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I. „Er ist die Sonn’, sie ist der Mond“:
Zum Geschlechtermodell der bürgerlichen Gesellschaft 1. Was sind Frauen, was sind Männer?

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Überblick

Geschlecht ist keine natürliche, unveränderliche und zeitlose Kategorie, sondern ist wandelbar und immer vom historischen Kontext abhängig. Der Blick in die Frühe Neuzeit verdeutlicht, dass die Rollenzuweisungen und die Aufgabenteilung zwischen den Geschlechtern damals noch fluider waren, im 19. Jahrhundert dann jedoch immer deutlicher unterschieden wurden. Während sich Männer zunehmend mit ihrem Beruf identifizierten und den öffentlichen Raum dominierten, wurden Frauen auf die Rolle als Ehefrau und Mutter festgelegt und auf private Räume verwiesen. Frauen, die alternative Lebensentwürfe wählten oder wählen mussten, wurden gesellschaftlich diskriminiert. Die Geschlechterzuschreibung entschied dabei nicht nur über individuelle Lebens- und Berufschancen, denn die Geschlechterhierarchie kennzeichnete auch die gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen. Die Zwei-Geschlechter-Ordnung bildete ein Machtregime aus, das die Welt bis heute prägt und Männer begünstigt.

Geschlechterzuschreibungen gelten bis heute mehr oder weniger als naturgegeben. Die Forschungsergebnisse der Queer-Studies, die die Norm der Zweigeschlechtlichkeit und der Heterosexualität radikal infrage stellen, konnten sich bislang in der Öffentlichkeit kaum und in der Wissenschaft nur ansatzweise durchsetzen. Während Untersuchungen zum kulturell und sozial konstruierten Geschlecht inzwischen den innovativen Bereich der Körpergeschichte eröffnet haben, stößt die These von der Konstruiertheit des biologischen Geschlechts auf große Vorbehalte.

Stichwort

Queer-Studies

In den USA im Rahmen der Aids-Bewegung in den 1990er-Jahren entwickelter Forschungsansatz, der die Wissenschaft mit dem Vorwurf konfrontiert, die Heterosexualität nicht nur ungeprüft als Basis gesellschaftlicher Machtverhältnisse zu akzeptieren, sondern Geschlechter- und Sexualitätsfragen systematisch zu ignorieren. Während Geschlecht und Sexualität in der Frauen- und Geschlechterforschung inzwischen weitgehend als soziale Konstrukte anerkannt sind, wird die Heteronormativität und deren Bedeutung für Recht, Familie, Wohlfahrtsstaat und weitere gesellschaftliche Institutionen bislang nur ansatzweise erkannt (Sabine Hark, 2013). Queer-Studies untersuchen die Bedeutung sowie die Veränderbarkeit von biologischem (engl. sex) sowie kulturell und sozial festgelegtem Geschlecht (engl. gender). Geschlechtergrenzen, so die Ausgangsthese, sind veränderbar, unterliegen einem ständigen Aushandlungsprozess und werden von Einzelnen, Gruppen und Institutionen immer wieder neu festgelegt. Momentan werden die Untersuchungen auf Unterdrückungsmechanismen ausgeweitet, bei denen Rasse, Klasse, Nationalität, Religion und zunehmend auch Alter in unterschiedlichen Verbindungen in die Queer-Theorie miteinbezogen werden. Als die theoretisch bedeutsamste Leistung der Queer Studies bezeichnete Sabine Hark 2013, „die Heterosexualität analytisch als ein Machtregime rekonstruiert zu haben, dessen Aufgabe die Produktion und Regulierung einer Matrix von hegemonialen und minoritären sozio-sexuellen Subjektpositionen ist“.

Geschlechterzuschreibungen

Bis vor Kurzem wurde bei Neugeborenen in der Geburtsurkunde die Rubrik „männlich“ oder „weiblich“ angekreuzt, auch wenn aus ärztlicher Sicht eine eindeutige Zuordnung nicht vorzunehmen war. Seit 2013 konnten Eltern sich entscheiden, bei intergeschlechtlichen Neugeborenen im Geburtsregister keine Geschlechtszuordnung vorzunehmen. Eine dritte Rubrik fehlte in Deutschland bis Dezember 2018. Erst seitdem kann auch „divers“ eingetragen werden. Diese Neuerung ändert jedoch nichts daran, dass die Geschlechterzuschreibung weiter von der Heteronormativität geprägt bleibt. Wenn Menschen später weder durch Zwang noch mit gutem Zureden dazu bewegt werden können, die ihnen zugewiesenen Geschlechterrollen zu akzeptieren, dann müssen sie sich entweder damit abfinden, falsch zugeordnet zu sein, oder sie können versuchen, auf operativen und rechtlichen Wegen das Geschlecht zu wechseln. Wenn Gerichte zu prüfen haben, ob zum Beispiel die Umwandlung einer männlichen zu einer weiblichen Person gelungen und damit rechtens sei, dann werden nicht nur biologische und psychische Kennzeichen und Merkmale diskutiert, sondern dann stehen auch Verhaltensweisen, Zuständigkeiten und Fähigkeiten auf dem Prüfstand. Dabei stellt sich schnell heraus, dass „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ weder naturgegeben noch anthropologische Konstanten sind, sondern dass diese Geschlechterzuschreibungen immer wieder neu definiert werden und durchaus umstritten sein können. Bestens verfolgen kann man die Herstellung, Praktizierung und Infragestellung des gesellschaftlichen Konsenses über die Geschlechterzuschreibungen an den beiden Modellen „Hausmann“ und „weibliche Führungskraft“.

Der Versuch, eindeutige Geschlechterzuschreibungen vorzunehmen, kennzeichnete schon die Frühe Neuzeit. Als in den Dreißigerjahren des 16. Jahrhunderts eine Frau in Männerkleidern über Land zog und ihr Geld als Erntehelfer verdiente, war man in einem Schweizer Dorf mit ihrer Arbeit so zufrieden, dass man ihr eine Dorfschönheit zur Heirat anbot. Wohl um den Schwindel nicht auffliegen zu lassen, übernahm die Frau nun diese Rolle. Obwohl sie sich stilgerecht als trinkender und prügelnder Ehemann inszenierte, wurde sie dennoch als Frau enttarnt. Die Obrigkeit reagierte hart.

1537 wurde diese mutwillige Überschreitung der Geschlechtergrenzen mit dem entehrenden Tod durch Ertränken bestraft. Denn hier ging es nicht nur darum, dass eine Person sich heimlich eine andere Geschlechtsidentität zugelegt hatte und damit die Umwelt täuschte, sondern hier hatte sich eine Frau eine höhere gesellschaftliche Position erschlichen. Dieser Fall macht drastisch deutlich, dass den Geschlechterbeziehungen Machtverhältnisse inhärent sind, die das Grundgerüst der jeweiligen Gesellschaftsordnung bilden, wie Joan Scott in ihrem programmatischen Aufsatz „Gender: A Useful Category of Historical Analysis“ von 1986 aufgezeigt hat. Der den Frauen zugewiesene Platz in der Ehe und in der Familie macht nicht nur die dort herrschende Geschlechterhierarchie deutlich, sondern markiert auch eine wichtige Komponente sozialer Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft, die mit dem Geschlecht in untrennbarem Zusammenhang steht.

Frauenbewegung in Deutschland 1848-1933

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