Читать книгу Das Erbe der Macht - Die Chronik der Archivarin 2: Auf der Suche nach H. G. Wells - Andreas Suchanek - Страница 6

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1942

Ein Blitz zuckte.

Welch ein Hohn, ausgerechnet.

Ally packte ihren Bruder und zerrte ihn zwischen die Ruinen. Wie war es möglich, dass die verdammten Krauts es hierhergeschafft hatten? Was taten sie hier, in diesem Küstenstädtchen, weitab von allen wichtigen Angriffspunkten?

»Sie haben uns gesehen«, hauchte Harry angsterfüllt.

Was das bedeutete, musste er nicht erst sagen. Die vier trugen Gewehre.

Schüsse peitschten.

Es war gespenstisch, fast surreal. Der Horizont war tiefschwarz, Blitze zuckten bereits, doch kein Donner erklang. Der Sturm war auf dem Weg, aber bis jetzt nicht hier. Wie ein Stillleben wirkte das Meer, so ruhig, die tintige Schwärze, die Spannung in der Luft. Als hielte die Welt den Atem an, im Angesicht des Schreckens.

»In die Ruine!«, befahl Ally.

Ihr Bruder stolperte voran.

Die Welt verwandelte sich mit jedem Tag etwas mehr in die Hölle. Deutschland befand sich im eisernen Griff einer grauenvollen Ideologie. Spanien ächzte unter Franko. Italien hatte Mussolini. Der Faschismus hielt Europa im Würgegriff.

England hielt sich tapfer, doch wurde zunehmend bedrängt. Dass die vier Nazis ungesehen die Küste erreicht hatten, sprach Bände.

»Der Horchposten«, hauchte Harry.

Seine Stimme klang dumpf in der Kirchenruine.

»Vermutlich«, sagte Ally nur.

Das Dorf wirkte unscheinbar, doch sie wusste, dass es einen Horchposten gab, der den Funk der Deutschen auffing und nach London weiterleitete. Dort waren die besten Codeknacker am Werk. Wie gerne hätte Ally etwas dazu beigetragen, den Krieg zu entscheiden. Doch sie besaß keinerlei Fähigkeiten, die nützlich hätten sein können. Im Gegenteil.

Hatte ihre Anwesenheit die Nazis erst hierhergeführt?

»Denkst du, sie hauen wieder ab, wenn sie uns nicht finden?«, fragte Harry.

»Das können die sich kaum leisten«, zerstörte Ally seine Hoffnung. »Wir könnten sie verraten.«

Außerdem sagte man den Deutschen nicht umsonst nach, gründlich und effektiv zu sein. Sogar im Töten waren sie das.

»Nach unten!« Sie deutete auf die Steintreppe.

Ihre Verfolger waren nicht zu hören, doch ein stetiges Tasten in ihrem Inneren ließ Ally aufhorchen. Sie konnte die vier Männer spüren. Auf eine Art, die sie nicht in Worte zu fassen vermochte, es noch nie gekonnt hatte.

Doch es war nicht das erste Mal.

Dass sie nicht längst in einem Sanatorium gelandet war – einem, das sich um Hysterie kümmerte –, war dem Krieg geschuldet. Beginnend mit dem Tod ihrer Eltern, dann dem ihres Onkels, den Bomben und hassverzerrten Fratzen, die nach Blut und Macht gierten.

»Sie kommen«, flüsterte Ally.

Harrys Augen weiteten sich. Sein schwarzes Haar klebte vor Schweiß an der Kopfhaut. Die sanften braunen Augen wirkten müde, er hatte den Mut verloren. Immer wieder starrte er ins Nichts, hing seinen Gedanken nach und gab auf ihre Fragen keine Antwort. Wenn sie erneut nachhakte, tat er es. Doch der einzige Antrieb war Selbsterhaltung. Der erlöschende Funke, der nach dem Leben schrie.

»Ich habe nichts gehört«, sagte er fast flehend.

Die letzte Stufe – und sie standen im Keller. Dämmerlicht lag über allem, Schächte in der Wand gingen bis an die Oberfläche, gerade groß genug, um Tageslicht hereinzulassen. Der Putz war feucht, in der Luft lag der typische Geruch von Moder und Schimmel. Halbrund gehauene Durchgänge führten von einem Zwischengang ab in einzelne Kammern.

Ally machte einen Schritt und taumelte.

Da war es erneut.

Etwas in ihr bewegte sich. Das Bild blitzte auf. Ein Symbol, das beständig waberte und Farbe erzeugte. Die Hysterie kehrte zurück. Wie vor zwanzig Jahren, als sie sechs gewesen war. Mit ihm waren die abenteuerlichsten Geschichten in ihrem Geist erschienen. Bewegungen, Worte, Symbole. Ein lebhafter Kindergeist war zu so etwas fähig.

Hätte sie Harry erzählt, dass es dieses innere Wabern war, das sie hierher zur Ruine geführt hatte, vermutlich wäre er im Haus geblieben.

Zweifellos bereute er seine Entscheidung längst.

»Was ist los?«, fragte er.

Wann hatte sie seine Augen zuletzt gesehen, ohne dass Angst darin stand?

»Es ist gut«, erwiderte sie. »Weiter.«

»Warte hier, ich renne voraus und suche einen Ausgang.«

»Aber …«

Schon war er auf dem Weg. Wie immer, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, von der inneren Leidenschaft angetrieben wurde. Sie ließ ihn gewähren, war froh, dass er die Lethargie überwand.

Ally spürte genau, wohin sie gehen mussten. Mit wackligen Beinen schritt sie den Gang entlang auf einen der Durchgänge zu. Dahinter hatte jemand ein Stofftuch über Gerümpel gespannt. Einstmals war es weiß gewesen, doch längst von fingerdickem Staub bedeckt.

Sie griff nach dem Tuch und riss es fort.

Hustend wedelte Ally mit der Hand, der Staub verteilte sich überall. Sie blinzelte, rieb sich die Augen. Im Dämmerlicht stand eine seltsame Apparatur.

Ein wenig erinnerte sie an einen Schlitten. Es gab Hebel, an denen man ziehen konnte, Zahnräder drehten sich zwischen dem Holz. Eine Zeitanzeige war angebracht, erloschene Kristalle an allen vier Seiten.

»Es gibt keinen Ausgang!«, rief Harry und erschien neben ihr. »Was ist das?«

Ally ging schweigend näher. Die Kristalle leuchteten auf, Zahnräder drehten sich schneller. Ein Blitz ging von ihr aus und schlug in der Maschine ein.

Harry sprang zurück. »Was ist das?« Er starrte weiter auf die Apparatur.

Den Blitz hatte er nicht gesehen? So war es auch damals gewesen. Als Ally zum ersten Mal etwas hatte schweben lassen, war sie aufgeregt zu ihrer Mutter gelaufen. Doch die hatte es nicht sehen können. Stattdessen beharrte sie darauf, dass die Puppe an einer Schnur hing.

Das Wabern in Ally wurde stärker. Verschlungene Linien tanzten. »Sigil«, hauchte sie.

»Was?« Verwirrt runzelte Harry die Stirn. »Oh nein. Das hast du damals auch gesagt. Ally, das ist nicht echt. Du hast wieder einen hysterischen Anfall.«

Eine Kugel schlug direkt neben ihrem Bruder in die Wand, Stein spritzte auf.

Er sprang in den Raum. »Es ist vorbei. Sie werden uns erschießen und zwischen dem Gerümpel verschwinden lassen.« Er rannte zu den Kisten und räumte sie beiseite. »Vielleicht finden wir eine Waffe.«

»Im Keller einer Kirche?«, fragte Ally skeptisch.

Doch sie ließ ihn machen.

Seltsam, obgleich die Deutschen in wenigen Sekunden hier sein würden, verspürte sie keine Angst.

»Ich beschütze dich und dann suchen wir einen Arzt«, sagte Harry. »Es wird alles gut.«

»Ja, das wird es.«

Er stieg in den Schlitten, um an die Kisten dahinter zu gelangen. Dass diese seltsame Apparatur bis vor wenigen Sekunden nicht mehr gewesen war als eine Ansammlung von Holz und Metall, war ihm egal.

Ally stieg ebenfalls ein.

Die Männer tauchten im Durchgang auf.

»Contego«, sagte sie und malte ein Symbol in die Luft.

So viel hatte sie vergessen, was zuvor klar gewesen war, doch ein paar wenige Worte hatten sich dauerhaft eingeprägt. Wie der Schutz, mit dem sie sich vor den Schlägen der anderen Mädchen so oft verteidigt hatte.

Die Nazis schossen, doch ihre Kugeln schlugen ohne Wirkung in die halb durchsichtige Sphäre.

Harry starrte auf die Mündungen. »Sie können nicht zielen.«

Was in keiner Weise Sinn ergab, denn ihre Häscher standen nur wenige Schritte entfernt.

»Schutzrüstungen«, rief einer der Nazis.

Beinahe hätte Ally die Augen verdreht. Und sie wurde als hysterisch bezeichnet … Doch sie wollte sich nicht beschweren, das Schicksal stand auf ihrer Seite.

Harry hatte einen unterarmlangen Holzleuchter entdeckt, den er wie einen Cricketschläger schwang. »Lasst uns in Ruhe!«

Ally zog an dem Hebel.

Einfach so, weil nur das einen Sinn ergab. Und weil das Sigil ihr zuflüsterte, genau das zu tun. Nicht dass sie viel Hoffnung in einen Schlitten setzte.

Doch die Zahnräder begannen zu klacken und zu surren, die Kristalle verströmten ein überirdisches Licht. Die Umgebung lag plötzlich hinter einem farbigen Wabern, wirkte diffus und surreal.

Ihr Schutz vor dem Raum erlosch. Die Männer legten erneut an, richteten die Mündung der Gewehre auf Ally und Harry. Kugeln lösten sich aus den Läufen.

Doch sie verharrten in der Luft.

Genau wie die Nazis in der Bewegung gefroren.

»Wieso starren sie uns mit diesem debilen Lächeln an?«, fragte Harry, die Stirn gerunzelt, den Schläger erhoben.

»Setz dich.« Ally wartete nicht, bis er Folge leistete, sondern drückte ihn auf den Sitz.

»Deine Hysterie …«, begann ihr Bruder.

Doch als die Umgebung verschwand, farbiges Licht sie umgab und der Schlitten sie davontrug, war er es, der hysterisch brüllte. Die Apparatur trug sie in Sicherheit, wie das Sigil es vermittelt hatte.

Doch was mochte sie am Ziel erwarten?

Das Erbe der Macht - Die Chronik der Archivarin 2: Auf der Suche nach H. G. Wells

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