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Verena Lorke atmete durch. Der alte Penner schien verschwunden zu sein. Auseinandersetzungen um trockene Schlafplätze waren an der Tagesordnung, wenn man Platte machte. Ihre Hand unter der Decke hielt immer noch die Dose mit dem Reizgas umklammert. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass Verena Lorke das Spray benutzte.

Sie stammte aus Rotenburg an der Wümme, einer toten Kleinstadt in der niedersächsischen Tiefebene. In diese Stadt, oder die Gegend überhaupt, hatte sie allerdings seit zehn Jahren keinen Fuß mehr gesetzt, seit dem Tag, an dem sie mit fünfzehn von zu Hause abgehauen war, weg von Papa und dem ewigen Spermaschlucken.

Die nächsten sieben Jahre hatte sie auf dem Straßenstrich in Hamburg gearbeitet, immer wieder unterbrochen von Aufenthalten in Heimen oder Wohngemeinschaften für betreute Hoffnungslosigkeit, wie Verena es selbst nannte.

Obwohl sie mehr Schwänze in ihre Körperöffnungen aufgenommen hatte, als die gesamte weibliche Bevölkerung von Rotenburg zusammen, konnte sie trotzdem niemals genug Geld beiseitelegen, um einen Absprung zu schaffen, denn ihre wechselnden Zuhälter steckten den Großteil ihres Verdienstes in die eigenen Taschen. Wenn sie es dennoch wagte, zumindest einen kleinen Teil für sich zu behalten, wurde sie, wie zuletzt von Luca, halb totgeschlagen.

Immerhin hatte diese letzte Prügel zur Folge gehabt, dass sie sich endlich von ihrem Job und aus der Stadt verabschiedete. Zusammen mit ihrer Freundin Iris, die auch als Prostituierte gearbeitet hatte, war sie nach Lübeck gefahren. Sie wollten beide neu anfangen und die Vergangenheit hinter sich lassen. In der gemeinsamen Zweizimmerwohnung nahe der Altstadt war Iris jedoch bald wieder in die alten Gewohnheiten zurückgefallen, und neben wahllosem Einwerfen von Tabletten und Pillen war das vor allem Ausschau halten nach Freiern. Verena hingegen hatte keinen Bock mehr auf den ganzen Scheiß und wollte sich nach ein paar Monaten WG mit Iris eine eigene Wohnung nehmen, scheiterte aber an den bürokratischen Hürden – Wo haben Sie zuletzt gelebt? Wie haben Sie denn all die Jahre Ihr Einkommen bestritten? Und gibt es Nachweise darüber?

Sie hatte keine Lust auf diese Fragen zu antworten, sie hatte keine Lust zu erklären, warum sie lebte, aber in das Milieu aus dem sie kam, wollte sie auch nicht mehr. Nie mehr.

Es musste doch noch etwas Anderes im Leben geben, als von alten, stinkenden Männern gefickt zu werden. Und auch wenn es das nicht gab, sie war draußen, Punkt. Sie machte das Scheißspiel nicht mehr mit. Sollten die Arschficker es sich doch selbst besorgen.

An einem verregneten Junimorgen, Iris lag vollgedröhnt auf der Couch im Wohnzimmer und faselte irgendetwas von Kuba, hatte Verena ihre Wanderschuhe geschnürt, den Rucksack über die Schulter geworfen und war los gegangen, einfach los und weg, auf die Straße und aus der Stadt, und sie fühlte sich gut dabei, sehr gut, und auch wenn sie wusste, dass dieses beschwingte Gefühl nur vorübergehend sein konnte - oder gerade weil sie das wusste - platzte ihr Herz bei jedem Schritt fast vor Freude.

Sie hatte sich schon immer gerne bewegt, war im Sportunterricht auf der Schule eine der besten gewesen, und hätte auch gerne in einem Sportverein Leichtathletik betrieben, doch ihr Vater hatte es ihr verboten, wie er überhaupt ängstlich darauf achtete, dass Verenas soziale Kontakte nur sehr oberflächlich blieben. Je weniger Gelegenheiten es gab, dass sie sich verplapperte, umso besser. Der alleinerziehende Akademiker Hans-Jürgen Lorke steckte seiner Tochter Verena nämlich regelmäßig seinen Schwanz in den Mund und in den Arsch. Und zwar seitdem sie fünf war (Komm, mein Engel, lutsch ein bisschen an Papis Freund, das macht ihn glücklich, und Papi auch!).

Als Verena elf war, hatte der Vater sie entjungfert, doch weil er nicht an sich halten konnte und Angst hatte, seine Tochter irgendwann zu schwängern, fickte er sie meistens in die anderen Körperöffnungen.

Lange Zeit hatte Verena geglaubt, dass das, was ihr Vater in dem Einfamilienhaus mit ihr machte, völlig normal wäre. Bei der bigotten Nachbarschaft war Hans-Jürgen Lorke wegen seiner Hilfsbereitschaft und Offenheit sehr beliebt. Und wenn jemand den CDU-wählenden Nachbarn erzählt hätte, dass seine entspannte Zufriedenheit lediglich daher rührte, weil er Tag für Tag seiner minderjährigen Tochter in den Mund spritzte, sie hätten diesen Jemand mit Knüppeln aus ihrer Idylle gejagt. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

Erst als Verena sich mit zwölf einer Freundin anvertraute, die vorher hoch und heilig schwören musste, niemandem ein Sterbenswörtchen davon zu erzählen, erst als sie die ungläubig schockierte Reaktion im Gesicht dieser Freundin sah, begann sie zu ahnen, dass das, was im Hause Lorke vor sich ging, ganz und gar nicht normal war.

Doch einstweilen stand sie noch im Bann ihres charismatischen Vaters. Den sie liebte. Ja, liebte. Wem sollte sie versuchen, das zu erklären?

In der Schule kapselte sich die Zwölfjährige immer mehr von ihren Mitschülern ab. Ihre Noten wurden schlechter, bis sie so schlecht wurden, dass sie mit vierzehn das Gymnasium verlassen musste und auf eine Realschule versetzt wurde. Das Umfeld machte für den Abfall der Leistungen das Einsetzen der Pubertät verantwortlich, möglicherweise auch das Fehlen einer Mutter oder weiblichen Bezugsperson, keinesfalls aber hielt man es für möglich, dass der sympathische und fürsorgliche Vater etwas damit zu tun haben könnte.

Vielleicht wäre diese inzestuöse Beziehung auch noch viele weitere Jahre unentdeckt geblieben, wenn Hans-Jürgen Lorke sich nicht eines Tages verliebt hätte.

Verena fröstelte. Es war bereits Ende April, doch seitdem sie auf der Straße lebte, fror sie eigentlich ständig, vor allem natürlich, wenn der Abend und die Nacht hereinbrachen. Die Kälte kam von innen und war ein enger Verwandter des ewigen Hungers.

Jetzt waren es bald zwei Jahre her, dass sie Lübeck verlassen hatte. Während des ersten Winters hatte sie noch Geld gehabt und konnte sich ein- bis zweimal in der Woche eine Herberge oder ein billiges Hotel leisten. Trotzdem war es hart gewesen, jedoch nichts im Vergleich zum zweiten Winter. Da sie die Obdachlosenasyle aus Angst vor Übergriffen mied, blieben nur irgendwelche Unterstände wie Bushaltestellen oder Hauseingänge. Oder so eine Erdhöhle wie die, in der sie jetzt saß. Verena Lorke nahm ihre Thermoskanne und schenkte sich einen sparsamen Schluck des heißen Tees ein, den sie zusammen mit zwei Wurstbroten von der Bahnhofsmission bekommen hatte. Fast wie Weihnachten heute, dachte sie, und beobachtete ohne Abscheu eine Wanze und eine Spinne, die sich ein Wettrennen über ihre Decke lieferten. Wanzen hatte sie schon gegessen, zwar nicht roh, aber über einer Flamme auf dem Teelöffel geröstet. Hunger beseitigt schneller Vorurteile als alles andere.

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