Читать книгу Das Erbe der Macht - Die Chronik der Archivarin 2: Auf der Suche nach H. G. Wells - Andreas Suchanek - Страница 11

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Zufrieden betrachtete Ally die beiden verkorkten Phiolen, in denen der Zaubertrank schimmerte. Harry würde vor Freude in die Luft gehen. Wortwörtlich.

Es war ein Freitag, der Unterricht für die Woche also beendet. Ally verstaute den ausladenden Rock und schlüpfte in eine saubere Lederhose, dazu ein weißes Hemd. Sie wollte mit Harry die Stadt erkunden und dabei nicht ständig für eine Lady aus feinem Haus gehalten werden. Dass ihr Essenzstab gut sichtbar an einer Gürtelschlaufe baumelte, verschaffte ihr genug Respekt.

»…lf mir.«

Ein Schwall aus Schmerz und Furcht schlug über Ally zusammen. Ihr Bruder hatte Todesangst. Der Kontaktstein gab die Emotionen ungefiltert weiter.

Ohne nachzudenken rannte sie aus dem Haus, hetzte die Straße entlang und begriff erst, als sie keuchte, dass sie doch eine Magierin war. Ein Griff in die Hosentasche. Das kalte Glas der Phiolen verströmte Hoffnung. Sie entkorkte sie und stürzte den Trank hinab.

Die Welt verging in einem Wirbeln aus Farben, Formen und … Federn. Mit einem abrupten Hüpfer fand Ally sich auf dem Boden wieder. Ihre Haut war zu Gefieder geworden, der angepeilte Adler erwies sich allerdings als Taube. Deshalb also hatte Rousele so gegrinst, als Ally kurz weggeschaut hatte. Vermutlich hatte eine Taubenfeder ihren Weg in den Trank gefunden.

Aber das war in diesem Augenblick bedeutungslos.

Sie flatterte und erhob sich in die Luft. Ihr Blickwinkel umfasste plötzlich weitaus mehr als zuvor. Sie konnte hinter sich sehen und gleichzeitig vor sich. Wie ein betrunkener Vogel flatterte sie auf eine Hausfassade zu, konnte im letzten Augenblick aber abdrehen.

Endlich fand Ally ihre Orientierung wieder. Nach einigen Minuten war es ganz leicht. Schon sauste sie in Richtung jenes Katakombenzugangs, wo sie angekommen waren.

Denn dort war Harry.

Das Bild war nur kurz aufgeblitzt, zeigte jedoch unverkennbar die Steinwände und die hinter einer Illusionierung verborgene Apparatur.

Im Sturzflug raste Ally in den Stollen hinein. Eine Gruppe Arbeiter in ihrem Weg sprang panisch beiseite, als ein gefiederter Dämon gurrte.

Im Stillen entschuldigte sie sich.

Sie kam auf dem Boden auf, leitete die Rückwandlung ein und eilte durch die Gassen.

»Revelio Apparatur.« Sie schwang den Essenzstab im Lauf.

Eine farbige Spur erschien im Gang und wies ihr den Weg. Vorsichtig auf möglichen Feindkontakt achtend, glitt Ally durch das Halbdunkel. Einzig die Essenzspur verströmte Licht, nur für ihre Augen sichtbar.

Endlich erreichte sie die letzte Gabelung und stand in dem Raum mit der Apparatur. Oder genauer: wo diese hätte sein sollen. Harry lag am Boden. Sein Oberkörper hob und senkte sich, doch er war nicht bei Bewusstsein.

»Harry!« Sie ging neben ihm in die Knie und tätschelte seine Wange. »Wach auf.«

Keine Reaktion.

Sie erschuf Symbole auf seinem Körper, exakt wie sie es erst Tage zuvor gelernt hatte. »Sanitatem Corpus.«

Ihre Essenz sickerte in Harrys Leib. Da es keine sichtbaren Wunden gab, wusste sie nicht, was genau zu heilen war. Sicherheitshalber konzentrierte sie sich sowohl auf Verletzungen als auch Gift. Doch nichts geschah. Ihr Bruder blieb bewusstlos.

»Bitte, wach auf.«

Schritte erklangen hinter ihr.

Ally fuhr herum und rief: »Contego.«

Der Kraftschlag in ihre Richtung schlug wirkungslos in die Schutzsphäre ein, die sie errichtet hatte.

Vor ihr stand eine junge Frau mit langem schwarzen Haar. Sie trug eine Gesichtsmaske, Armschienen und Brustplatten, die mit Schnüren gehalten wurden. In einer Hand hielt sie einen Essenzstab, die Spitze war auf Ally gerichtet. »Wer bist du?«

»Das Gleiche wollte ich dich gerade fragen.« Ally ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

»Tomoe Gozen«, sagte die andere Frau. »Und ich fordere dich auf, deinen Essenzstab zu senken und mir Rede und Antwort zu stehen.«

Tomoe Gozen, das Mitglied des Rates! Ally erinnerte sich wieder an die Vorlesung, wo auch jeder der Unsterblichen vorgestellt worden war. Rousele hatte eine Nachricht zum Rat geschickt, doch bisher keine Antwort erhalten. »Du bist die Unsterbliche.«

»Und du ganz offensichtlich eine sehr respektlose Magierin«, stellte Tomoe fest. »Senke den Stab.«

Ally überdachte ihre Möglichkeiten. Hinter der Maske konnte sich jeder verbergen. »Zuerst du deine Maske. Vielleicht bist du ja gar nicht Tomoe Gozen.«

Wut blitzte in den Augen der anderen Frau auf. »Ich lasse mir keine Bedingungen diktieren. Wenn ich dich betrachte, warst du bis vor Kurzem noch eine Ordinäre.«

Die hochmütigen Worte der Unsterblichen waren nicht dazu angetan, Ally zu beruhigen.

»Hast du ihn verletzt?« Ein Nicken in Richtung Harry folgte.

»Nein! Er ist mein Bruder! Ich versuche, ihn zu heilen.«

»Wenn du bereits bei einem gewöhnlichen Heilzauber scheiterst, scheint es mit deiner Kraft nicht weit her zu sein.« Tomoe nahm die Gesichtsmaske ab.

»Er wurde magisch irgendwie attackiert. Und sie haben … etwas gestohlen. Ein Artefakt.«

»Deshalb bin ich hier.« Tomoes Blick fixierte erneut Allys Essenzstab.

Sie gab nach. Die Schutzsphäre kollabierte, als sie ihn in die Gürtelschlaufe schob.

Tomoe nickte zufrieden. »Was ist hier vorgefallen?«

»Das weiß ich nicht. Als ich hier ankam, war er schon bewusstlos.« Wieder ging Ally neben ihrem Bruder in die Knie. »Er atmet noch, wacht aber nicht auf.«

»Möglicherweise ein Schlafzauber, der einen bestimmten Zeitraum über vorhält.« Tomoe prüfte Harrys Kondition und nickte. »Du kannst ihm nicht helfen. Dieser Zauber wurde an den Essenzstab desjenigen gebunden, der ihn ausführt.«

»Heißt das, er wacht nie wieder auf?«

»Keine Sorge«, sagte Tomoe gelassen. »Wir werden denjenigen finden. Eine kurze Befragung der Essenzstabmacherin wird genügen. Bis dahin geschieht ihm nichts.«

Es ärgerte Ally, dass Tomoe sich so leichthin zum Zustand ihres Bruders äußerte. Als wäre dieser nur eine Fußnote, die es schnell abzuarbeiten galt.

»Dieses Artefakt, wie kommt es, dass ein Ordinärer damit zu tun hat? Und wieso ist es fort?«

»Wir sind Reisende«, erklärte Ally. »Als wir hier in Paris eintrafen, haben wir es versteckt. Wir wollten uns zuerst einen Überblick verschaffen.«

»Eine dumme Idee«, sagte Tomoe. »Ihr hättet es einfach bei euch führen können. Verborgen hinter einer Illusionierung.«

Ally dachte nicht im Traum daran, die Größe oder Natur der Apparatur zu enthüllen. Nicht auszudenken, wenn Tomoe den Zeitapparat einfach mit sich nahm. Sie würden nie wieder nach Hause zurückkehren können.

»Ja, das war dumm«, sagte sie daher.

»Wir werden das Artefakt und deinen Bruder finden. Du weißt, wo die hiesige Stabmacherin ihr Werk verrichtet?«

Sofort erschienen vor Allys geistigem Auge Baumwipfel, gläserne Zimmerfluchten und faltige Haut. »Das weiß ich.«

»Dann sollten wir keine Zeit verlieren.«

Für eine Frau, die seit Jahrhunderten lebte, legte Tomoe Gozen eine geradezu hektische Aktivität an den Tag. Ally wurde das Gefühl nicht los, dass sie ihr etwas verheimlichte.

Womit sie quitt waren.

Wusste die Unsterbliche womöglich bereits, worum es sich bei der Apparatur handelte?

Gemeinsam verließen sie die Katakomben und brachten Harry in Sicherheit. Danach begaben sie sich zur Stabmacherin.

Eine Entscheidung, die Ally noch lange Zeit bedauern sollte.

Das Erbe der Macht - Die Chronik der Archivarin 2: Auf der Suche nach H. G. Wells

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