Читать книгу Toxicus - Anita Jurow-Janßen - Страница 11
5. Kapitel
Оглавление„Giftmord in Oldenburg“ stand in großen Lettern auf der Titelseite der Bildzeitung. Sanne kam von der Uni und weil das Wetter mal wieder schauderhaft war, wollte sie sich noch schnell eine Zeitschrift am Kiosk kaufen, um es sich in ihrem Zimmer damit gemütlich zu machen. Für heute hatte sie genug vom Lernen. Die letzten Tage hatte sie gebüffelt wie ein Tier, um sich auf die heutige Arbeit vorzubereiten. Jetzt hatte sie sich eine Pause verdient.
Als sie auf den Kiosk zulief, sah ihr schon von Weitem das Gesicht eines Mädchens entgegen, auf das sie wie gebannt starrte. Die Titelüberschrift war unübersehbar. Auf dem Foto lebte das Mädchen offensichtlich noch. Als sie näher an den Kiosk herankam, konnte sie auch die Zeile unter dem Aufmacher lesen. In kleineren Buchstaben stand dort fett gedruckt: „War es das Gift einer Schlange? Die Polizei hält sich bedeckt“.
Sannes Herz fing an zu rasen. Es war zwar nicht Birgit, die sie da von der Titelseite ansah, aber die vielen unbeantworteten Fragen der letzten Jahre standen unmittelbar wieder vor ihr. Sie vergaß die Zeitschrift, die sie eigentlich kaufen wollte und kaufte stattdessen eine Bild. Sie blieb an der Seite des Kioskes stehen und verschlang den Artikel sofort. Es regnete und sie hatte keinen Schirm dabei. Das Dach des Kioskes stand ein bisschen über, sodass sie sich ein wenig vor Wind und Regen schützen konnte. „Nein“, sagte sie zweimal laut, weil sie nicht fassen konnte, was sie las. Der Kunde, der nach ihr an den Kiosk gekommen war, sah sie erstaunt an. Sie bemerkte es und schaute zu ihm auf: „Ist einfach unglaublich, was hier passiert ist!“ Der Mann griff sich ebenfalls eine Bild und stellte sich neben sie, um zu lesen. Nachdem sie den Artikel beendet hatte, steckte sie die Zeitung in ihre Umhängetasche, sagte: „Tschüs, schönen Tag noch!“ und machte sich auf den Weg zu Ben. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass er noch Mittagspause hatte. Er müsste noch zu Hause sein. Es gab keinerlei Hinweise auf Zusammenhänge zum Verschwinden von Birgit, aber sie hatte so ein kribbelndes Gefühl, als ob sich eine neue Tür öffnen würde. Hastig lief sie durch die Straßen zur Villa. Bens Auto stand vor dem Haus. Er öffnete selbst und sah sie überrascht an.
„Hey Sanne, du hier? Du siehst ja aus wie ein begossener Pudel.“
Sanne war viel zu aufgeregt, um sich über den Spruch zu ärgern.
„Ich bin leider schon auf dem Sprung“, sprach Ben schnell weiter. „Ich muss zu einem Kunden von Dad. Tut mir leid, aber ich bin schon spät dran.“
Sanne hielt ihm die Zeitung entgegen.
„Das musst du lesen“, sagte sie. „Stell dir vor, am Bahndamm in der Nähe vom Schützenweg hat man sie gefunden. Sie wurde aber wahrscheinlich nicht dort umgebracht. Lies selbst!“
Bens Blick wurde neugierig. Er nahm ihr die Zeitung aus der Hand und überflog die Zeilen.
„Ist ja unglaublich“, sagte er. Seine Hand strich dabei nachdenklich über sein Kinn.
„Aber sei bitte nicht böse, ich muss trotzdem los. Ich habe einen wichtigen Termin. Wir können heute Abend darüber reden, okay?“
„Glaubst du, das könnte was mit Birgit zu tun haben?“, fragte Sanne.
„Ich weiß nicht. Kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Aber wie gesagt, ich muss los.“
Er gab ihr einen flüchtigen Kuss auf den Mund. „Soll ich dich zu Hause absetzen?“, fragte er.
„Nein, nein, ist schon gut. Wir sehen uns heute Abend. Fahr mal los!“
Ben war schon fast im Auto, als sie ihm hinterherrief: „Wann soll ich denn kommen?“
„Nicht vor acht!“
Die ersehnte Gemütlichkeit war für Sanne gelaufen. Während sie eine heiße Dusche nahm, versank sie in Grübeleien um den alten und den neuen Fall. Der Regen prasselte immer noch gegen die Fensterscheiben. Ihre Eltern waren noch nicht zu Hause, sodass sie sich selbst eine Kanne Tee aufbrühte, die sie mit in ihr Zimmer nahm. Ihr Blick streifte über ihr Bücherregel und sie erblickte die weiße Pappbox, in der sie alles, was sie über das Verschwinden von Birgit gesammelt hatte, verwahrte. Sie musste auf einen Stuhl steigen, um die Schachtel herunterzuholen. Aufgeregt kramte sie die Zeitungsartikel hervor, die mit der Sache zusammenhingen. War Birgit vielleicht auch vergiftet worden? Sie musste herausfinden, wie weit der Fall der Fremden schon aufgeklärt war. Ihr fiel Sebastian ein, der in Birgit verknallt gewesen war und ebenfalls versucht hatte, sie zu finden. Damals hatten sie zusammen recherchiert, aber letztendlich war alles erfolglos geblieben. Es waren einige Jahre vergangen und Sebastian war bei der Polizei gelandet. Sie wusste nicht, ob seine Ausbildung schon beendet war, denn sie hatten sich aus den Augen verloren. Sie würde ihre Freundschaft wieder aufleben lassen und sie nutzen, um an Informationen über den aktuellen Todesfall heranzukommen. Seine Handynummer hatte sie noch gespeichert. Sie versuchte sofort, ihn zu erreichen. Seine Mailbox sprang an.
„Hallo Sebastian, ich bin’s, Sanne. Bitte melde dich bei mir! Wenn’s geht, noch vor acht.“
Sanne hatte die Zeitungsartikel auf ihrem Bett verteilt. Sie setzte sich im Schneidersitz dazu, um eventuell etwas zu entdecken, was sie übersehen haben könnte. Es führte aber nicht die geringste Spur zu Schlangen oder zu Gift. Gar nichts. Nach einer ganzen Weile klingelte ihr Handy. Schnell griff sie danach. Sie sah, dass der Anrufer Sebastian war und spulte ihr Anliegen ohne Punkt und Komma herunter.
„Hallo, Sebastian! Ich hab den Artikel über den Mord in der Zeitung gelesen. Weißt du was darüber? Könnte Birgits Verschwinden etwas damit zu tun haben? Vielleicht ist sie ja auch vergiftet worden und wir sind nur nicht darauf gekommen.“ Sie hielt einen Moment inne. „Sorry! Ich bin so aufgeregt. Ich wollte nicht unhöflich sein.“
„Guten Tag, liebe Susanne. Danke, mir geht es gut. Es ist dir aber sicher klar, dass ich dir darüber keine Auskunft geben darf, oder?“
Sebastians Worte kamen langsam und klar. Sanne schrumpfte unter seinen Worten buchstäblich zusammen. Wie sollte sie das jetzt noch hinbekommen?
„Ent… Entschuldigung“, stammelte sie. „Eigentlich weiß ich das ja. Aber du denkst doch sicher auch noch an Birgit. Vielleicht hängen die Fälle ja zusammen.“
„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wie gesagt, ich kann zu dem neuen Fall nichts sagen. Ich darf nicht. Ich stehe kurz vor der Abschlussprüfung und ich habe nicht vor, mir das zu verscherzen.“
„Natürlich nicht. Das verstehe ich. Tut mir leid. Aber vielleicht können wir uns trotzdem mal wieder treffen. Über alte Zeiten quatschen, du weißt schon.“
Eine Pause verstrich. Es folgte ein kurzes hartes Lachen.
„Vielleicht irgendwann. Wie gesagt. Ich stehe kurz vor dem Abschluss. Danach kannst du ja mal wieder anfragen.“
Sanne ärgerte sich über seine Hochnäsigkeit, aber sie verkniff sich einen zynischen Kommentar. Stattdessen fragte sie: „Wann ist denn die Prüfung?“
„Nächsten Monat.“
„Okay, ich melde mich dann noch mal.“
„Mach das.“
„Verflucht! Ich habe es vermasselt. Typisch Sanne“, schimpfte sie mit sich selbst, nachdem sie aufgelegt hatte. Ihr war zum Heulen zumute.
„Sanne, kommst du zum Abendessen?“
Ihre Mutter rief und Sanne ging hinunter, ohne auch nur eine Spur von Hunger zu empfinden. Nach einer Weile des Schweigens erzählte sie ihren Eltern von dem Zeitungsartikel.
„Kind, die Fälle müssen aber nicht zusammenhängen. Mach dich bitte nicht schon wieder verrückt damit!“, sagte ihre Mutter besorgt.
Die Zeit nach Birgits Verschwinden hatte niemand in guter Erinnerung. Sanne war sich darüber im Klaren, dass ihre Eltern keine Lust hatten, das alles noch einmal mitzumachen, schon gar nicht, wenn es jetzt um eine Fremde ging.
„Ich weiß“, erwiderte sie. „Aber ich kann einfach nicht anders.“
„Was heißt das?“, fragte ihr Vater barsch. „Ich glaube, du solltest das der Polizei überlassen.“
Sanne sah ihre Eltern prüfend an. Ihre Mutter starrte auf die Scheibe Brot, die sie gerade schmierte. Sanne bemerkte, wie ihre Hände zitterten. Der Blick ihres Vaters wanderte von der Mutter zu ihr und zurück. Sanne glaubte, Verzweiflung in seinen Augen zu sehen. Es ist wohl besser, sie mit diesem Thema in Ruhe zu lassen.
Als Sanne sich auf den Weg zu Ben machte, hatte es aufgehört zu regnen und sie saugte die reingewaschene Luft tief in sich hinein. Würde Ben auch so abweisend reagieren wie ihre Eltern? Hoffentlich nicht! Ihre Eltern hatten genau wie sie selbst eine lange Leidensphase hinter sich, die nicht nur mit Birgits Verschwinden, sondern vor allem auch mit ihrer, Sannes, Gesundheit zusammenhing. Das anfängliche Abnehmen konnte niemand als glückliche Fügung werten. Nicht ihr Körper war das eigentliche Problem, sondern die tiefe Depression, in die sie nach Birgits Verschwinden stürzte und die von keiner Birgit mehr aufgefangen werden konnte. Mit einer kurzfristigen Einweisung in eine psychosomatische Klinik und der aufopfernden Hilfe von Ben konnte ihre Krankheit besiegt werden. Sie hatte zudem großes Glück gehabt, an einen verständnisvollen, aber sehr zielgerichteten Professor zu geraten, der auch das Problem Fettsucht in Angriff nahm. Es war schon bald ihr eigener Wunsch, sich der strapaziösen Fettabsaugung und den weitreichenden Folgen zu unterziehen. Das alles war nur möglich gewesen, weil ihre Glücksgefühle wegen Ben so überwältigend waren, dass sie jeden Schmerz zu ertragen bereit war. In dieser Zeit kämpften Ben und sie gemeinsam gegen das Gefühl der Machtlosigkeit an. Sie versprachen sich, das Ziel, Birgits Verschwinden aufzuklären, niemals aufzugeben.
Ben ist seiner Schwester viel näher als meine Eltern. Er wird sicherlich immer noch bereit sein, jede neue Spur zu verfolgen, die uns weiterbringt. Inzwischen sind aber so viele Jahre vergangen, dass ich mich frage, ob es uns beiden wirklich guttut, alles wieder aufzuwühlen.
Tief in diese Zweifel versunken kam sie bei der Villa an. Als sie endlich mit Ben in seinem Zimmer saß, las er sich den Artikel noch einmal durch. Sie selbst hatte es inzwischen gefühlt zwanzigmal gemacht.
„Was denkst du?“, fragte sie, und sah Ben mit erwartungsvoll funkelnden Augen an.
„Na ja,“ sagte er, „viel kann man daraus nicht lesen.“
Sanne erzählte von ihrer Kontaktaufnahme zu Sebastian und wie sie damit gescheitert war.
Ben sah sie an und lachte: „Hast ihn gleich mit deinen Vermutungen überfallen, was? Kann ich mir genau vorstellen!“
„Ja, ich war zu aufgeregt“, gab sie kleinlaut zu.
„Aber ich werde dranbleiben. Er ging doch früher immer ins Amadeus. Vielleicht macht er das ja immer noch. Lass uns doch am Freitag einfach mal hingehen … oder Samstag … wie du lieber willst. Vielleicht haben wir Glück und er ist da. Was meinst du?“
Ben sah sie wenig begeistert an. „Ich glaube, das solltest du allein machen. Du kennst ihn besser. Wenn ich mit auftauche, sagt er bestimmt gar nichts. Du musst ihn in ein Gespräch verwickeln.“
„Genau das habe ich vor. Aber es wird nach meinem gescheiterten ersten Versuch wohl nicht so einfach werden.“
Am Freitag machte Sanne sich auf den Weg zur Bar Amadeus. Sebastian war nicht da. Auch am Samstag nicht. Sie sah sich ungeduldig um, enttäuscht dass er nirgends zu entdecken war. Nach einer Weile fragte sie Onno, der hinter der Theke stand, ob Sebastian immer noch Stammgast sei.
Onno grinste sie mit dem Versteherblick an. „Wenn er nicht gerade Dienst hat, ist er oft hier. Aber das ist in letzter Zeit eher selten. Ich glaub, er hat bald Prüfung. Er hat so was gesagt. Aber so gut kenne ich ihn auch nicht.“
Sanne wollte ihn noch weiter ausfragen, aber er hatte sich schon abgewandt und war mit dem Bedienen anderer Gäste beschäftigt. Enttäuscht machte sie sich auf den Weg zu Ben. Wie sollte sie an Bastis Dienstplan herankommen? Sie musste es wohl einfach immer mal wieder versuchen, ihn hier anzutreffen. Vielleicht hatte sie ja irgendwann Glück.
Sanne spürte schon lange, dass es an der Zeit war, sich von ihren Eltern abzunabeln. Aber immer wieder hatte sie das Thema vor sich hergeschoben, weil sie nicht wusste, wie ihr das Alleinsein bekommen würde. Als dann plötzlich Gilda, eine neue Kommilitonin in der Uni, auftauchte und fragte, ob sie nicht zusammenziehen könnten, war sie gleich hellhörig geworden. Es war eigentlich nur so scherzhaft dahergeredet gewesen. Gilda stand vor dem schwarzen Brett und fluchte so laut, dass Sanne es gehört hatte. Sie ging auf Gilda zu und fragte, ob sie helfen könne. Gilda wäre ihr vor Freude fast um den Hals gesprungen, als sie erwiderte, sie würde darüber nachdenken. Sie hatten sich verabredet und so war der Plan gewachsen.
Natürlich, Sannes Eltern waren immer für sie da und liebten sie sehr. Sie wusste das. Aber seit sie wieder angefangen hatte, Birgits Verschwinden zu erforschen, herrschte eine angespannte Atmosphäre in der Familie. Ihre Eltern hatten Angst, ihre Tochter könnte sich mal wieder in die Sache hineinsteigern und erneut seelisch krank werden. Aber Sanne wusste in ihrem Innersten, dass etwas ganz Schlimmes mit Birgit passiert war. Daher würde sie keine Ruhe geben, bis der Fall aufgeklärt war. Ihre Eltern sahen sie skeptisch an, als sie ihnen verkündete, dass sie ausziehen wolle.
„Und wie willst du das finanzieren?“, fragte ihr Vater mit dem Das-kannst-du-doch-gar-nicht-Blick.
„Ich werde mit einer Kommilitonin zusammenziehen. Wir teilen uns die Kosten. Wenn es nicht reicht, ziehen wir eventuell auch zu dritt zusammen. Ich muss es noch genau durchrechnen.“
„Weißt du denn schon, mit wem?“, fragte ihre Mutter erstaunt.
„Ich habe euch doch von Gilda erzählt, die erst vor Kurzem nach Oldenburg gezogen ist. Sie hat mich gefragt.“
Ihre Eltern sahen sich in die Augen, und Sanne wurde das Gefühl nicht los, dass sie sich schon mit diesem Thema auseinandergesetzt hatten.
„Na gut. Wenn du unbedingt willst. Wir können dir monatlich etwas beisteuern“, sagte ihr Vater.
Sanne stutzte. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie gab regelmäßig Nachhilfe und da sie auch das Kindergeld für sich in Anspruch nehmen durfte, dachte sie, mit einer oder zwei Freundinnen zusammen könnte ihr Geld reichen. Jetzt hatte sie den Eindruck, dass ihre Eltern nicht abgeneigt waren, sie loszuwerden, und das schmerzte auch irgendwie. Aber der dauernde Streit um Birgits Verschwinden und jetzt auch noch der neue Fall mit der Toten aus der Zeitung, das war wohl zu viel für sie. Sie wollen einfach nur ihre Ruhe haben. Sie sah ihre Mutter versöhnlich an, die erstaunlich ruhig am Tisch saß und ihrem Vater an den Lippen hing. Sanne hatte noch die Worte im Ohr, die ihre Mutter vor nicht allzu langer Zeit zu ihr gesagt hatte:
„Du hättest zur Polizei gehen sollen. Es wäre sicher eine gute Kommissarin aus dir geworden. Wahrscheinlich hättest du den Fall Birgit und den der Toten aus der Zeitung schon längst gelöst.“
Seit Sanne mit Ben zusammen war – und wahrscheinlich auch deshalb, weil sie eine „normale“ Figur bekommen hatte – war ihr Selbstbewusstsein so weit gewachsen, dass sie sich zutraute, allein oder mit einer Freundin zusammenzuleben. Als sie noch unter der Fettsucht litt, hätte sie sich ein Leben ohne ihre Mutter nicht vorstellen können. Ihre Eltern und ihr Bruder Erik hatten immer zu ihr gehalten. Aber mit Freundinnen war es so eine Sache gewesen. Unter ihren Blicken hatte sie sich immer unsicher gefühlt. Die einzige Freundin, der es offensichtlich nie etwas ausgemacht hatte, sich mit ihr zu zeigen, war Birgit gewesen. Und genau dafür würde sie ihr auch über ihr Verschwinden oder ihren Tod hinaus ewig dankbar sein. Nicht selten hatte sie daran gedacht, sich etwas anzutun. Birgit hatte es immer gespürt, wenn es ihr schlecht ging. Sie hatte einen katzenhaften Instinkt und war immer zur Stelle gewesen, um sie aus ihren Nöten zu retten. Nach Birgits plötzlichem Verschwinden hatten ihre Eltern, ihr Bruder und nicht zuletzt Ben, der sie immer geachtet hatte, sie am Leben erhalten.
Jetzt war es für Sanne an der Zeit, sich um ihre Angelegenheiten einzig und allein selbst zu kümmern. Sie liebte Ben, und sie würden sicher irgendwann zusammenziehen, aber das hatte noch Zeit. Bevor sie ihr Studium abgeschlossen hatte, wollte sie es auf keinen Fall. Bens Vater würde nicht dulden, dass er aus seinem Haus auszieht, und Sanne graute davor, in der verstaubten Villa zu wohnen. Sie wollte von niemandem abhängig sein, auch nicht von Ben.
Es waren inzwischen zwei Monate vergangen, seit Sanne ihre Eltern in die Umzugspläne eingeweiht hatte. Mithilfe eines Dozenten von der Uni konnte sie ein Appartement finden, das zentrumsnah lag und dennoch bezahlbar war. Sicher, es war nicht gerade eine Luxuswohnung. Sie lag direkt unter dem Dach und die Räume waren klein. Aber insgesamt war sie groß genug für zwei. Gilda und sie hatten jede ein Zimmer für sich. Dahin konnten sie sich zurückziehen, wenn sie mal allein sein wollten.
Sanne war glücklich. Sie hatte in Gilda eine neue Freundin gefunden. Fast jeden Dienstag aßen sie im Litfaß zu Mittag. Beide liebten Pasta und es gab an diesem Tag dort immer ein Spaghettigericht. Eines Tages, als beide in ein Gespräch über ihre Nachhilfeschüler vertieft vor einem Teller dampfender Spaghetti saßen, sah Sanne Sebastian ins Lokal kommen. Sie hätte sich beinahe verschluckt und Gilda musste lachen, weil eine Spaghetti noch aus ihrem Mund heraushing. Sanne hatte durch ihren Umzug in die Zweier-WG noch mehr Geld mit Nachhilfeunterricht verdienen müssen und keine Zeit gehabt, sich um Bastis Prüfungstermin und schon gar nicht um seinen Dienstplan zu kümmern.
Nachdem sie sich vom ersten Schreck erholt hatte, freute sie sich, dass das Schicksal ihr Basti jetzt in die Hände spielte. Er sah sich gerade um, schaute ihr sogar ins Gesicht, drehte sich aber sofort wieder weg. Zuerst dachte Sanne, das wäre Absicht gewesen, aber dann fiel ihr ihre körperliche Veränderung ein. Basti hatte sie noch nie so dünn gesehen. Unwillkürlich musste sie grinsen. Was der wohl sagen würde, wenn er sie erkannte!
„Wen starrst du denn so an?“, fragte Gilda.
„Sebastian ist hereingekommen“, sagte Sanne leise. „Ich kann es kaum fassen.“
„Was? … Der Sebastian?“, fragte Gilda.
„Ja, der Sebastian. Genau der.“
Sanne hatte Gilda von Birgits Verschwinden und ihren Recherchen darüber erzählt. Auch das verunglückte Gespräch mit Basti hatte sie ihr nicht vorenthalten. Gilda war sehr berührt gewesen, als sie merkte, wie sehr Sanne immer noch unter Birgits Verschwinden litt. Sie hatte versprochen, ihr so gut wie möglich bei der Suche nach der Wahrheit zu helfen. Gilda hatte Birgit nicht gekannt. Sie war aus Varel zugezogen, wo sie das Lothar-Meyer-Gymnasium besucht hatte, bevor sie ihr Studium in Oldenburg begann. Sie war zwei Jahre jünger als ihre neue Freundin Sanne. Immer wieder hatte sie diese wegen des mysteriösen Verschwindens von Birgit ausgequetscht. Sie konnte gar nicht genug darüber erfahren.
„Ich muss ihn irgendwie in ein Gespräch verwickeln. Hoffentlich haut er nicht gleich wieder ab!“, befürchtete Sanne jetzt.
„Ist er allein?“, frage Gilda.
„Ja, aber er schaut sich immer noch um, so als ob er jemanden sucht. Jetzt … jetzt geht er auf einen Tisch zu. Dort sitzen schon zwei. Er setzt sich hin. Gott sei Dank!“
Sebastian hatte Sanne den Rücken zugekehrt, sodass sie ihn unbemerkt beobachten konnte. Er war kräftiger geworden, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Die blonden Haare, die früher immer locker um seinen Kopf herumwirbelten, waren zu einem modernen Kurzhaarschnitt gestutzt worden. Zur Jeans trug er eine dunkelblaue Kapuzenjacke mit hellgrauem Futter. Er sah richtig gut aus, stellte sie fest.
Gilda wagte einen Blick rückwärts zu dem Tisch, den Sanne ihr beschrieb.
„Siehst du die drei dort? Wenn du dich umdrehst, an der Fensterseite, links von dir.“
„Meinst du den großen blonden, der gerade die Jacke auszieht?“
„Genau. Das ist Sebastian.“
„Scheint ziemlich gut auszusehen“, bemerkte Gilda.
„Na ja, geht so.“
„Hat der blaue Augen?“
„Wieso? Keine Ahnung. … Ich glaub wohl.“
Gilda machte sich weiter über ihre Spaghetti her.
Sanne hatte keinen Hunger mehr. Sie schob den Teller beiseite und starrte auf die Dreiergruppe.
„Nicht so auffällig!“, warnte Gilda.
Es war zu spät. Der eine junge Mann, der Sebastian gegenübersaß, sah ihr mitten ins Gesicht.
„So ’n Mist“, stammelte Sanne.
„Was ist?“
„Ich glaub, der eine ist auf mich aufmerksam geworden.“
„Kein Wunder, so wie du dort hinstarrst.“
Sanne wandte schnell den Blick von dem Fremden ab. Aber wie sollte es jetzt weitergehen? Als sie den Blick wieder vorsichtig zu den Dreien schweifen ließ, sah Sebastian ihr direkt in die Augen. Er hatte sich zu ihr umgedreht. Wahrscheinlich hatte sein Gegenüber ihn auf sie aufmerksam gemacht. Wie peinlich! Aber vielleicht auch gut. Sebastian sah sie abschätzend an. Erkannte er sie vielleicht doch? Da drehte er sich aber schon wieder um. Jetzt tuschelten die drei miteinander. Die beiden, die Sebastian gegenübersaßen, grinsten unverschämt.
Sanne fasste allen Mut zusammen und stand auf. Zielstrebig ging sie auf den Dreiertisch zu.
Gilda blieben die Spaghetti beinahe im Hals stecken. „Was hast du vor?“, fragte sie noch leise. Aber Sanne stand schon neben den Männern und Gilda konnte hören, wie sie sagte: „Hallo Basti! Wie schön dich hier zu treffen! Ich wollte dich schon längst anrufen. Wegen Birgit. Du weißt doch. Hast du vielleicht einen Moment Zeit, damit wir uns unterhalten können? Natürlich nachdem du gegessen hast“, ergänzte sie noch schnell. Sie wollte nicht schon wieder unhöflich zu ihm sein.
Sebastian sah sie prüfend an.
„Susanne? Das kann doch nicht sein. Hast du dich verändert!“ Großes Staunen war in seinen Worten zu hören.
„Ja. Es ist viel Zeit vergangen inzwischen“, sagte sie. „Hast du deine Prüfung schon gemacht?“
„Ja, hab ich. Und sogar bestanden.“ Er grinste zufrieden.
Die beiden Männer, die Basti gegenübersaßen, sahen mit neugierigen Blicken zwischen den beiden hin und her. Aber weder Sanne noch Sebastian hielten es für nötig, sie aufzuklären.
„Ich warte bei meiner Freundin, bis du so weit bist“, sagte Sanne, dann ging sie wieder zu Gilda und ihren kalten Spaghetti zurück.
„Was ist?“, fragte Gilda aufgeregt. „Kommt er?“
„Keine Ahnung. Ich bestell mir noch einen Kaffee.“
Gilda hatte inzwischen aufgegessen. „Soll ich bleiben oder gehen?“, fragte sie mit großen Augen.
„Weiß nicht so recht. Falls er kommt, ist es vielleicht besser, du verschwindest unter einem Vorwand. Er soll ja Geheimnisse seiner Arbeit ausspucken. Das tut er sicher nicht, wenn jemand dabei ist.“
„Machen wir so“, sagte Gilda. „Ich verschwinde.“ Ihre Augen sprühten vor Neugierde. „Du kannst mir ja nachher alles erzählen.“
Sanne musste lachen. „Du bist ja noch schlimmer als ich“, sagte sie.
Nachdem Basti sie eine ganze Zeit lang bewundernd angestarrt hatte, sodass es ihr schon peinlich wurde, konnte Sanne ihn endlich zu einigen Aussagen überreden.
„Du siehst einfach super aus“, sagte er, als er an ihren Tisch gekommen war. Gilda hatte sich, wie versprochen, davongemacht.
„Ich hätte dich fast nicht wiedererkannt. Alle Achtung! Wie hast du das geschafft?“
„Nun, das ist eine lange Geschichte. Aber darüber können wir ein anderes Mal reden“, vertröstete Sanne ihn. „Erzähl doch erst mal, was mit der Toten aus der Zeitung war. Ist sie wirklich vergiftet worden, so wie es in der Bildzeitung stand? Kann man eventuell Parallelen zu Birgits Verschwinden finden? Was hat man inzwischen ermittelt? Wie hieß sie überhaupt? Hast du sie gekannt? Sie muss doch in unserem Alter gewesen sein.“
„So viele Fragen auf einmal“, lachte er. „Du weißt doch, dass ich eigentlich gar nicht darüber reden darf.“
„Bitte … es bleibt auch unter uns.“
Basti sah sie eine Weile zögernd an, bevor er antwortete. „Sie hieß Manuela.“
„Und … weiter?“
Er stöhnte leise. „Na gut. Ich verrat es dir. Wegen Birgit. Aber behalt es für dich. Ich komme sonst in Teufels Küche.“
„Du kannst dich darauf verlassen.“
„Also gut. Sie hieß Manuela Johanson. Sie war zwei Jahre jünger als wir. Sie hat in Hude gewohnt und lebte erst seit Kurzem im Oldenburg.“
Sanne schrieb es ihrem veränderten Aussehen zu, dass Basti plötzlich so gesprächig wurde. Wahrscheinlich war er so platt darüber, dass er in Gedanken mehr bei ihrer Veränderung als bei der Toten war. Sie nutzte die Gelegenheit und fragte immer weiter und weiter. Aber letztendlich blieben nicht sehr viele Erkenntnisse, die zu Birgit führten.
„Diese Manuela ist tatsächlich vergiftet worden“, gab Basti zu. „Es war Schlangengift. Möglicherweise von einer Viper. Da kein Biss erkennbar war, nehmen wir an, dass ihr das Gift mit einer Spritze verabreicht wurde. Sie hatte aber so viele Stiche am Körper, dass wir stutzig wurden. Sie war ein Junkie. Sie hatte auch noch einiges an Heroin intus. Von einem Mörder keine Spur. Weder das Gift konnte man genau zuordnen, noch eine Schlange finden, von der das Gift stammen könnte.“
„Wo wurde sie denn überhaupt gefunden?“, unterbrach Sanne ihn.
„In der Nähe des Bahndamms am Schützenweg.“
„Hat man dort nach einer Schlange gesucht?“
„Na klar. Aber ergebnislos.“
„Hm … und … ist sie dort gestorben oder dort hingebracht worden?“
„Da man keine Autospuren oder andere Merkmale zuordnen konnte, nehmen wir an, dass sie das Gift in einer Wohnung bekommen hat. Vielleicht ist sie sogar noch selbst nach draußen gelaufen, weil ihr schlecht wurde. Das Gift wirkt nicht immer sofort tödlich. Es kommt darauf an, ob es direkt in der Blutbahn landet oder nicht.“
„Und … konnte man feststellen, ob es so war?“
„Nein, war es wohl nicht. Sie hat wahrscheinlich noch eine Weile gelebt und ist dann draußen herumgeirrt. So richtig wird man das wohl nie herausbekommen. Zeugen haben sich leider nicht gemeldet. Wir tappen immer noch im Dunkeln.“
„Und hat sie bei ihren Eltern gewohnt oder allein?“
„Allein. Aber nicht in der Nähe des Bahndamms. Ganz am anderen Ende von Oldenburg.“
„Wo genau?“
„Du gibst wohl gar keine Ruhe, bevor du nicht alles weißt, was?“ Er grinste sie schelmisch von oben herab an.
Sanne sah ihm bittend in die Augen.
„Na gut. In Nadorst. Jetzt weißt du aber alles, was ich auch weiß. Können wir jetzt über dich reden?“
Sanne sah auf ihre Uhr. „Sei nicht böse, ich habe gleich einen Nachhilfeschüler.“
„Bist du Lehrerin?“
„Noch nicht. Aber in zwei Jahren vielleicht. Ich hatte erst eine Lehre angefangen. Daher dauert es noch ein bisschen. Aber ich muss jetzt wirklich los. Wir können ja mal was zusammen trinken.“
„Dann gib mir noch schnell deine Handynummer.“
Er zog schon sein Smartphone aus der Jackentasche, aber sie erinnerte ihn daran, dass er schon eine Nachricht von ihr bekommen hatte.
Schnell verließ sie das Lokal. Sie musste sich beeilen, um nicht zu spät zu kommen.