Читать книгу Das Erbe der Macht - Die Chronik der Archivarin 2: Auf der Suche nach H. G. Wells - Andreas Suchanek - Страница 7

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Harry brüllte noch immer, als die Apparatur bereits herunterfuhr. Die Zahnräder drehten sich langsamer, das Leuchten der Kristalle erlosch.

»Was war das?!« Er sprang aus der Apparatur, sah sich verwirrt um. »Das ist nicht mehr der Keller unter der Kirche!«

Ally stieg ebenfalls aus. Nein, das hier war unebenes Gestein und es stank. Eine Kirche war es sicher nicht. Der Schlitten hatte sie an einen gänzlich fremden Ort getragen.

»Woher wusstest du es?«, fragte Harry.

»Es war Zufall …«

»Hör auf zu lügen. Wir wären gestorben, wenn das Ding uns nicht gerettet hätte. Wie ist das möglich?«

Sie wollte Harry am Kragen packen und ordentlich durchschütteln. Natürlich hätte das sein Hemd zerknittert, die ohnehin schäbige Weste möglicherweise eingerissen und damit Aufmerksamkeit auf sie gezogen.

»Es war wohl ein hysterischer Anfall.«

»Das ist nicht der richtige Augenblick für Witze«, sagte er. »Vielleicht sind wir direkt in Berlin gelandet.«

Die Realität vertrieb jede Art von Neugier.

Sie mussten herausfinden, wo sie waren. Glücklicherweise war der Stollen eindeutig abgelegen. Falls er zu einem größeren Keller oder etwas Gleichartigem gehörte, dann war es kein Problem.

Trotzdem gab sie dem inneren Drang erneut nach, malte ein Zeichen in die Luft und sagte: »Generate Mirage.«

Noch während die Apparatur das Aussehen eines gewaltigen Steinbrockens annahm, sprang Harry zurück. »Was war das?! Die Luft, sie hat gebrannt. Und die Apparatur!«

»Du … hast es gesehen?«

»Wie kann man so was nicht sehen?!«

»Genau das frage ich mich seit Jahren!«, rief Ally. »Ständig hast du gesagt, ich wäre hysterisch.«

Nun wirkte Harry traurig. »Aber das war doch nicht ich.«

Es stimmte, ihre Eltern hatten es gesagt. Harry, nur zwei Jahre älter als sie, hatte es aufgegriffen mit seinen acht Jahren.

»Deshalb haben sie uns nicht getroffen«, realisierte er. »Die Kugeln der Nazis. Aber wieso kann ich es jetzt sehen?«

Ally zuckte nur mit den Schultern. Etwas hatte sich verändert. Nicht nur lagen wieder mehr magische Worte offen in ihrem Geist bereit, die Zauber gingen auch leichter von der Hand. Als würde ein Druck von ihr abfallen. Sie fühlte sich befreit.

»Weißt du, was für eine Apparatur es ist?«, fragte Harry.

Sie schüttelte den Kopf. »Aber ich konnte sie spüren. Als hätte sie mich gerufen.«

Die Skepsis stand Harry ins Gesicht geschrieben, doch er war gerade Zeuge davon geworden, wie real sich ›Hysterie‹ auswirken konnte.

»Wenn wir uns also umschauen und angegriffen werden, kannst du etwas tun?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Ally. »Seit zwanzig Jahren habe ich nicht mehr daran gedacht. Erst als dieses Wispern erklang, das Rufen der Apparatur, hat sich mein S… das Wabern in mir gemeldet. Ich kann es nicht erklären.«

»Dann müssen wir es wohl darauf ankommen lassen.« Harry ging in die Knie.

Mit den Fingern wollte er den Stein betasten, zu dem die Apparatur geworden war. Doch sein Arm versank im Nichts. Es war nur ein Trugbild.

»Also, wenn uns jemand sieht, machst du das einfach noch mal. Dann denken alle, wir sind Steine.« Er lächelte.

Zum ersten Mal seit Langem wirkte er nicht ängstlich. Das löste auch den Knoten in ihrer Brust. Die erfolgreiche Flucht war Hoffnung.

Sie gingen ein paar Schritte.

Und blieben stehen.

Bisher war die Umgebung hell erleuchtet gewesen, doch das war von der Apparatur gekommen. Direkt vor ihnen endete der Lichtkreis. Dahinter lauerte Schwärze.

Erwartungsvoll blickte Harry zu ihr herüber.

Und tatsächlich, da war etwas. Ally fragte sich, woher die Worte kamen, das Wissen darum, wie die Symbole gezeichnet werden sollten. »Fiat Lux.«

Eine farbige Leuchtsphäre schwebte in die Höhe und verströmte Licht.

»Vielleicht liegt es in der Familie«, hauchte Harry mit großen Augen und Hoffnung in der Stimme.

Ally lächelte. »Vielleicht.«

Sie schritten durch den Gang, über staubigen Boden und vorbei an Wänden, die aus dem Stein gehauen worden waren. Sie hatte noch nie zuvor von einem solchen Ort gehört, er musste riesig sein. Selbst nach einer gefühlten Ewigkeit begegneten sie keinem Menschen. Es gab enge Durchgänge, schmale Schächte und breite Passagen. Immer wieder mussten sie auf Händen und Füßen entlangrobben, die Luft anhalten und den Bauch einziehen, um sich durch Spalten zu quetschten.

Irgendwann stieg der Boden leicht an.

Längst war Harrys Gesicht von einem dünnen Schweißfilm bedeckt, Staub hatte sich wie eine zweite Haut auf jede freie Stelle seines Körpers gelegt. Vermutlich machte Ally keinen besseren Eindruck. Ihr hüftlanges schwarzes Haar fühlte sich schwer an, die stickige Luft raubte ihr den Atem.

Nicht nur das, auch in ihrem Inneren geschah etwas.

Je länger das Licht leuchtete, desto weniger wurde die Magie in ihr. Das Sigil bewegte sich stärker, erschuf frische Kraft. Noch gab es genug, aber für wie lange?

Irgendwann mischte sich ein anderer Geruch unter den von Staub und Dreck. Ally wurde übel, Harry kreidebleich.

Sie sagten kein Wort, jeder begriff die Bedeutung. Hier hatte der Tod zugeschlagen. Verwesung lag in der Luft. Es war also kein Ort der Rettung.

Kurz darauf stießen sie auf die ersten Totenschädel. Eine ganze Wand war angefüllt mit Fächern, in denen die bleichen Knochen verwahrt lagen.

»Aber die sind schon lange hier«, stellte Harry klar.

Der Geruch musste von etwas anderem kommen.

Entgegen jedem Instinkt folgten sie ihm. Und stießen auf weitere Totenschädel. Hier unten waren Menschen begraben worden. Der Gedanke, irgendwo in Deutschland gelandet zu sein, drängte Ally sich auf. Was würden sie mit ihnen beiden machen, wenn sie dort auftauchten?

Von Kopf bis Fuß in englischer Kleidung steckend. Sie würden sofort erkennen, dass sie keine Deutschen waren. Dann folgte eine Verhaftung, eine Untersuchung. Die unausweichliche Entlarvung.

»Halte dich bereit«, flüsterte Harry.

Die Angst war wieder da.

In der Ferne zeichnete sich Tageslicht ab, endlich traten sie hinaus ins Freie. Ally ließ die Lichtkugel erlöschen.

Es war nicht Deutschland.

Leider blieb der Gestank auch über der Erde bestehen. Etwas Ähnliches hatte Ally noch nie gerochen. Als hatte jemand den Müll der Welt überall verteilt.

»Sind das … Kutschen.« Harry deutete auf eine nahe Straße.

Und tatsächlich.

Menschen schritten zügig aus, Kutschen ratterten vorbei, Unrat lag überall.

Ally hatte nur Augen für die weiten Röcke der Frauen, die Sonnenschirme und Droschken. All das wirkte wie einer längst vergangenen Zeit entsprungen.

Sie musste nur eines der Gesichter betrachten, um zu erkennen, in welchem Land sie sich befanden. »Das ist Frankreich.«

Paris konnte es nicht sein, denn der Eiffelturm hätte alles überragt. Aber wo waren sie dann?

Und noch etwas fiel ihr auf.

Es gab keine deutschen Flaggen.

»Stand in der Zeitung nicht, dass die Deutschen Frankreich schon lange eingenommen haben?«, fragte ihr Bruder leise. »In Paris wehen an jeder Ecke Hakenkreuzfahnen.«

»Vielleicht ist das hier eine Stadt der Résistance?«

Nun bedachte sie Harry wieder mit dem Hysterie-Blick. »Eine gesamte Stadt? Wie soll das denn gehen?« Er schaute zurück auf die Menschen. »Wir fallen schon auf.«

»Du liebst die Geschichte doch so sehr?«, sagte Ally. »Sag du es mir.«

»Ich habe keine Ahnung«, flüsterte Harry.

Hälse wurden gereckt, Finger gezeigt.

»Mach es noch mal«, bat ihr Bruder. »Deinen Trick mit diesem Trugbild. Aber verpasse uns dieses Mal bessere Kleidung damit.«

Ally malte erneut Symbole in die Luft, kurz darauf schimmerte sauberer Stoff mit französischem Einschlag auf ihren Körpern.

Sie betraten die Stadt, ließen sich von der Menge treiben.

Nach einigen Minuten trafen sie auf einen Jungen, der Zeitungen schwenkte. Ein gut gekleideter Herr bezahlte eine davon und eilte weiter. Nach kurzem Blick auf die Titelseite warf er das Blatt jedoch kopfschüttelnd beiseite.

Ally rannte zu der Stelle und hob sie auf.

Sie konnte Französisch, doch was sie interessierte, hätte sie in jeder Sprache erkannt. Am rechten oberen Rand standen der Ort und die Zeit.

Harry trat neben sie. »Was ist?«

»Wir sind in Paris«, hauchte sie.

»Das kann nicht sein. Wo ist der Eiffelturm?«

Ally ließ das Papier sinken. »Noch nicht gebaut. Die Apparatur hat uns nicht nur an einen anderen Ort getragen.«

»Wie meinst du das?«

»Schau auf das Datum. 1744. Wir sind über zweihundert Jahre in die Vergangenheit gereist.«

Ally schaute auf all die Männer und Frauen.

Sie wussten nichts von Krieg und Verderben, lebten einen uralten Frieden, der längst gestorben war.

»Zweihundert Jahre«, hauchte sie.

Das Erbe der Macht - Die Chronik der Archivarin 2: Auf der Suche nach H. G. Wells

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