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3. Kapitel
ОглавлениеRonny hatte sich immer noch nicht so recht in Hameln eingelebt, obwohl der Umzug von Oldenburg nun schon einige Jahre zurücklag. Seine Eltern, Burkhard und Annemarie Feller, hatten überraschenderweise den Elektrobetrieb seines Onkels Georg geerbt. Dieser war plötzlich verstorben und hatte keine Kinder. Georgs Frau Luise Feller, eine untersetzte Frau mit dauergewellter Omafrisur wohnte jetzt in der Oberwohnung des Hauses, das zum Elektrobetrieb gehörte. Sie hatte lebenslanges Wohnrecht. Ronnys Familie zog in die Wohnung im Erdgeschoss ein. Ronny fühlte sich beengt. Er war zu lange auf sich allein gestellt gewesen, und jetzt hatte er plötzlich nicht nur seine Eltern, sondern auch noch seine Tante Luise am Hals. Und die nervte besonders. Er sehnte sich nach seinen Schlangen. Er vermisste sie so sehr. Vor allem suchte er ein gutes Versteck, auch für sich selbst, damit er sich dorthin zurückziehen könnte. Aber eine Lösung war weit und breit nicht zu erkennen. Das frustrierte ihn von Tag zu Tag mehr. In der Eile der Ereignisse hatte er vor dem Umzug etwas überstürzt, wie er jetzt fand, Lukas seine Lieblinge überlassen. Besonders Anabelle vermisste er, weil das Onanieren ohne sie überhaupt keinen Spaß machte. Ronny wollte wieder nach Oldenburg zurück. Er hatte seine Lehre als Einzelhandelskaufmann in Hameln geschmissen und seinen Eltern weisgemacht, dass er nun doch Elektriker werden wollte. Er behauptete, in Oldenburg ein Vorstellungsgespräch dafür zu haben. Seine Eltern waren nicht begeistert, dass er zurückwollte. Aber sie waren hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt und die Spannungen, die durch das Zusammenleben mit Ronnys Tante Luise ständig präsent waren, machten ihnen das Leben schwer genug. So gaben sie nach und steckten Ronny sogar das Geld für die Fahrt zu. Immerhin bestand jetzt eine kleine Chance, dass er eines Tages ihren Betrieb übernehmen würde.
Ronny hatte Sehnsucht nach Anabelle und keineswegs ein Vorstellungsgespräch. Als er in Oldenburg ankam, machte er sich schnurstracks auf den Weg zu seinem ehemaligen Schlangendomizil. Lukas hatte er nicht informiert. Er wollte sich erst einmal einen vergnügten Nachmittag mit Anabelle machen, und dann würde man weitersehen.
Schon als er auf die Baracke zulief, sah er die Veränderung. Der Hof war aufgeräumt, die Tür repariert. Als er näher kam, bemerkte er, dass sogar die Fenster geputzt waren. Du meine Güte, was ist das denn für ein Pedant! Vor der Tür hing jetzt ein großes Vorhängeschloss.
„So ’n Mist!“, fluchte er. Es fiel ihm ein Zugang auf der Rückseite der Baracke ein. Dort hatte er seinerzeit ein Fenster nur provisorisch mit Brettern zugenagelt, damit keine der Schlangen aus Versehen entschlüpfen konnte. Die übrigen Fenster der Baracke waren alle mit Glas versehen, nur dieses eine nicht. Voller Hoffnung ging er um die Baracke herum, nachdem er sich vergewissert hatte, dass ihn keiner beobachtete. Die Luft war rein. Von der rückwärtigen Seite der Baracke aus konnte er die Ziegelei sehen, deren Schornstein weit über die übrigen Gebäude hinausragte. Er spürte sein Herz klopfen, weil die Erinnerung an Birgits Tod ihn einholte.Da gehe ich nachher auch noch hin, nahm er sich vor. Aber erst mal Anabelle. Das rückwärtige Fenster war verglast worden. Neugierig spähte er hindurch. Ein Fliegengitter verdunkelte den Einblick, aber er konnte mehrere Terrarien erkennen. Lukas ist ja ganz schön fleißig gewesen. Hoffentlich ist Anabelle noch da. Wie komme ich bloß ins Haus ? Mürrisch ging er um die Baracke herum. Es war alles verriegelt und verrammelt. Ihm war zum Heulen zumute. Es würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als Lukas anzurufen und sich mit ihm zu verabreden. Immerhin hatte er ihm seine vier Schlangen überlassen, da konnte er ihn schlecht abweisen. Er zog sein Smartphone aus der Tasche und drückte die gespeicherte Nummer. Es dauerte nur einen Moment und Lukas war am Apparat. „Hi, Lukas, Überraschung! Ich bin in Oldenburg und würde gern meine Schlangen besuchen. Was sagst du? Hast du eventuell Zeit für mich?“
„Oh, hallo Ronny. Wie kommt’s? Hast du Urlaub?“
„Lange Geschichte. Erzähle ich dir später. Ich dachte, ich könnte vielleicht in der Baracke übernachten. Ist mein altes Sofa noch da?“
„Du wirst staunen, was ich inzwischen alles gemacht habe. Ich habe jetzt zwölf Schlangen. Aber ich verrate noch nicht so viel. Du wirst es selbst sehen. Ich freue mich jetzt schon auf dein Gesicht. Wo bist du denn? Ich kann erst in zwei Stunden. Ich bin noch in der Uni. Hab grad Pause. Hast Glück gehabt. Während der Vorlesung mach ich mein Handy aus.“
Er studiert also. Ich hab keine Ahnung gehabt, was er überhaupt treibt. Ich hätte mich öfter melden sollen. Aber die blöde Lehre hat alles kaputt gemacht.
„Hey, Ronny, bist du noch da?“
„Ja, ich überleg nur. Ich könnte doch schon zur Baracke gehen. Dann können wir uns dort treffen.“
„Hm … ich hab jetzt ein Schloss vor der Tür. Aber warte, ich sag dir, wo der Schlüssel ist. Wenn du vor der Tür stehst, auf der rechten Seite unter dem Dach. Die Dachrinne hat dort ein Loch. Du wirst es sehen. Genau über dem Loch kannst du ihn finden.“
„Oh, super, dann kann ich mich gleich auf den Weg machen. Wann bist du da?“
„Na, wie gesagt, wohl so in zweieinhalb Stunden.“
„Okay, bis dann. Bin gespannt, was du alles gemacht hast.“ Ronny hätte vor Freude fast laut gejubelt, hielt sich aber zurück. Lukas musste ja nicht wissen, wie sehr er sich nach Anabelle sehnte. Er war schon während des Gesprächs zu der beschriebenen Stelle gelaufen und tastete nach dem Schlüssel.
Bingo! Er hatte ihn. Sein Körper kribbelte vor Freude. Anabelle, ich komme zu dir!
Nachdem er die Tür aufgeschlossen hatte, dachte er, er käme in eine Versuchsstation. Alles war picobello aufgeräumt und geordnet. Von seinen Sachen war nur sein altes Sofa übrig geblieben. Alles andere war neu oder zumindest durch bessere Sachen ersetzt worden. Die Schlangen waren jetzt alle in dem Nebenraum, in dem Lukas das Fenster repariert hatte. Als Ronny den Raum betrat, schlug ihm eine tropische Wärme entgegen. Lukas hatte Luftbefeuchter und Wärmeleitungen eingebaut. Ein Thermostat regelte offensichtlich die Zufuhr der Wärme und Feuchtigkeit. Ronny hielt vor Staunen die Luft an, während sein Blick über die Glaskästen schweifte. Er zählte zwölf unterschiedlich große Terrarien. In jedem war eine Schlange. Aber wo war Anabelle? Am Ende der Terrarienreihe, in einem besonders großen Schlangenkasten, leuchtete ihm ihre hellorange Farbe entgegen. Sein Herz machte vor Freude einen Satz. „Da bist du ja, meine Geliebte“, sagte er. Er konnte gar nicht schnell genug mit ihr zum Sofa kommen. Welch ein Genuss, sie auf seinem Körper zu spüren!
Nachdem er befriedigt war, sah er sich die anderen Schlangen und die Terrarien prüfend an. Seine beiden Vipern und die grüne Mamba waren auch noch da.
„Hallo Birgit,“ begrüßte er seine Schlangenbirgit. Er dachte an die Ziegelei, und die Erinnerung an die furchtbare Tat war wieder so präsent, als wäre es erst gestern gewesen. Sein Hals wurde so trocken, dass er etwas trinken wollte. Er sah sich um. Im Kühlschrank, den er in der kleinen Kochnische entdeckte, fand er ein paar Flaschen Bier. Außerdem standen mindestens zwanzig kleine Flaschen mit irgendeiner Flüssigkeit darin. Er nahm eine Flasche heraus, öffnete sie und schnupperte. Was war das? Er konnte keine Erklärung finden. Er stellte die Flasche zurück und nahm sich eine Flasche Bier. Neben dem Kühlschrank an der Wand hingen ein Öffner und einige Schlüssel an einem Schlüsselbrett. Als er die Flasche ansetzte, traf sein Blick auf eine große runde Uhr, die an der Wand hing. Es war immer noch eine Menge Zeit, bis Lukas bei ihm sein würde.
Ich werde mir die Ziegelei jetzt noch ansehen. Wenn Lukas hier ist, kann ich da nicht mehr hin. Ich darf auf keinen Fall eine Spur dorthin lenken.
Er stellte die leere Bierflasche auf den Kühlschrank und machte sich auf den Weg.
Die Sonne schien unschuldig und tauchte die alte Ziegelei in ein strahlendes Licht. Ronny drehte sein Gesicht der Sonne entgegen und spürte eine wohlige Wärme, obwohl es erst März war. Die Bäume und Sträucher, die in den letzten Jahren erheblich gewachsen waren, zeigten schon ihr zartgrünes Frühlingsgesicht. Ronny bemerkte es nur am Rande. Er war in Gedanken bei Birgit. Die tiefe Trauer, die er die ganzen letzten Jahre verdrängt hatte, bohrte sich jetzt wie eine heiße Nadel durch seinen Brustkorb. Ich werde ihr Grab besuchen. Ich werde für sie beten.
Vor der Ziegelei angekommen sah er sich erleichtert um. Wenigstens hier war nichts verändert worden. Er konnte wie damals ungehindert in das Gebäude hineinkommen. Er ging zögernd zu dem großen Ofen, in dem er Birgit verbrannt hatte. Sein Herz klopfte, als wollte es zerspringen. Er öffnete vorsichtig die Ofentür. Obwohl er wusste, dass er darin nichts finden würde, starrte in das dunkle Ofenloch. Die Erinnerung brannte sich wie ein Brenneisen in sein Herz.
Wie erschrocken war er damals gewesen, als er statt eines Haufens Asche eine verkohlte Leiche vorgefunden hatte. Ihm war nichts anderes übrig geblieben, als Birgits sterbliche Überreste in der gleichen Schubkarre, in der er sie von der Baracke zur Ziegelei gebracht hatte, nach draußen zu transportieren und sie zu vergraben. Bevor er sich auf die Suche nach einer geeigneten Stelle gemacht hatte, war er hinausgerannt und hatte sich neben der Eingangstür übergeben. Er fühlte sich hundeelend, sah aber keinen anderen Ausweg, als seine Tat zu vollenden. Er wartete, bis es ganz dunkel war. Dann brachte er Birgit zu dem auserwählten Platz, was zwischen den Bäumen und Sträuchern in der Dunkelheit gar nicht so einfach war, und fing an zu graben. Das dauerte viel länger, als er erwartet hatte, denn der Boden war verwurzelt und unzugänglich. Über ihn hinweg rauschten ein paar Eulen und vermutlich auch Fledermäuse, die er vor längerer Zeit in der Ziegelei entdeckt hatte. Der Schweiß rann ihm in Bächen den Körper herunter, während er Birgit in das Grab hineinlegte und die Erde über sie schaufelte. Tränen der Trauer und Verzweiflung liefen ihm über die Wangen. Leise stammelte er ein Gebet. Er schloss mit den Worten ab: „Ich habe dich doch so geliebt. Verzeih mir!“
Das alles fiel ihm wieder ein, als er vor dem Ofen stand, und er spürte, dass er die Trauer immer noch nicht überwunden hatte. Er schloss die Ofentür und ging zu den Bäumen hinter der Ziegelei. Es dauerte eine Weile, bis er die Stelle wiederfand. Es war inzwischen alles noch viel mehr verwuchert und fast unbegehbar geworden. Glücklicherweise hatte er sich die Stelle ziemlich genau eingeprägt und außerdem ein großes „B“ in den Baum darüber geschnitzt. Als er Birgits Grab gefunden hatte, konnte er nicht verhindern, dass seine Augen sich erneut mit Tränen füllten.
Er wusste nicht, wie lange er dort verweilt hatte, aber als er zurück zur Baracke ging, wurde ihm klar, dass es schon ziemlich spät sein musste. Hoffentlich ist Lukas noch nicht da!
Schon als er auf das Gelände der Baracke einbog, sah er, dass Lukas’ Auto vor dem Eingang stand.
„Scheiße!“, fluchte er. Wie soll ich das jetzt erklären?
Lukas saß in der Kochnische auf dem einzigen Stuhl, der dort stand, und trank eine Flasche Bier.
„Wo warst du denn?“, war seine Begrüßung.
„Ich war schon so früh hier, dass ich noch einen Spaziergang machen konnte. Dabei habe ich die Zeit wohl ein bisschen vertrödelt. Bist du denn schon lange hier?“
„Nein, vielleicht zehn Minuten, oder noch nicht mal. Hast du dich denn hier schon umgesehen?“, fragte Lukas, nicht ohne Stolz in der Stimme. Er war aufgestanden und hatte Ronny freundschaftlich umarmt. Er musste sich dabei auf die Zehenspitzen stellen, denn Ronny überragte ihn um einen ganzen Kopf. Neben Ronny sah Lukas wie ein Schüler aus, der zu wenig zu essen bekam. Seine blonden Haare standen immer etwas zu Berge und seine blauen Augen wirkten häufig verklärt. So, als ob er nie bei der Sache der anderen war, sondern immer nur bei sich selbst und seinen Experimenten. Er freute sich aber offensichtlich über Ronnys Besuch. Endlich konnte er sich mit jemandem austauschen, der auch etwas von Schlangen verstand.
Ronnys Anspannung lockerte sich und kumpelhaft klopfte er Lukas auf den Rücken.
„Na klar. Ist super, was du alles gemacht hast“, versicherte er. „Wissen deine Eltern denn inzwischen, was du so treibst?“
Lukas sah ihn an. Sein Blick wurde traurig. „Nicht wirklich. Mein Vater ist inzwischen gestorben. Meine Mutter weiß, dass ich für mein Studium ein Labor eingerichtet habe und dass ich sehr oft darin arbeiten muss. Mehr muss sie ja nicht wissen.“
Ronny schluckte. „Dein Vater ist tot? Seit wann das denn?“
„Hm, so zweieinhalb Jahre ungefähr.“
„Tut mir leid. War er krank?“
Lukas sah ihm in die Augen. „Krebs, was auch sonst.“
Ronny druckste herum. „Weiß sie denn, wo das Labor ist?“
„Wer?“
„Na deine Mutter?“
„Nein, sie war noch nie hier. Sie denkt, ich habe einen Raum in der Uni dafür bekommen.“
„Und sonst, weiß es sonst jemand?“
„Nein, du bist der einzige. Und ich möchte auch, dass es so bleibt. So habe ich jedenfalls meine Ruhe hier.“
„Sie weiß auch nichts von den Schlangen?“
„Um Gottes Willen, das würde sie zu Tode ängstigen.“
„Was machst du denn überhaupt in dem Labor?“
Ronny war nicht entgangen, dass Lukas tatsächlich ein Labor eingerichtet hatte. Es befand sich in dem Raum neben den Terrarien. Dort standen etliche Gefäße herum, woraus man schließen konnte, dass Versuche damit gemacht worden waren. Außerdem hatte er eine große Truhe entdeckt, in der das Schlangenfutter eingefroren war. Massenweise Ratten, Mäuse und Vögel. Auch zerkleinertes Geflügel konnte er erkennen. Ronny kam aus dem Staunen nicht heraus. Wie konnte Lukas sich das alles leisten? Auf einem Bord, auf dessen Rand ein Schild mit dem Hinweis „toxicus“ geklebt war, standen etliche Gläser, in denen sich getrocknetes Schlangengift befand, wie Lukas ihm jetzt erklärte. Ronny konnte sich noch schwach erinnern, dass das Wort „giftig“ bedeutete. Darunter, auf einem weiteren Bord, standen Nahrungsergänzungsmittel. Ronny nahm eine Packung in die Hand. „Bioserin“, las er. Das kostet doch alles ein Vermögen, dachte er.
Als Lukas ihm jetzt erklärte, dass er die Schlangen molk, um das Schlangengift zu untersuchen, starrte er ihn mit offenem Mund an.
„Ich will darüber meine Doktorarbeit schreiben“, erklärte Lukas, und seine Augen leuchteten dabei wie blaue Sterne.
„Wie kann man das Gift denn melken?“, fragte Ronny voller Ehrfurcht.
Lukas holte ein Glas aus einem Schrank, über das ein besonderes Papier gespannt war. Es sah aus wie Pergament.
„Siehst du? Hier müssen die Schlangen hineinbeißen. Dann fließt das Gift ins Glas und ich kann es untersuchen.“
„Ist das ein spezielles Papier?“
„Ja, aber es geht auch mit Pergament.“
„Wird das Gift nicht schlecht?“
„Doch, nach einer Weile schon. Aber ich friere einen Teil ein und einen Teil trockne ich.“
„Wahnsinn! Sag mal, woher hast du denn so viel Kohle?“
„Na ja, mein alter Herr hat mir ein bisschen hinterlassen.“
Ronny wollte gerade sagen: Hast du ein Glück. Aber das wäre wohl nicht so passend gewesen.