Читать книгу Das Erbe der Macht - Die Chronik der Archivarin 2: Auf der Suche nach H. G. Wells - Andreas Suchanek - Страница 9

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Das Haus des Rates erwies sich als prunkvoller Bau. Er lag am weitesten Punkt entfernt vom hiesigen Palast des Königs und bildete damit einen zweiten Pfeiler der Macht in der Stadt.

Ally starrte überwältigt auf das gewaltige Bauwerk aus weißem Stein, das aus einem Dutzend Häusern zusammengesetzt worden war. Ein Gebäude ging in das nächste über. Ringsum war ein simpler Zaun angebracht, doch das Metall schimmerte leicht. Symbole waren darauf zu erkennen. Hinter der Barriere standen dicke Pfeiler aus Bernstein, die golden glühten.

Sie sah Männer und Frauen auf Pferden, wunderschöne Wälder und lachende Gesichter.

So viel Unbeschwertheit und Luxus hatte sie noch nie zuvor gesehen. Hier schienen der allgegenwärtige Kampf, das Blut, Bomben und Hass nicht zu existieren.

Unweigerlich fragte sie sich, ob die Französische Revolution auch die Kluft zwischen den Magiern geöffnet hatte. Oder genauer: eines Tages öffnen würde.

»Ich werde einem der Ratsmitglieder eine Nachricht überbringen«, erklärte Rousele. »Nach der Katastrophe von Glamis Castle wird es aber wohl einige Zeit dauern, bis jemand hier ist. Hoffentlich kommt Kleopatra, ich finde sie wahrlich erfrischend.«

»Kleopatra«, echote Harry. »Ist das vielleicht … ein Künstlername?«

Rousele wirkte verwirrt. »Ich verstehe die Frage nicht.«

»Was ist denn in Glamis Castle passiert?«, fragte Ally schnell.

»Es ist wahrlich eine seltsame Geschichte. Wir erhielten eine Warnung von Kleopatra. Der Hauptsitz des Rates wurde angegriffen, sie nutzte die Türübergänge mithilfe der Archivarin dazu, alle Bewohner zu evakuieren. Kurz darauf zerriss ein Zauber das Gebäude. Niemand kam zu Tode. Nur die da Vincis sind noch etwas mitgenommen, ihr Sohn ist gestorben.«

»Die da Vincis?«, krächzte Harry.

»Ich meine natürlich Leonardo da Vinci und Johanna von Orleans«, erklärte Rousele und winkte ab. »Für mich sind das nur die da Vincis.«

»Klar«, Harry lachte auf. »Total verständlich.«

Rousele hob ihren Essenzstab. »Ouvre.«

Das Tor öffnete sich.

Gemeinsam betraten sie einen geschwungenen Weg aus weißem Gestein, der von frisch geschnittenem Rasen umgeben war. Farbige Blüten reckten ihre Kelche gen Himmel.

»Es ist wunderschön«, hauchte Ally.

Wie konnte es nur sein, dass so viele Menschen im Dreck dahinvegetierten, während andere in diesem Prunk lebten? Und das einfach aufgrund von Zufall. Schicksal? Oder wählte jemand die Erben aus, die ›Noveau Magiciens‹?

»Sollte ich aufgrund meiner Verdienste für die magische Welt eines Tages zur Unsterblichen werden, dann hoffe ich auf ein vernünftiges Alter«, sprach Rousele weiter. »Nicht wie bei der armen Johanna von Orleans. Da stirbt sie als siebzehnjährige Jungfrau und kommt als Scheintote wieder. Vierzig, das muss man sich mal vorstellen.« Sie schüttelte den Kopf. »Leonardo hatte da mehr Glück. Diese Muskeln und der Bart. Und dabei starb er am Alter.« Erst jetzt schien sie zu realisieren, dass weder Ally noch Harry ihr folgen konnten. »Habt ihr überhaupt nichts von der Welt um euch herum mitbekommen?«

»Wir lebten sehr abgeschieden«, erklärte Ally.

»Und doch sehe ich keinen Kontaktstein«, Rousele deutete auf ihre Brust, wo ein geschliffener Stein am Lederband hing. »Ich spreche eure Sprache, dank Magie. Doch ihr seid fließend des Französischen mächtig.«

»Zweisprachig aufgewachsen«, erklärte Ally.

»Vor dem Tod von …«

Harry hatte eindeutig vergessen, ob Mutter oder Vater gestorben waren.

»Es ist schmerzhaft«, sagte Ally daher schnell. »Aber wir sind dankbar für die uns vergönnte Zeit.«

Rousele marschierte auf die Flügeltüren zu und öffnete diese schwungvoll. Sie mochte einen nonchalanten Eindruck machen, doch hinter der Fassade verbarg sich ein wacher Verstand. Ally mahnte sich zur Vorsicht und schickte einen entsprechenden Blick zu ihrem Bruder, der glücklicherweise zu begreifen schien und schwieg.

Sie betraten die Halle.

Die Gemälde an den Wänden bildeten alle grimmig dreinblickende Männer oder Frauen ab, die magische Stäbe in Händen hielten. Das Wort Essenzstab kam von ganz alleine. Ein paar davon wirkten auf Ally vage vertraut.

Harry stand vor dem Bild einer jungen Frau. Sie hatte hohe Wangenknochen und ebene Gesichtszüge, die Haut war von einem tiefen Braun. »Ist das …«

»Kleopatra«, erklärte Rousele. »Ganz so weit muss es nicht zurückgehen. Sie kam wirklich sehr jung ins Leben zurück.«

»Wir werden bestimmt gleich aufwachen«, hauchte Harry.

»Und im Sterben liegen«, ergänzte Ally. »Anders kann ein solches Delirium nicht zustande kommen.«

Rousele bedeutete Harry, in einer gemütlichen Sitzecke im ersten Stock zu warten. In diesem Fall stand Sitzecke für einen Bereich, der so groß war wie ihr altes Wohnzimmer.

Als Ordinärer durfte er nicht mehr weitergehen.

Ally dagegen sollte jetzt irgendeinem Magier vorgeführt werden, der ihre Kraft einschätzte. Was immer das bedeuten mochte.

Sie betraten einen Raum, der an eine Schreibstube erinnerte. Hinter einem hohen Podest saß ein Methusalem, dessen Augen wach auf sie herabschauten. Sein Körper jedoch stand eindeutig kurz vor dem Zusammenbruch.

Er stellte sich als Clément vor, Bibliothekar von La Masion du Conseil und zuständig für die Einschätzung der neuen Magier. Ein kurzes Symbol in der Luft, ein Testzauber – und er wirkte beeindruckt.

»Außerordentlich, wenn auch bedenklich«, sprach er mit knisternder Pergamentstimme. »Die magische Kraft in dir ist ungemein stark. Aber auch ungeformt und roh. Du wurdest bereits vor langer Zeit zu einem Erben.«

»Sie wurde übersehen«, erklärte Rousele. »Ich fand sie auf dem Markt, gänzlich ohne das notwendige Wissen um unsere Gesellschaft und die Magie. Sie benötigt Führung.«

»Du hast dein Erbe vergessen, die Magie in dir schlief. Es kann zu abrupten Freisetzungen kommen, davor solltet ihr euch in Acht nehmen. Wut kann das begünstigen.« Er schenkte Ally erneut einen eindringlichen Blick. »Ich werde Präzedenzfälle hierzu studieren und ergänzende Lektüre bereitstellen.«

»Vortrefflich.« Rousele winkte Ally, ihr zu folgen.

»Das ging … schnell.«

»Ich wusste es gleich, als ich dich sah. Du bist stark. Zweifellos ist dir eine große Zukunft beschieden. Und ich habe dich entdeckt.«

»Wie kann ich alles über die Gesellschaft der Magier erfahren?«

»Das wird von ganz alleine geschehen«, erklärte Rousele. »In den nächsten Wochen und Monaten wirst du unterrichtet. Hier, in diesen Hallen der Magie.«

»Aber …«

Ally überdachte das Angebot. Die Apparatur war erst einmal sicher in den Katakomben untergebracht. Wenn sie endlich mehr darüber erfahren wollte, wer sie war, konnte sie hier auf jede Art von Wissen zugreifen.

»Was ist mit meinem Bruder?«, fragte sie. »Ohne ihn werde ich auf keinen Fall hierbleiben.«

»Die Hallen der Magie sind ihm verwehrt, das steht außer Frage«, erklärte Rousele. »Doch als Blutsverwandter darf er dich natürlich jederzeit besuchen. Da er niemanden hier kennt, werde ich ein Wort mit dem Stallmeister sprechen.«

»Du meinst … er soll Stallbursche werden?«

»Eine ehrliche Arbeit.«

Sie konnte sich Harry so gar nicht dabei vorstellen. Andererseits war er damit sicher, wurde bezahlt und sie hatten Zeit gewonnen. »Das wäre nett.«

»Dann betrachte das als erledigt.«

Es gefiel Ally nicht, dass gewöhnliche Menschen in dieser seltsamen Zeit als minderwertig angesehen wurden. Andererseits sah der Adel auch den Pöbel als genau das an. Und wohin es geführt hatte, wusste sie. Die Französische Revolution hatte die Herrschaft der Monarchie beendet. Auf blutige, bestialische Weise.

Doch wieso gab es keine Magier mehr in der Gegenwart des Jahres 1942? Diese hätten zweifellos einen so grauenvollen Krieg verhindert.

»Gibst du mir ein paar Minuten?«, fragte Ally.

»Aber natürlich.« Rousele blieb stehen und wandte sich dem Fenster zu.

»Wie ist es gelaufen?«, wollte Harry wissen und sprang auf.

Sie fasste das Treffen zusammen.

»Das ist fantastisch.« Ihr Bruder strahlte. »Das gibt mir Gelegenheit, diese Zeit zu studieren.«

»Im Stall«, sagte Ally.

Er winkte ab. »Immerhin fallen hier keine Bomben. Und sobald wir genug wissen, kehren wir zur Apparatur zurück. Ich habe mir überlegt … Vielleicht lässt sie sich ja beliebig nutzen.«

»Was meinst du?«

»Wir könnten auch andere Zeiten ansteuern«, sagte er vorsichtig. »Mama und Papa …«

Sie schluckte. »Ich stürze mich so schnell ich kann auf alle Informationen, die mir zugänglich sind.«

»Abgemacht. Und ich werde tun, was ein Stallbursche so tut. Vielleicht kannst du mir das eine oder andere Buch herausschmuggeln?«

»Ich gebe mein Bestes.«

Als Ally sich Rousele wieder zuwandte, stand ein anderer Mann neben dieser. Mathéo, der Stallmeister. Eindeutig nicht das, was sie bei einem Stallmeister erwartet hatte. Dichtes schwarzes Haar, blaue Augen und ein dreitägiger Bart ließen ihn wie einen Feldarbeiter erscheinen.

Einen sehr gut aussehenden Feldarbeiter.

Harry und Mathéo begrüßten sich und verschwanden kurz darauf, in ein Gespräch vertieft. Sie konnte nur hoffen, dass ihr Bruder keine Dummheit beging. Wenigstens waren die Franzosen stets recht offen gewesen, wenn es um die Formen der körperlichen Liebe ging. War die Liebe zwischen Männern hier verboten? Wurde sie stillschweigend toleriert? Sie würde auf Harry achtgeben.

»Ich zeige dir deine Zimmer.«

»Mehrere?«

Rousele lachte. »Ich freue mich auf dein Gesicht.«

Vor Ally enthüllte sich eine neue Welt.

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