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ОглавлениеIn der Morgendämmerung des nächsten Tages kroch Verena aus der Gruft und ging zum Pissen hinter einen Busch. Sie wollte an diesem Vormittag in das Diakonische Werk am Johanniskirchhof, wo es für Obdachlose einmal in der Woche die Möglichkeit gab zu duschen und eine Waschmaschine zu benutzen. Außerdem brauchte sie dringend ein paar Binden, denn ihre Regel hatte begonnen, und die Blutungen hatten fast sämtliche ihrer Unterhosen schon eingesaut. Papiertaschentücher halfen da nur bedingt.
Nach der Morgenzigarette und einem Becher lauwarmen Tees machte sie sich auf den Weg in das Stadtzentrum. Durch belebte Straßen zu gehen war für Verena immer eine Art Spießrutenlauf; sie vermied es, in die Gesichter der Menschen zu blicken, denn in denen sah sie meist nur Widerwillen und Ekel.
Das erste freundliche Gesicht an diesem Tag war das von Michael, dem Sozialarbeiter im Diakonischen Zentrum. Obwohl sie seit einem halben Jahr nicht mehr in der Tagesstätte gewesen war, erkannte er Verena sofort und begrüßte sie mit Namen.
„Hallo, Verena, setz dich doch erst mal an den Tisch und lang ordentlich zu!“
„Ich habe aber kein Geld“, sagte sie. Der Unkostenbeitrag für das Frühstück betrug 50 Cent.
„Sehe ich aus wie ein scheiß Bürokrat?“, antwortete er lächelnd und rückte ihr einen Stuhl zurecht. Nein, wie ein Bürokrat sah Michael nicht aus, eher wie ein Mensch, der selbst schon reichlich Licht und Schatten in seinem Leben gesehen hatte.
Dankbar setzte sich Verena an den Tisch und machte sich über frische Brötchen (Brötchen!) und heißen Kaffee (Kaffee!) her. Die Zigarette danach, mit vollem Magen, schmeckte so gut wie lange nicht mehr. Sie blickte sich um. Der Frühstücksraum war gerappelt voll. Außer ihr waren noch drei andere Frauen in der Tagesstätte, die überwiegende Mehrheit der Gäste waren jedoch Männer. Männer jeden Alters. Zigarettenrauch lag in der Luft - hier störte das niemanden. Es wurde geredet, geflucht, gelacht und geklagt. Michael und seine Kollegin füllten die Kaffeekannen nach und beteiligten sich an den Gesprächen, gaben hier und da einen Ratschlag – wo hatte der Zahnarzt, der Obdachlose kostenlos behandelt, seine Praxis, in welchen Geschäften konnte man mit einem Lebensmittelgutschein einkaufen, oder wo war die nächste Kleiderkammer und wann hatte sie geöffnet.
Nach einer halben Stunde trat Michael an sie heran. „Du kannst jetzt duschen gehen und deine Sachen waschen. Komm, ich zeig dir den Weg.“ Sie gingen ein Stockwerk tiefer, wo sich die Dusch- und Waschräume befanden.
Während die Maschine den Dreck aus ihren Klamotten spülte, stand Verena unter den heißen Wasserstrahlen und seifte sich immer wieder die Haare und den Körper ein. Sie schrubbte ihre Haut minutenlang mit einer Bürste ab, trotzdem hatte sie das Gefühl, dass der in den Abfluss laufende Schmutz kein Ende nahm. Aber irgendwann wurde das Wasser, das ihre abgemagerten Beine hinunterlief, dann doch klarer, und schweren Herzens, denn am liebsten wäre sie endlos unter dieser wohligen Wasserbrause geblieben, stellte Verena die Dusche ab.
Diana, die Kollegin von Michael, hatte ihr frische Unterwäsche, eine Jogginghose und ein Sweatshirt gegeben („die Sachen kannst du behalten“). Binden standen auf der Ablage unter dem Spiegel, außerdem eine Körpercreme, die von ihrer trockenen Haut aufgesaugt wurde wie Flüssigkeit von einem Schwamm.
Sie setzte sich mit einer Tasse Kaffee und einer Zigarette in den Waschraum und schaute erst der Maschine und dann dem Trockner bei der Arbeit zu.
Als sie die Tagesstätte gegen Mittag verließ, fühlte sie sich das erste Mal seit Ewigkeiten wieder wie ein Mensch. Ein Mensch zwar, der allein und verloren ist, aber doch ein Mensch. Und keine Aussätzige.
Der Frühling lag in der Luft, und Verena Lorke wollte, genau wie im letzten Jahr, die Monate bis zum Oktober in der Landschaft zwischen Flensburger Förde und der Mündung der Schlei bei Kappeln verbringen. Besonders die Geltinger Bucht, etwa vierzig Kilometer östlich von Flensburg, hatte es ihr angetan. Dort hatte sie im Sommer ein paar unbeschwerte Wochen verlebt, war kaum Menschen begegnet und doch nie hungrig gewesen, denn auf den Feldern und in den Hecken und Bäumen wuchs ein Überangebot an Nahrung:
Kartoffeln, Erdbeeren, Kirschen, Brombeeren, Haselnüsse, Birnen, Pflaumen und Äpfel, ja, immer wieder Äpfel. Bei Norgaardholz, auf einer Lichtung in der Nähe der Küste, hatte sie im September einen ganzen Tag lang Haselnüsse gesammelt. Der Vorrat reichte bis in den November und half ihr zu Beginn der kalten Jahreszeit über den ärgsten Hunger.
Verena ging am Hafen entlang Richtung Nordosten und folgte der Küstenlinie. Es herrschte gutes Wanderwetter, das heißt, es war nicht zu warm und vor allem trocken. Wenn nichts dazwischen kam, konnte sie bis zum Abend die Spitze der Halbinsel bei Holnis erreichen.
Von ihrer Wanderung im letzten Frühjahr wusste sie, dass es dort den einen oder anderen Unterstand gab, wo es möglich war, einen Schlafsack auszurollen.
Am nördlichen Stadtrand betrat sie eine ALDI-Filiale und löste den Lebensmittelgutschein über zehn Euro ein, welchen Michael ihr ausgestellt hatte. Mit zwanzig Tafeln Schokolade im Rucksack verließ sie das Geschäft, reich und sauber.