Читать книгу Das Erbe der Macht - Die Chronik der Archivarin 2: Auf der Suche nach H. G. Wells - Andreas Suchanek - Страница 10

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Heißes Wasser plätscherte aus chromierten Wasserhähnen, Bernsteine brachten es auf die perfekte Temperatur. Seife und Duschöle standen bereit, das Wasser sprudelte sogar.

Ally glitt seufzend tiefer in die Wanne.

Sie blickte hinaus auf das Laub der Bäume und genoss die letzten Sonnenstrahlen des Tages auf ihrem Gesicht. In diesem Augenblick fiel erstmals gänzlich die Anspannung von ihr ab. Hier würden keine bewaffneten Soldaten durch die Tür stürmen, um ihnen Kugeln in den Leib zu jagen. Es bestand keine Gefahr, dass das gesamte Land von den Deutschen eingenommen wurde.

Hier war sie, wie es schien, etwas Besonderes.

Oder genauer: ihre Fähigkeiten waren es.

In dieser Gesellschaft wurde Magie genutzt, ja, sogar damit bezahlt. Plötzlich war sie aufgestiegen in neue Schichten, die ihr in England stets verwehrt geblieben waren.

Sie öffnete einen violetten Tiegel, tippte ihre Fingerspitzen hinein und massierte sich eine nach Apfel duftende Creme in die Haut. Es folgte golden schimmerndes Öl für das Haar. Nie zuvor hatte es so seidig geglänzt.

Lächelnd stieg sie aus der Wanne, hüllte sich in ein flauschiges Handtuch und vergrub ihre nackten Zehen in den Teppich. Langsam ging sie zum Bett, ließ sich mit einem wohligen Seufzer auf die Matratze fallen.

So mussten Könige sich fühlen.

Sie wollte über alles nachdenken, was geschehen war, doch innerhalb weniger Sekunden war sie eingeschlafen.

Der nächste Tag begann gemütlich. Croissants und Kaffee zum Frühstück – sie würde sich daran gewöhnen –, dann brachte Rousele sie zur Essenzstabmacherin.

Um diese zu erreichen, nutzten sie eine fliegende Kutsche, die sie in den Süden von Frankreich brachte, wo Ally in einem gewaltigen, schwebenden Gebäudekonstrukt über grünem Wald einen Essenzstab erhielt.

Eine dürre Frau namens Segolene, deren tiefbraune Haut von Runzeln durchzogen war, legte Ally Glaskugeln auf. Die einseitige runde Öffnung schloss dicht mit der Haut ab. Farbige Flammen tanzten darin, die Essenzstabmacherin sagte immer wieder »Hm, hm«, sonst nicht viel.

Sie kam zurück mit einem flachen Kästchen.

Ally öffnete es. Das Innere war mit Samt ausgelegt, ein Stab lag darauf, unterarmlang und verziert mit Symbolen. Ornamente aus Glas, Einsätze aus Bernstein.

Eine Berührung genügte und Ally spürte es: Die Verbindung war wie die zu etwas Vertrautem, das einfach dazugehörte.

Und damit begann ihr Unterricht.

Bereits nach den ersten drei Tagen rauchte ihr Schädel. Gleichzeitig fühlte sie sich wie ein Schwamm, der in den bisherigen Jahren seines Lebens vertrocknet gewesen war und jetzt all das aufnahm, was ihm bisher nicht vergönnt gewesen war.

Sie lernte Zauber, erfuhr mehr über die Hierarchie der magischen Welt und jene der Ordinären.

Es gab einen Rat aus Unsterblichen, der das Gleichgewicht im Auge behielt. Dabei legten Männer wie Leonardo da Vinci oder Frauen – ja, die gab es tatsächlich in dieser Position – wie Tomoe Gozen und Johanna von Orleans hohe ethische Maßstäbe an. Gleichzeitig mussten sie jedem Magier einen gewissen Freiraum garantieren.

Fürsten, Königshäuser, hohe Familien, sie alle griffen auf die Dienste von Magiern zurück. Bernsteinkörner waren eine Währung, doch kaum etwas wert. Es gab ganze Bernsteinblöcke voller Essenz, die die Reichen in ihren Villen horteten, um damit Magie zu wirken. In den meisten Fällen wurden die magischen Symbole in die Oberfläche gebrannt, damit der jeweilige Besitzer die Essenz nur für diesen Zauber nutzen konnte.

Immer wieder fragte Ally sich, wie das alles hier überhaupt möglich sein konnte. Wieso stand in den Geschichtsbüchern nichts darüber? Und wenn der Rat die Ordnung garantierte, wie hatte es dann zu den beiden großen Kriegen kommen können? Wieso wurde etwas so Grausames wie das Deutsche Reich zugelassen?

Eines Abends nach dem ersten Monat ging sie zu den Stallungen und besuchte Harry.

Mit dem Stallmeister verstand er sich herausragend gut, wie sie zwischen den Zeilen lesen konnte. Jeden Tag schickte sie ihrem Bruder Nachrichten in Form einer Illusionierung, die sprechen konnte. Das Abbild tauchte vor Harry auf, berichtete ihm von ihrem Tag und löste sich in Luft auf.

Beim ersten Mal hatte der ›Geist‹ ihn erschreckt, was zu einer unschönen Szene mit einem Eimer Wasser, einem Pferd, Schreien und Chaos geführt hatte. Umgekehrt schrieb er Briefe, die sie oft zum Schmunzeln brachte. Seinen trockenen Humor hatte ihr Bruder nicht verloren.

Sie verschwanden in den Stallungen.

Harry verrichtete seine Arbeit, genau wie Ally mochte er Tiere. Die Geschöpfe der Natur waren von reinem Herzen, verloren in der Welt der Menschen jedoch zunehmend ihren Platz.

Viele Jahre hatten sie einen Hund besessen, ein treuer Weggefährte, der in hohem Alter friedlich eingeschlummert war. Sie erinnerte sich noch oft daran, wie sie ihre Nase in das Fell vergraben hatte. Der tiefe Blick, die reine Seele.

Durch die Magie hatte Ally einen völlig neuen Bezug zum Tierreich entwickelt.

»Rousele hat erzählt, dass wir demnächst Tränke herstellen, durch die man sich in ein Tier verwandeln kann«, erklärte sie. »Ist das nicht aufregend. Als Adler über die Häuser gleiten, die Stadt aus der Höhe betrachten.«

Harry bekam einen verträumten Blick. »Ich beneide dich, Schwesterchen. Wie gerne würde ich das mit dir teilen.«

»Ich werde zwei Tränke brauen und wir fliegen gemeinsam«, sagte Ally. »Die funktionieren wohl auch bei den ›Ordinären‹.« Sie rollte mit den Augen.

»Diese Magier sind ganz schön arrogant«, kommentierte Harry und reichte ihr einen Apfel.

»Und schwelgen im Luxus.« Ally seufzte. »Aber wir haben etwas zu essen und ich kann endlich mehr über all das hier erfahren.« Sie senkte unweigerlich ihre Stimme. »Ich verstehe einfach nicht, weshalb es in unserer Zeit keine Magier mehr gibt. Etwas Schreckliches muss passiert sein.«

»Ehrlich gesagt …« Harry biss in den Apfel und sprach nuschelnd weiter. »Du hast deine Kräfte doch in unserer Zeit bekommen. Ich denke, dass es Magier noch immer gibt.«

»Sie verstecken sich«, begriff Ally. »Aber warum?!«

Harry, der ein Faible für Geschichte und politische Strukturen besaß, blickte sinnierend auf einen Pferdehintern, ohne es zu merken. »Die großen Kriege finden zwischen Ländern statt. Stell dir vor, du hast die Magier und die Nichtmagier. Wie würdest du reagieren, wenn du Magierin wärst – okay, das bist du – und es kommt zu einem solchen Krieg. Dann kommt dieser Rat und sagt: Wir machen da nicht mit.«

»Ich würde trotzdem kämpfen.« Sie nickte langsam. »Du denkst, die Ordnung dieser Zeit ist zerbrochen?«

»Es wäre möglich. Die Magier kehren zurück in ihre Länder und kämpfen im Verborgenen.«

»Aber in keinem Geschichtsbuch steht etwas über Magie. So etwas vergisst man doch nicht einfach«, ereiferte sich Ally.

»Es sind Magier.«

Was tatsächlich die Möglichkeit einer weltweiten Amnesie möglich machte.

»Die Lösung finden wir nicht in dieser Zeit«, führte Harry weiter aus. »Denn was immer geschieht, kommt erst noch. Allerdings hast du hier Zugriff auf die historischen Ereignisse vor dem Jahr 1744 und kannst die gesamte Hierarchie durchleuchten.«

»Und Zauber erlernen«, ergänzte Ally. »Wenn uns noch mal Männer mit Gewehren auflauern, wird das ganz anders ablaufen.«

»Und wenn sie Zauberstäbe tragen?« Harry deutete auf ihren Essenzstab.

»Du meinst …«

»Es gibt ganz sicher auch deutsche Magier, und die kämpfen bestimmt nicht an unserer Seite.«

Ally schluckte.

Wenn sie dem Gedanken weiter folgte, musste es auch britische, amerikanische, … einfach in jedem Land Magier geben. Doch würden diese tatsächlich Diktatoren unterstützen? Franko, Mussolini oder Hitler? Das wollte sie nicht glauben.

»Aber wenn diese Unsterblichen nicht altern, müssten sie auch noch da sein«, flüsterte Ally. »Auch im Verborgenen. Wir könnten sie suchen.«

»Du sicher. Ich nicht. Vergiss nicht, dass in unserer Zeit Magie komplett unsichtbar für mich ist. Vermutlich für alle ›Ordinären‹.« Er zwinkerte.

Innerlich war Ally gefangen zwischen Euphorie über ihre Fähigkeiten – jeden Tag entdeckte sie etwas Neues – und Entsetzen über die Ereignisse der Gegenwart. Sie wollte eingreifen, die Dinge verändern. Doch dazu musste sie mehr wissen.

»Hier, der ist für dich.« Sie reichte Harry ein Holzkästchen. »Laut Rousele ist so was unüblich, aber das ist mir egal.«

Ihr Bruder öffnete das Kästchen und nahm ein Lederband hervor, in den ein Bernstein eingeflochten war. Er hatte die Farbe von Allys Essenz angenommen, auf der Oberfläche waren die vorgefertigten Symbole eingebrannt.

»Was ist das?«

»Leg ihn um«, bat sie. »Es wird ›Kontaktstein‹ genannt.«

Harry kam der Aufforderung nach.

Sie berührte den Stein an ihrem Hals und konzentrierte sich. »Kannst du mich hören?«

Ohne die Lippen zu bewegten formulierte sie die Worte in ihrem Geist.

Harry zuckte zusammen. »Ich höre dich.«

»Versuch es auch mit dem Geist«, bat sie.

»Ich höre dich«, wiederholte er lautlos.

»Unglaublich«, hauchte ihr Bruder.

Deiner wird nur so lange funktionieren, bis die Essenz verbraucht ist. Danach muss ich ihn aufladen, wie eine Batterie. Aber die Entfernung spielt keine Rolle.

Beeindruckt wendete Harry den Kontaktsein in seinen Händen, fast andächtig strich er darüber.

Sie plauderten noch eine Weile über seinen Alltag im Stall, der körperlich herausfordernd, aber auch erfüllend war.

Weit nach Mitternacht erschuf Ally eine Leuchtsphäre und kehrte zurück ins Haupthaus. Was diese magische neue Welt wohl noch für sie bereithielt?

Der Hilferuf erreichte sie vier Tage später.

Das Erbe der Macht - Die Chronik der Archivarin 2: Auf der Suche nach H. G. Wells

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