Читать книгу Das Erbe der Macht - Die Chronik der Archivarin 2: Auf der Suche nach H. G. Wells - Andreas Suchanek - Страница 8

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Was jetzt?

Die Erkenntnis über Ort und Zeit hallte in Allys Körper wider, als sei dieser der Resonanzkörper einer Geige. Sie waren dem Krieg entronnen und in einer Epoche gelandet, in der keine unmittelbare Lebensgefahr drohte.

Gleichzeitig waren sie so fremd wie nie zuvor.

Sie streiften durch die Gassen, und bereits nach wenigen Schritten verlegten sie sich darauf, ausschließlich durch den Mund, aber keine Sekunde länger durch die Nase zu atmen. Der Gestank war allgegenwärtig. Paris war eine schmutzige Stadt, wie es auch London und alle anderen Großstädte der Welt einst gewesen waren.

»Wir werden die Pest bekommen und sterben«, sagte Harry mit grün angelaufenem Gesicht.

»Falsche Zeit«, erklärte sie, obgleich er das natürlich wusste.

Andererseits mochte in diesen Bergen aus Dreck, Müll und Schlamm durchaus noch die eine oder andere tödliche Krankheit lauern.

Ein deutliches Magenknurren signalisierte Ally, dass ihr Körper trotz der Umgebung seinen Tribut forderte. Sie kramte in ihrem Geist nach möglichen Auswegen. Die Illusionierung – immer mehr Worte kamen an die Oberfläche, andere entzogen sich vollständig – gaukelte den Menschen ein Trugbild vor. In der sauberen Kleidung fügten die beiden sich ein, konnten durchaus als den gehobenen Schichten entstammend durchgehen. Leider gab es die dazugehörige Geldbörse nicht.

Irgendwann stießen sie auf eine Ansammlung kleiner Läden und dann, endlich – einen Markt.

»Das ist seltsam.« Harry betrachtete die Auslagen. »Sie verlangen Bernsteinkörner als Bezahlung.«

In diesem Augenblick war Ally dankbar für die Bildung, die ihre Eltern stets verlangt hatten. Harry und sie sprachen fließend Spanisch, Deutsch, Englisch, Französisch und gebrochen Russisch.

Der Gedanke an ihre Eltern zog Ally die Brust zusammen.

Sie schüttelte den Kopf, verdrängte die Bilder von Blut, Schlägen, Tritten und konzentrierte sich auf das aktuelle Problem.

»Hattest du etwas in den Geschichtsbüchern dazu gelesen?«, fragte sie Harry.

Er war das Ass, wenn es um historische Ereignisse ging. Geschichte war sein Steckenpferd. Ally interessierte sich für … so ziemlich alles andere.

»Die Währung in Paris hat öfter gewechselt, aber ganz sicher haben die Franzosen 1744 nicht mit Bernstein bezahlt.« Er sah sich kopfschüttelnd um. »So etwas hätten sich die gewöhnlichen Franzosen gar nicht leisten können.«

Nun, letztlich spielte das nur eine untergeordnete Rolle. Sie besaßen weder Gold noch Bernstein oder irgendeine andere Währung. Nicht einmal Pfund hatten sie in der Gegenwart besessen. Nicht mehr.

»Es gibt da etwas, das ich versuchen kann.«

Sie steuerte einen kleinen Durchgang zwischen den Gebäuden an, hinter der eine dunkle Gasse lag. Letztlich war ganz Paris eine Anordnung dunkler Straßen, schmal, stinkend und düster. Die Sonne reichte oft nicht zum Boden.

»Was hast du vor?«, fragte Harry.

»Es ist ein Aufrufzauber.« Sie fokussierte den Marktstand in Sichtweite. Die Bewegungen ihrer Finger waren zittrig, als sie das Symbol erschuf. »Aportate Äpfel.«

Essenz loderte, der Zauber wirkte.

Ein durchdringender Ton lag in der Luft. Auf- und abschwellend, wie bei einer Luftschutzsirene. Im ersten Augenblick war Ally überzeugt, dass gleich deutsche Flieger am Himmel erscheinen und Bomben abwerfen würden. Harry zuckte zusammen und ging in die Knie.

Doch die Gefahr kam aus einer anderen Richtung.

Die Äpfel hingen in der Luft, bewegten sich keinen Zentimeter. Der Besitzer des Marktstandes deutete mit ausgestrecktem Finger auf Ally und rief: »La Magie! Les Voleurs.«

Eine Dame mit ausladendem Hut und flammend rotem Haar kam herbeigeeilt. Ihr Rock war aufgebauscht, sie wirkte, als sei sie vom Teetisch der Aristokratie direkt auf den Markt geplumpst. In ihrer rechten Hand hielt sie einen unterarmlangen Stab aus Holz, der von Ornamenten besetzt war.

»Potesta!«, rief sie.

Der Kraftschlag sirrte durch die Luft und schlug in der Wand neben Ally ein.

»Lauf!«, brüllte Harry.

Sie warfen sich herum und tauchten ein in die dunkle Gasse. Zwei Ecken weiter blieben sie keuchend stehen.

»Haben wir sie abgehängt?«, brachte ihr Bruder hervor.

»Habt ihr nicht«, erklang eine Stimme in akzentfreiem Englisch. »P…«

»Contego!«

Blitzschnell erschien eine wabernde Sphäre direkt in der Luft. Ally war selbst überrascht, hatte einfach nach dem nächstbesten Gedanken gegriffen, der sich ihr bot.

»Du willst tatsächlich eine Abgesandte des Rates angreifen? Ich werde dich direkt in die La Maison de Conseil bringen.«

Ally registrierte den funklenden Stein vor der Brust der Frau, der einen Teil der Worte übersetze, jedoch nicht alle. Auch der Holzstab in ihrer Hand strahlte etwas aus, das Ally nicht beschreiben konnte. Es war fremd und doch vertraut.

»Wir sind Besucher«, erklärte Harry. »Und wir besitzen nichts. Es war Not, die uns …«

»Erspart mir das Lamento«, unterbrach die Rothaarige. »Ich habe alles schon einmal gehört. Seid ihr Teil der Goules de la Magie?«

Verwirrt schüttelte Ally den Kopf, hielt dem Blick der Fremden jedoch stand. »Wir wissen nicht, was das ist.«

»Du bist eine magicienne, sicher leidest du keinen Hunger.«

»Ich kann das alles erst seit Kurzem und es hat mir niemand erklärt. Es gibt nur diese Worte in meinem Kopf. Es tut mir leid, wenn wir eine Regel verletzt haben.«

»Nouvelle magicienne«, hauchte die Fremde. »Das Erbe ist in dir erwacht, wieso wurdest du nicht gesucht?« Sie ließ ihren Stab sinken. »Aber selbst als Ordinäre musst du doch wissen, dass Marktstände Magiedetektoren besitzen, um vor Diebstahl oder leerem Bernstein zu schützen.«

»Wir sind ländlich aufgewachsen«, erklärte Harry.

»Du bist kein magicien?«

Harry schüttelte den Kopf.

»Er ist mein Bruder«, sagte Ally. »Vielleicht kommt es bei ihm später?«

Die Rothaarige lachte auf. »Du weißt wirklich nichts, ma petit magicienne. Die Ehre wird nicht durch Familienblut bestimmt. Wir sind nicht wie die degenerierten Blaublüter, die sich für Könige halten und ständig Dummheiten begehen. Die hohe Macht sucht sich die Würdigen. Doch als Bruder der magicienne hast auch du einen besonderen Stand. Ich bin Rousele Dubois.«

»Erfreut«, sagte Ally.

Harry nickte schweigend.

»Ihr seid also ländlich aufgewachsen?«, spürte Rousele nach. »Aber nicht hier in Frankreich.«

Hatten Frankreich und England in dieser Zeit problematische Beziehungen? Ally erinnerte sich dunkel daran, dass sie das fast immer gehabt hatten.

»Wir wurden hier geboren«, sprang Harry schnell ein. »Aber nach dem Tod unserer Mutter nahm unser Vater uns mit nach England. Wir wollten zurück und sind gerade angekommen.«

Auf diese Art machten sie sich zu gebürtigen Franzosen, ihre Geschichte war nicht prüfbar. Sie wollte ihren Bruder herzen.

»Die richtige Entscheidung, das ist sicher.« Rousele schob ihren Essenzstab in eine Schlaufe am Kleid. »Ich werde darüber hinwegsehen, dass du das Gesetz gebrochen hast.«

»Das ist sehr freundlich, danke.«

Rousele lächelte. »Danke mir nicht zu schnell, ma petite magicienne. Ich nehme dich mit ins La Maison du Conseil.«

»Das Haus des Rates?«

»Jemand muss dich mit deiner Macht vertraut machen, sonst kann das böse Folgen haben«, erklärte Rousele. »Du scheinst nicht einmal etwas über Bernsteinkörner zu wissen. Womit wolltet ihr hier bezahlen?«

»Gold«, schlug Harry vor.

Rousele brach in schallendes Gelächter aus. »Ihr seid drollig. Was sollte ein Verkäufer mit den wertlosen Klumpen anfangen?«

Ally verstand immer weniger, was hier vor sich ging. Die Geschichte ähnelte in keiner Form jener in den Büchern. War das hier vielleicht ein separierter Teil von Frankreich, der erst später durch einen Krieg die Regeln des Rests übernommen hatte? Oftmals schrieben die Sieger die Geschichte um.

»Wir kommen gerne mit«, sagte Ally.

»Ma petit magicienne, du hast keine Wahl.« Rousele zwinkerte.

Sie war auf seltsame Art freundlich, aber auch aufdringlich. Forsch, doch liebenswert. Wie eine Kanonenkugel, auf die jemand ein Lächeln gemalt hatte.

Die französische Magierin führte sie durch die Straßen und Gassen von Paris, vorbei an der Seine und über Brücken. Die Geschäfte wandelten sich, ebenso die Häuser. Der Müll verschwand von den Straßen, und eine gute Stunde später schritten sie über Gehsteige, die mit weißem Gestein ausgekleidet waren.

»Hier ist es so sauber«, flüsterte Ally.

»Natürlich, wir sind doch keine der Ordinären«, stellte Rousele klar. »Unsere Magier achten auf Reinheit.«

»Aber wieso nicht für die ganze Stadt?«, fragte Harry.

»Das würde unseren Wert schmälern«, erklärte Rousele, wenn auch nicht so offen wie Ally gegenüber. »Die Währung dieser Stadt ist – wie überall auf der Welt – Bernstein. Wir Magier befüllen ihn mit Essenz, damit auch die Ordinären Magie wirken können. Bieten wir unser Können aber frei an, würde doch niemand mehr Bernsteine benötigen.«

Magie war also etwas Kostbares, das irgendwie mit Bernsteinen auch an Nichtmagier gegeben werden konnte.

»Wieso reinigen die ›Ordinären‹ dann nicht ihre Straßen damit?«, fragte Harry.

»Wenn ich dir Magie übergebe, genug für einen Zauber, vielleicht zwei: Würdest du sie dafür benutzen, die Straßen zu säubern?«

Harry dachte kurz nach, schüttelte aber verstehend den Kopf. »Auf keinen Fall.«

Ally begriff, dass sie plötzlich zu einem privilegierten Kreis gehörte. Ihr Können war kostbar.

Sie wollte mehr erfahren.

Schweigend ging Harry neben ihr her.

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