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Achtsamkeit
ОглавлениеKaum ein Wissenschaftszweig hat in den letzten Jahren so viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen wie die Neurowissenschaften. In weiten Teilen sind die altehrwürdigen Geisteswissenschaften zugunsten der neueren Kognitionswissenschaften in den Hintergrund getreten. Während die Erforschung des Ich früher ganz klar auf dem Hoheitsgebiet der Philosophie stattfand, sind die Zuständigkeiten inzwischen neu verteilt.
Ich möchte aus der Vielzahl der Veröffentlichungen, die in diesem Zusammenhang von Interesse wären, nur einen Text – oder genauer: nur einen Begriff auswählen, jenen der Achtsamkeit. Der Neurobiologe und Psychologe Daniel J. Siegel stellt ihn in seinem Buch Das achtsame Gehirn in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Achtsamkeit, das ist auf der einen Seite Gewahr- oder Gegenwärtigsein, die Lenkung der Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt, eine Art der bewussten Steuerung unserer Wahrnehmung. Auf der anderen Seite klingt in dem Begriff auch die Achtung (vor den anderen) an. Wer »Achtung!« sagt, kann damit sowohl alarmieren, man solle nun aufpassen, als auch ausdrücken, er empfinde Respekt gegenüber jemandem.
Der Held kennt seine Aufgaben
Genau diese Doppelbedeutung ist auch für die Heldenreise von essenzieller Bedeutung. Ich beginne mit der zweiten Bedeutung: Achtung vor anderen zu haben, ist genau das, was ich meine, wenn ich vom Ideal des demokratischen Helden spreche. Man könnte auch sagen, er ist ein achtender Held, während ältere Heroen oft verachtende Helden waren. Es ist kein Wunder, dass Siegel seine Wissenschaft Interpersonelle Neurobiologie nennt. Dort wie hier geht es nicht um das Fitmachen von verhärteten Einzelkämpfern für ihren Showdown gegen die ganze Welt, sondern um ein zukunftsstiftendes Heldentum, um einen Helden, der nicht von Feinden und Gegnern umzingelt ist, sondern Aufgaben sieht, die er zusammen mit anderen anpacken und bewältigen möchte. Und er wählt Arten und Weisen des Handelns, die keine Opfer hinterlassen. Er will keine Schandtaten begehen, sondern Gutes bewirken. Er will nicht von den Menschen getrennt, sondern mit ihnen sein.
Aufmerksamkeit im Alltag nutzt die Zeit
Nun zur ersten Bedeutung der Achtsamkeit als Fokussierung der Aufmerksamkeit. Wenn wir unser Leben gewissermaßen »einfach so« leben, unsere Alltagsroutinen immer weiter laufen lassen und auch alles andere »irgendwie« geschieht, dann verstreicht die Zeit formlos. Wenn wir aber bewusst und zielgerichtet unsere Aufmerksamkeit lenken, wenn wir achtsam gegenüber uns selbst sind, dann formen wir uns selbst, unser Erleben, unseren Alltag, unser ganzes Dasein. Wir lenken den Fluss der Zeit, wir sind den »Naturgewalten« dann nicht mehr wehrlos ausgeliefert, sondern bestimmen mehr und mehr selbst, wo und wie es langgeht. Achtsamkeit für sich selbst, für die eigenen Bedürfnisse genauso wie für die eigenen Fähigkeiten – das sind keineswegs irgendwelche »Luxusartikel«, die niemand wirklich braucht, vielmehr gelangen wir so zu uns selbst, an die Quellen unseres Menschseins: »Die Fähigkeit, seine eigenen Potenziale zu erkennen und zu entwickeln, ist das herausragende Merkmal des Menschen. Diese Selbstreflexionsfähigkeit braucht unsere Spezies überlebensnotwendig, um dem Chaos und der Starre gleichermaßen zu entgehen.« (Daniel J. Siegel, The Mindful Brain – das achtsame Gehirn. In: Hüther/Roth/von Brück, 2008, S. 38–55, hier S. 55)
Die Selbstreflexionsfähigkeit ist Voraussetzung für Achtsamkeit
Jeder Mensch hat diese Fähigkeit. Siegel verortet sie im »präfrontalen Kortex«, dem Bezirk des Gehirns direkt hinter der Stirn. Wie dem auch sei, genau diese Fähigkeit (bzw. dieses Hirnareal) lassen wir Menschen allzu oft verkümmern. Wir gehen nicht sorgsam mit den Potenzialen um, die uns mitgegeben wurden. Die Nachlässigkeiten schleichen sich ein, verstärken sich im Wechselspiel mit den »Notwendigkeiten«, die wir so gerne beschwören, um eine Ausrede zu haben, weil wir die Dinge nicht anpacken. Die Spirale beginnt abwärts zu drehen, erst leicht, dann immer heftiger und unaufhaltsamer. Das Ende ist die Verödung ehedem fruchtbaren Bodens, auf dem nun nichts, aber auch gar nichts mehr wächst.
Die Heldenreise ist Dünger für die Achtsamkeit. Tritt man sie an, dann lernt man, was man früher vielleicht besser gekonnt hat – man lernt wieder, auf sich selbst zu hören, das zu hören, was im Alltagslärm die Stimme verloren hat. Man lernt wieder zu sehen, was aus dem Blickfeld geraten ist. Man lernt wieder, sich auf die wirklich wichtigen Dinge zu fokussieren, statt im Ver- und Zerstreuten alles als gleich wichtig oder unwichtig wahrzunehmen, alles gleichgültig als gleich gültig zu werten.
Die Heldenreise ist ein Trainingslager für Achtsamkeit, aber auch in der anderen angesprochenen Hinsicht. Wer sich selbst achtet und auf sich selbst achtet, wird letzten Endes auch den oder die anderen achten. Wer heute, hier und jetzt, ein wirklicher Held ist, hat verstanden, dass der Weg zum Heroe nur über die Achtung der Mithelden führen kann. Insofern sind das Konzept Achtsamkeit und die Heldenreise Anleitungen, sowohl sich selbst als auch die anderen mehr zu schätzen, mehr Aufmerksamkeit in beide Richtungen zu investieren, die Sorge um sich und den Respekt gegenüber den anderen auf einem hohen Niveau auszutarieren.
Ob Sie sich nun sich selbst zuwenden oder nicht, ob Sie auf die Heldenreise gehen oder so weitermachen wie bisher: Auf einer Reise sind Sie sowieso – es stellt sich allenfalls die Frage, auf welcher. Man kann mit Autopilot fliegen oder das Steuer selbst in die Hand nehmen. Man kann die Reise, auf der man sich befindet, dafür nutzen, zu sich selbst zu finden, oder ziellos den Schlingerkurs der automatischen Steuerung über sich ergehen lassen. Mein Rat in dieser Angelegenheit: Nutzen Sie Ihren Flug. Spannen Sie die beiden Flügel der Achtsamkeit auf. Und gehen Sie nicht auf die erstbeste All-Inclusive-Bequemlichkeitsreise, sondern machen Sie den einzig wirklichen Abenteuerurlaub: die Heldenreise.