, dem Schuhmacher aus Tangermünde, noch für Verena Lorke, der ehemaligen Prostituierten, normal gewesen. Beide befanden sich in Aufbruchsstimmung, und in beiden hatte sich nach dem langen Fußmarsch aus der Stadt eine müde Zufriedenheit, die die Zunge löste, breitgemacht, ein albernes Gefühl von Hoffnung - nicht die Hoffnung, dass der andere vielleicht etwas taugen könnte, sondern die Hoffnung, dass sie selbst etwas taugten.

„Wie heißt du?“

„Verena.“

„Ich bin Kurt. Wie lange läufst du schon mit diesen Schuhen herum?“

Verena blickte an sich herunter. „Schon lange. Wieso?“

„Die sehen erbärmlich aus. Hast du keine Blasen?“

„Doch, aber es ist auszuhalten. Bist du wirklich ein Schuhmacher?“

„Natürlich! Sehe ich aus, als ob ich mir etwas ausdenken müsste?“ Und wie zum Beweis streckte Kurt ihr seine Wanderschuhe entgegen.

„Sehen robust aus“, sagte sie.

„Vor allem sind sie bequem und lassen den Füßen genug Raum zum Atmen. Du glaubst gar nicht, mit was für überteuertem Scheiß die Leute heutzutage rumlaufen. Später kriegen sie es dann in den Beinen und im Rücken und wundern sich. Schwachköpfe.“ Er öffnete seinen Tabaksbeutel, der voller weggeworfener Kippen war. „Schau, alles auf dem Weg hierher gesammelt. Teilweise noch halbe Zigaretten!“ Und er bot ihr eine der längsten an. Eine Prince.

„Danke.“

Eine Weile rauchten sie schweigend und blickten über das Wasser. Das Licht der letzten Sonnenstrahlen tanzte glitzernd auf der bewegten Oberfläche.

„Woher kommst du?“, fragte er.

„Aus Rotenburg.“

„Nie gehört.“

„Ein Scheißkaff irgendwo zwischen Bremen und Hamburg.“

„Aha.“

„Mein Vater hat mich als Kind gefickt. Über zehn Jahre lang. Und keine Sau hat es interessiert.“ Sie war selbst erschrocken über ihre Worte. Bis auf Iris, ihrer Freundin aus Lübeck, hatte sie nie mit jemandem darüber gesprochen. Warum erzählte sie es dann diesem fremden Mann? Blöde Kuh! Sie zog heftig am Filter der Zigarette. Gut, das die hereinbrechende Dunkelheit ihre Gesichtszüge verbarg. Doch von der anderen Seite der Bank kamen keine Worte des Mitleids, wie von ihr befürchtet. Kurt saß schweigend in der Ecke. Gelegentlich leuchtete die Glut seiner Zigarette auf. Langsam entspannte sich Verena wieder.

Asphalt im Kopf

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