Читать книгу Young Agents New Generation - Andreas Schluter - Страница 6
SCHON WIEDER EIN EINBRUCH
ОглавлениеPst! Wegducken! Nicht bewegen! Für einen Moment den Atem anhalten!
Langsam schreitet der Polizist an uns vorbei.
Keine Gefahr mehr. Er sieht uns nicht. Das würde er vermutlich nicht einmal, wenn er direkt zu uns blicken würde. Aber auch das tut er nicht, denn dazu müsste er hochschauen.
Billy und ich sitzen vier Meter über der Straße hoch oben im dichten Geäst einer Kastanie. Wir tragen schwarze Overalls, die das Licht der Straßenlaterne eher verschlucken, statt es zu reflektieren. Billy hat sich zudem noch sein Gesicht mit schwarzbrauner Tarnfarbe eingeschmiert. Ich habe darauf verzichtet. Meine Haut ist dunkel genug, die leuchtet nachts im Lampenlicht nicht wie Billys bleiches Gesicht.
Durch mein Nachtsichtgerät habe ich das Haus im Blick. Es ist wie befürchtet gut abgeschirmt und bewacht. Vor der Toreinfahrt steht ein »Bully« von der Polizei. Darin sitzt ein Beamter und trinkt ein Heißgetränk aus seiner Thermoskanne und isst eine »Stulle« dazu. Trotz meiner großen Anspannung muss ich kurz über die Begriffe schmunzeln. Billy hat sie mir beigebracht. Ich bin noch nicht sehr lange in Deutschland, erst eineinhalb Jahre. Ich kam zufällig zu Billy in die Klasse und hab mich schnell mit ihm angefreundet, obwohl er mir von Beginn an etwas seltsam vorkam. Bis ich herausbekam, dass er ein echter junger Agent ist: ein YOUNG AGENTS. Ein Dreivierteljahr später gehörte ich auch dazu. Nicht nur dadurch habe ich sehr schnell Deutsch gelernt, sondern auch durch meine Eltern, die hier in Hamburg im ghanaischen Konsulat tätig sind. Früher waren sie selbst einmal Agenten, weshalb sie damit einverstanden waren, dass ich ebenfalls eine Agentin wurde. Aber diese lustigen Begriffe »Bully« für einen VW-Bus und »Stulle« für ein Butterbrot kannten sie auch nicht.
»Da rührt sich etwas.« Billy tippt mich an.
Ich schaue weiter durch mein Nachtsichtgerät und sehe einen Polizeibeamten mit einer Taschenlampe seinen Rundgang durch den Garten ums Haus machen.
»22:15 Uhr. Pünktlich wie jeden Abend macht er seine Runde. Um 22:20 Uhr wird er seinen Kollegen im Bus ablösen«, fasst Billy unsere Beobachtungen der vergangenen drei Tage zusammen. So lange haben wir das Haus bereits im Blick. Natürlich im Schichtdienst: Naomi und Balu, Charles und Tim, Billy und ich, Abena.
Sechs YOUNG AGENTS sind wir. Gemeinsam haben wir unseren letzten Fall gelöst, und auch jetzt sind wir alle sechs wieder zu diesem Fall zusammengerufen worden. Deshalb ist Naomi noch nicht nach Hause, nach Paris, und Charles nicht zurück nach London gefahren. Die beiden wohnen hier in Hamburg zusammen in einer Agentenwohnung, gemeinsam mit Balu, der vor Kurzem aus Mumbai, Indien, nach Deutschland gekommen ist. Ebenso wie Tim aus München.
Tim, Balu und ich gehören zu den drei sogenannten neuen YOUNG AGENTS. Wir sind die New Generation, sozusagen.
Im Augenblick sind wir alle sechs im Einsatz. Denn die Auswertung unserer Observationen hat ergeben, dass jetzt der günstigste Zeitpunkt für unser Vorhaben ist.
Billy und ich hocken in der Kastanie.
Naomi sitzt in der Drohne, die aber noch am Boden steht.
Charles wird gleich sein Ablenkungsmanöver starten.
Tim drückt sich gegen die Hauswand unseres Zielobjekts und ist einstiegsbereit.
Und Balu sitzt wie immer in der Agentenwohnung am Computer und koordiniert uns alle über sein Netzwerk.
»Da!« Wieder tippt Billy mich an. »Tim gibt uns ein Zeichen.«
In dem Haus, das wir observieren, wohnt Horst Kämmerer, zuständiger Strafrichter beim Hamburger Landgericht für den kurz vor dem Abschluss stehenden Prozess gegen die beiden Mafia-Gangster Thorsten Maffei und den »Boss«, die beide maßgeblich durch unsere Arbeit vor Gericht stehen. Es steht außer Frage, dass beide aufgrund der Vielzahl und der Schwere ihrer Verbrechen mehrfach lebenslänglich bekommen werden.
Eigentlich.
Es sei denn, den beiden fällt auf die letzte Minute noch eine Möglichkeit ein, ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen.
Der Geheimdienst glaubt, dass sie tatsächlich so ein Schlupfloch gefunden haben. Denn seit drei Tagen ist Sophie, die achtjährige Tochter des Richters, verschwunden!
Der Richter und seine Ehefrau behaupten, Sophie wäre mit ihren Großeltern aus Bayern zusammen verreist. Wandertour in den Bergen, derzeit unerreichbar.
Aber es sind gar keine Ferien!
Der Verdacht liegt nahe, dass das Mädchen entführt wurde und der Richter nun erpresst wird. Wenn seiner Tochter nichts zustoßen soll, muss er die beiden Gangster freisprechen. Natürlich darf der Richter niemandem etwas von der Entführung erzählen. Denn dann würde er abgesetzt und ausgetauscht werden, könnte niemanden freisprechen, und seiner Tochter würde etwas Schlimmes angetan.
Also hat der Prof uns losgeschickt, um herauszubekommen, wo die Tochter ist. Das heißt zunächst mal, ob sie wirklich entführt wurde. Solange diese Möglichkeit besteht, kann man den Richter nicht austauschen. Denn damit würde man vielleicht das Leben des Mädchens gefährden.
Jetzt sollen wir heimlich ins Haus einsteigen, nach Indizien suchen und auch Wanzen anbringen, um den Richter abzuhören. Leicht wird das nicht, denn das Grundstück steht aufgrund der Wichtigkeit des Prozesses durchgängig unter Polizeischutz.
Tim ist mit seinen 131,5 Zentimeter Körpergröße nur einen Zentimeter zu groß, um offiziell als »kleinwüchsig« zu gelten. Das brachte ihm bei unserem letzten Fall aber den Vorteil, sich schnell in eine neue Einbruchsbande einschleusen zu können. Denn Tim kommt durch nahezu jedes Kellerfenster, gekippte Fenster, Türspalten und so weiter.
Auch jetzt müssen wir wieder einbrechen, um Informationen und Indizien über den Verbleib des Mädchens zu bekommen.
Tim ist vorausgegangen, um die Lage zu sondieren, hat sich hinten durch ein Loch im Gartenzaun geschlichen und vor wenigen Augenblicken die Hausfassade erreicht.
»Viel Glück!«, flüstert er mir über das Netzwerk zu, dann gibt er das allgemeine Startzeichen: »Die Luft ist rein. Es geht los!«
Noch einmal vergewissere ich mich: Ein Polizist sitzt im Bully, einer steht vor dem Tor, einer hat seinen Rundgang beendet und wacht vor der Haustür. Ein vierter, der eben noch an unserer Kastanie vorbeigegangen ist, verweilt noch einen Augenblick bei seinem Kollegen am Tor, bevor er in zwanzig Minuten erneut einen Rundgang außen ums Gelände herum machen wird. So lange habe ich Zeit, zu Tim am Haus zu kommen.
Ich klettere leise die Kastanie hinunter. Unten werde ich links am Grundstück entlanglaufen bis zum hinteren Zaun. Zur rechten Seite, auf der Höhe des übernächsten Nachbarn, wird sich jetzt Charles platziert haben. Und da höre ich es auch schon: Hundegebell. Das ist Charles, der das Kläffen eines großen Wachhundes über einen Bluetooth-Lautsprecher per Smartphone abspielt. Eine Minute genügt, um sämtliche Hunde in der Nachbarschaft zu einem ohrenbetäubenden Nachtkonzert einzuladen. Als Erstes stimmt der Hund des übernächsten Nachbarn in das Gekläffe ein. Wie von uns gewollt. Es ist natürlich kein Zufall, dass Charles sich genau diesen Standort ausgesucht hat.
Ein kleiner Pinscher von schräg gegenüber gibt sein Bestes, um mit den großen Hunden mitzuhalten. Und noch zwei weitere Hunde stimmen nun mit ein. Vier Hunde gibt es in der Straße, alle leben, von uns aus gesehen, rechts vom Richterhaus. Ein Zufall, den wir uns zunutze machen. Denn die Aufmerksamkeit aller, die jetzt noch wach sind oder nun gerade geweckt wurden, konzentriert sich auf die rechte Seite vom Richterhaus, während ich links am Grundstück entlanglaufe, durch das Loch im Zaun schlüpfe und bei Tim ankomme.
Der nickt mir wortlos zu. Aus seinem Rucksack hat er schon seine Harpune gezogen. Sie sieht nicht ganz so aus, wie man sie von Tauchern kennt, funktioniert aber nach dem gleichen Prinzip. Außerdem ist sie deutlich kürzer und schießt auch keinen Speer ab, sondern ein langes, äußerst festes Seil mit einem kleinen Wurfhaken vornedran, der sich oben im Balkongitter mit einem leisen Klirren festhakt.
Das Geräusch geht locker im Hundegebell unter. Tim prüft die Festigkeit des Seils, indem er mehrmals daran zieht.
Wieder nickt er mir zu. Ich muss zweimal hingucken, um das zu erkennen. Denn wir stehen im Schatten des Laternenscheins, und Tim hat sich, ebenso wie Billy, das helle Gesicht mit Tarnfarbe geschminkt. In unseren schwarzen Overalls und den schwarzen Handschuhen sind wir in dieser dunklen Ecke so gut wie unsichtbar. Tim geht voran und klettert am Seil die Fassade hinauf bis zum Balkon. Ich folge ihm dicht auf den Fersen. Vom Balkon geht Sophies Zimmer ab, das wir durchsuchen wollen.
Die Balkontür ist verschlossen. Doch das ist für uns kein Problem. Ich überlasse es Tim, sie zu öffnen, obwohl ich es auch gekonnt hätte. Aber Tim hat bei unserem letzten Einsatz viele praktische Erfahrungen im Einbrechen sammeln können, die uns jetzt sehr nützlich sind.
Ohne Probleme hebelt er die Tür auf.
Ich gebe mit einer Rotlichttaschenlampe das vereinbarte Signal an Billy, dass wir drinnen sind. Der beobachtet uns zwar aus der Kastanie heraus mit dem Nachtsichtgerät, aber das Haus steht schräg, sodass er nur halbwegs Einblick auf unseren Balkon hat. Natürlich könnte ich unseren aktuellen Status auch übers Netzwerk per Headset an alle durchgeben, aber Tim und ich wollen möglichst nicht sprechen, solange wir so nah am oder im Haus sind.
Tim und ich steigen also ins Zimmer ein, schließen die Balkontür hinter uns, damit sie von außen betrachtet nicht auffällt. Auch hier drinnen wollen wir kein Licht anmachen, nicht einmal mit Taschenlampen. Deshalb durchsuchen Tim und ich das Zimmer mit unseren Nachtsichtgeräten. Vor uns liegt ein – fast – normales Mädchenzimmer einer Achtjährigen. Nur fast »normal«, denn man erkennt auf den ersten Blick, dass ihre Eltern viel Geld verdienen. In diesem Zimmer fehlt es an nichts, was ein achtjähriges Mädchen sich wünschen kann. Alles ist von bester, teurer Markenqualität. Nichts von diesem Billig-Plastikspielzeug, das man aus den Discountern oder Supermärkten kennt.
Außer einer Puppe, die auf dem Kinderbett liegt.
Da hätte ich eine teurere erwartet, vielleicht sogar ein Sammlerstück. Aber es scheint eine normale Kaufhauspuppe zu sein, wie man sie zu Tausenden kennt. Und dennoch, irgendetwas stört mich an dem Ding. Keine Ahnung, was es ist. Liegt es einfach daran, dass ihr Blick zufällig direkt auf mich gerichtet ist und ich mich dadurch beobachtet fühle? Das ist doch albern, mich durch eine Puppe observiert zu fühlen.
Tim bemerkt, wie sehr ich die Puppe anstarre, die er bis eben wohl noch gar nicht entdeckt hatte. Als er sie jetzt allerdings sieht, erschrickt er zunächst und legt den Zeigefinger auf seinen Mund. Dabei hatten wir uns ja ohnehin schon verständigt, nicht zu sprechen. Dann nimmt er die Puppe, untersucht sie, schaut sich um und entdeckt offenbar, wonach er gesucht hat. Sophies Smartphone!
In unserer Schulklasse sind die meisten zwölf oder 13 Jahre alt. Ein Drittel hat noch kein eigenes Handy. Von denen, die eines haben, besitzen wiederum nur die wenigsten ein teures iPhone. Aber hier liegt neben dem Bett eines achtjährigen Mädchens das neueste Modell, das bestimmt nicht unter achthundert Euro zu bekommen ist. Für mich ist klar: Wenn Sophie wirklich mit ihren Großeltern im Urlaub wäre, wie ihr Vater behauptet, dann hätte sie das iPhone ganz gewiss nicht hier liegen gelassen. Wenn man so etwas besitzt, lässt man es doch nicht aus den Augen! Und das heißt: Wenn sie entführt wurde – und das steht für mich eigentlich fest –, dann nicht von unterwegs, sondern direkt aus diesem Haus heraus. Bestenfalls aus dem Garten, doch ich denke eher, direkt aus diesem Zimmer. Das iPhone ist für mich ein klares Indiz dafür.
Aber: Welchen Zusammenhang sieht Tim zwischen Handy und Puppe? Er zeigt mir an, dass ich sämtliche darauf gespeicherten Fotos, Chatverläufe, Kontaktlisten und Playlists auf mein Smartphone übertragen soll. Besonders eine App, die er mir zeigt. Ich habe noch nie von dieser Anwendung gehört und auch keine Ahnung, welchem Zweck sie dient, mache aber, was er mir sagt. Danach lege ich das iPhone exakt wieder so hin, wie es gelegen hat, und Tim legt ebenso sorgfältig die Puppe auf ihren Platz zurück.
Anschließend schauen wir beide uns weiter um. Auch die Möbel machen einen teuren Eindruck. Ein Schreibtisch mit einem eigenen MacBook, die teuerste Computermarke überhaupt. Dieses Modell ist erst seit einem halben Jahr auf dem Markt. Ich kenne mich mit solchen Sachen ganz gut aus. Meine Eltern arbeiten im diplomatischen Dienst. Deshalb gehören auch wir ganz gewiss nicht zum ärmeren Teil der Bevölkerung – weder hier in Deutschland noch in Ghana. Bei Tim sieht die Sache schon anders aus. Er ist in armen Verhältnissen und im Heim aufgewachsen. Selbst durchs Nachtsichtgerät meine ich zu erkennen, wie sehr er darüber staunt, dass es Kinderzimmer wie dieses überhaupt gibt.
Eigentlich genügt mir das schon an Indizien. Doch wir durchsuchen den Raum weiter.
Teure Kopfhörer liegen da noch. Und Sportschuhe neben dem Bett. Aber keine Hausschuhe oder so etwas. Für mich ein weiteres Zeichen, dass Sophie direkt aus diesem Haus entführt wurde. Ich öffne den zweitürigen Kleiderschrank und entdecke nach und nach alles, was man zum Wandern beziehungsweise in einen Urlaub in den Bergen mitnehmen würde: eine regenfeste Jacke, Wanderstiefel, sportliche Pullover, Sonnenbrille, ein Baseballcap, Handschuhe. Und sogar einen Rucksack. Auf dem Schreibtisch liegt eine Digicam. iPhone und Fotoapparat hiergelassen? Keine Fotos im Urlaub mit Oma und Opa?
Tim drückt die Leertaste auf dem Apple-Laptop. Es erscheint die Seite eines Schreibprogramms. Offenbar war Sophie gerade dabei, für den Unterricht so etwas wie eine Buchvorstellung vorzubereiten. Auf der Seite ist ein Buchcover abgebildet, ein Foto der Autorin, ein weiteres von Sophie mit dem Buch in der Hand und eine Überschrift: der Titel des Buches, darunter das mittendrin abgebrochene Wort »Portfo«. Portfolio sollte das wohl mal werden. Doch dazu kam Sophie nicht mehr. Mitten in den Hausaufgaben hat sie jemand von hier fortgezerrt.
Der Papierkorb ist umgekippt, einige Utensilien vom Schreibtisch liegen auf dem Boden verstreut. Ansonsten wirkt das Zimmer recht ordentlich. Die Entführung ging vermutlich also schnell und schmerzlos. Die Eltern haben hier drinnen seitdem offenkundig nichts mehr angerührt.
Tim und ich nicken uns zu.
Wir haben genug gesehen und wissen Bescheid: Sophie ist entführt worden. Kein Zweifel. Anhand der Sicherungsspeicherung des Schreibprogramms wissen wir sogar exakt, wann: am vergangenen Montag, also vor vier Tagen, um 17:52 Uhr. Tim fotografiert die Seite des Schreibprogramms ab. Wir sehen uns noch einmal um. Haben wir etwas vergessen?
Nein, wir haben alles.
Wir können wieder gehen.
Bis auf eine Frage, die noch bleibt. Wann die Entführer hier waren, glauben wir zu wissen. Aber über welchen Weg haben sie mit der kleinen Sophie im Schlepptau das Haus verlassen? Auch über den Balkon? Vermutlich wurde das Mädchen betäubt, um es dann problemlos über den Balkon hinuntertransportieren zu können. Sollten von diesem Überfall oder gar vom Betäubungsmittel Spuren hinterlassen worden sein, dürfte der Richter diese längst gefunden haben. Trotzdem schaue ich mich noch mal genauestens um, finde aber nichts dergleichen.
Nun können wir wirklich wieder hinaus.
Ich will schon zur Balkontür gehen, da tippt Tim mich an und hält mir etwas vors Gesicht.
Verdammt! Natürlich! Wir müssen noch ein paar Abhörwanzen anbringen.