Читать книгу Das Erbe der Macht - Band 24: Schattenkrieg - Andreas Suchanek - Страница 6
ОглавлениеSie hatten ihr Ziel erreicht.
Der Monolith hatte wieder feste Form angenommen, nachdem er Clara, Anne, Tomoe, Grace und ihn hierher getragen hatte. Doch Leonardo war zu verblüfft über die Personen im Eingangsbereich des Kellerraums, als dass er der Umgebung darüber hinaus Beachtung schenkte.
War Einstein etwa ebenfalls Teil der neuen Ordnung? Nicht anders war es zu erklären, dass er neben Chloe O’Sullivan stand, die schuldbewusst seinen Blick erwiderte.
Doch was Leonardo noch mehr zu schaffen machte, war die Person, die er hier am wenigsten erwartet hatte. Jemand, den er in den letzten Monaten vergessen hatte. Von jenem Zeitpunkt an, als der Onyxquader zerbrochen war, hatte er sie nicht mehr gesehen.
»Was geht hier vor?«, fragte er.
Die Antwort kam als Explosion, die ihn zur Seite schleuderte. In einem Moment stand er noch, im nächsten lag er am Boden. Feuerflammen erblühten, in seinen Ohren klingelte es. Seine Hüfte brannte wie Feuer.
»Die Essenzstäbe sind explodiert!«, rief Chloe.
Leonardo stöhnte. Blut verklebte seine Augen. Er versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.
Grace lag mit dem Rücken zu ihm, hatte ihren Essenzstab gerade wieder wegstecken wollen. Wo ihr rechter Arm gewesen war, gab es nur noch einen blutigen Stumpf. Die Hitze hatte die Blutgefäße verschlossen, sonst wäre sie innerhalb der nächsten Sekunden gestorben.
Weniger Glück hatte Anne gehabt. Ihr Essenzstab war mit dem Säbel verbunden, die Eisenschrapnelle hatten ihren Oberkörper perforiert. Das Blut tränkte bereits ihr weißes Hemd.
»Stabilisiere sie«, befahl die Frau, die Leonardo hier nicht erwartet hatte.
»Wie?! Ich habe keinen Essenzstab mehr.« Chloe kauerte bereits neben Clara und untersuchte die bewusstlose Freundin.
Irgendwo hinter ihm stöhnte Tomoe auf. Gut. Das bedeutete, sie war nicht tot.
Einstein ging neben Leonardo in die Knie. »Es freut mich, dich zu sehen, mein Freund. Nun ja, die Umstände lassen zu wünschen übrig. Nun weiß ich jedenfalls, weshalb mein Essenzstab nicht mit mir aus der Bühne zurückgekehrt ist. Da dürfte die Archivarin ihre Hand im Spiel gehabt haben.«
Der besorgte Blick, mit dem Albert einen Punkt an Leonardos Hüfte musterte, ließ Schlimmstes erahnen. Im Verlauf seines Lebens hatte es oft übel ausgesehen, manchmal war Leonardo dem Tod nur knapp vom Essenzstab gesprungen. Der war allerdings bisher auch niemals explodiert.
»Ihr Puls ist weg!«, schrie Chloe in einem Anflug von Panik. »Clara!« Sie begann mit einer Herzmassage.
»Wie ich so schön sage, Zeit ist relativ.« Einsteins Finger flogen durch die Luft. »Zurücktreten, Miss O’Sullivan, wenn ich bitten darf. Tempus tardius, tempus reversus.«
Die magischen Symbole in der Luft zerfielen und regneten als feines Flimmern auf Clara herab.
»Damit vergeht die Zeit langsamer für sie«, erklärte Albert. »Leider hält meine Essenz das nicht lange durch.«
»Ich kümmere mich um Grace.« Chloe wiederholte den Zauber, hatte sich die Symbole offensichtlich eingeprägt.
Die Welt versank in nebulösen Schatten. Weit entfernt erklang ein Geräusch, wie ein Singen aus tausend Kehlen. Leonardo wusste, was das bedeutete.
»Das Opernhaus«, flüsterte er.
Zeit verstrich. Minuten oder Stunden, er konnte es nicht mehr sagen. Die Dunkelheit verschwand irgendwann und machte einer angenehmen Kühle Platz.
»Bleib liegen, deine Hüfte wächst gerade nach.«
»Wenigstens sind wir genau bei der richtigen Person für Verletzungen gelandet.« Er lächelte Teresa zu, nur um sich verwirrt aufzurichten. »Wo bin ich?«
»Chloe, Albert und ich haben dich hier hochgetragen«, erwiderte die ehemalige Oberste Heilmagierin des Castillos.
Sie befanden sich in einem gemütlichen Wohnzimmer. Durch eine breite Fensterfront erblickte Leonardo das nahe Meer, Sonnenlicht fiel herein. An den Wänden hingen Gemälde unterschiedlicher Epochen, der Schreibtisch war befüllt mit vergilbtem Papier. In einer Vitrine schwebte eine Rüstung.
»Es war knapp«, sagte Tomoe.
Sie saß ihm gegenüber auf der Couch, neben ihr Clara Ashwell. Auf einem umgedrehten Stuhl, die Arme über der Lehne verschränkt, saß Chloe O’Sullivan.
»Wo sind Anne und Grace?«, fragte er.
»Ich musste einen Heilkreis erschaffen. Ihre Verletzungen sind so schwer, dass es einige Tage dauern wird, bis die beiden wieder erwachen«, erklärte Teresa.
Leonardo nahm es mit einem Nicken zur Kenntnis. Seine Hüfte schmerzte, als er sich in eine sitzende Position bewegte. »Wie ist das möglich? Wer bist du wirklich?«
Teresa blieb stehen und verschränkte die Arme. »Jemand, der heilen möchte.«
»Sie ist die Herrin vom See«, warf Chloe ein. »Beschleunigen wir das Ganze doch ein wenig.«
Albert kam mit einem Tablett herein, auf dem Tassen mit Tee und Kaffee standen. »Manche Dinge – darunter vorlaute Menschen – ändern sich wohl nie.« Er zwinkerte Chloe zu.
»Und du bist augenscheinlich nicht mehr Merlins Helferin.« Leonardo betrachtete sie von oben bis unten.
Chloe berichtete von dem Ritual, das ihre gute Seite aus der Zeit vor dem Pakt des falschen Glücks von jener aus der Zeit danach aufgespalten hatte. Sie hatte über ihr böses Ich triumphiert, doch am Ende war Merlin aufgetaucht und hatte sie in eine Schlucht geworfen.
»Ich wäre gestorben, wenn …«
»… das Schicksal nicht ein wenig gebogen worden wäre«, fiel ihr nun Teresa ins Wort. »Sagen wir einfach, es ist meine ganz spezielle Gabe. Hier und da vermag ich einzugreifen und einen Faden im Geflecht der großen Weberin anzupassen.« Sie lächelte sphinxhaft. »Eine Magierin wird zur Springerin. Eine andere überlebt einen schrecklichen Sturz. Im Castillo war ich Oberste Heilmagierin, doch davon wusste niemand mehr.«
Es dauerte eine Weile, bis Leonardo die Worte begriff. Und es stimmte: Von dem Augenblick an, als der Onyxquader zerbrochen war, hatte er Teresa nicht mehr gesehen, nichts von ihr gehört. Ja, er hatte keine Erinnerung mehr an sie gehabt. Stattdessen hatten alle nur noch von der Obersten Heilmagierin gesprochen – der neuen –, als wäre diese schon immer da gewesen.
»Wieso erinnere ich mich?«, fragte er.
»Weil ich euch allen hier an meinen Erinnerungen, meinem Schicksal teilhaben lasse«, erklärte sie. »Für den Rest der Welt war ich nie Teil des Spiels. Sieht man von den vier Trägern des alten Paktes ab. Veränderungen haben auf jene keine Auswirkung, ihre Erinnerungen bleiben unangetastet.«
Was nicht viel geholfen hatte.
Alexander Kent war dank Johanna ein Nimag ohne Magie gewesen und Jenifer Danvers damit beschäftigt, ihn zurückzuholen. Selbst die Unsterblichen waren also nicht gegen eine Schicksalsalternierung gefeit.
»Wieso hast du nicht einfach dafür gesorgt, dass der Wall nie entstand?!« Leonardo hätte sofort gewusst, wie er eine derartige Macht einsetzen würde. »Oder tust es jetzt?«
»So einfach ist das nicht.« Mit ihrem grau melierten schwarzen Haar, das zu einem Dutt gebunden war, wirkte Teresa wie eine elegante, aber strenge Gouvernante. »Wenn ich zu stark eingreife, zerreißt das Gewebe des Schicksals. Das wäre das Ende von allem. Es sind nur winzige Fäden, denen ich einen neuen Platz geben darf.«
»Chloes ins Leben zurückzuholen, war sicher kein kleiner Faden«, merkte Clara an.
»Ich habe ihren Tod verhindert, das ist etwas anderes«, stellte Teresa klar.
»Und welcher Magierin hast du die Fähigkeit zum Springen verliehen?«, hakte Leonardo nach.
»Madison Sinclair«, beantwortete sie bereitwillig.
»Wozu?«
»Ich kann die Zukunft nicht sehen«, erklärte sie. »Es sind lediglich Muster, die ich beeinflusse. Was daraus wird, kann ich oftmals selbst nur erahnen.«
Der Schmerz ließ langsam nach und Leonardo stellte erfreut fest, dass seine Hüfte so gut wie neu war. »Also schön. Erzähl es uns. Ich will alles wissen.«
Und sie berichtete.