Читать книгу Benjamin, mach keine Dummheiten, während ich tot bin - Angelika Waldis - Страница 14
Fünfter Brief
ОглавлениеLiebes Benjabenchen
Auf deiner Windelpackung steht das Wort »Natur«. Es steht auch auf der Butter, dem Waschpulver oder meinem Taschenkamm. Es steht fast auf jeder Zeitungsseite – ob es um Urlaub, Zeugungsschwäche, Wurstwaren oder Tiefbau geht. Die Natur ist in aller Munde. Das ist oft der Fall, bevor jemand zum Teufel gejagt wird. Kann sein, dass das Wort einmal so zerkaut ist, dass es niemand mehr verwenden mag.
Es gab einen gescheiten Mann vor rund zweihundert Jahren, Goethe hieß der Mann, der würde sich heute wahrscheinlich über den Wandel von »Natur« etwas wundern. Er schrieb über sie wie über ein hochverehrtes listiges wildes Weibsbild:
»Leben ist ihre schönste Erfindung, und der Tod ist ihr Kunstgriff, viel Leben zu haben.«
Oder:
»Sie spritzt ihre Geschöpfe aus dem Nichts hervor, und sagt ihnen nicht, woher sie kommen und wohin sie gehen. Sie sollen nur laufen.«
Oder:
»Auch das Unnatürlichste ist Natur. Wer sie nicht allenthalben sieht, sieht sie nirgendwo recht.«
Diese Sätze haben kein Frischhaltedatum, aber ich nehme an, sie werden auch dir noch schmecken. Ich wünsch‘ dir irgendwann im Leben einen Lindenbaum, unter dem du sitzen und denken kannst, während es über deinem Kopf leise rauscht. Es kann statt der Linde auch was anderes rauschen. Aber kein Ventilator.