Читать книгу Toxicus - Anita Jurow-Janßen - Страница 7
1. Kapitel
Оглавление„Birgit und ich möchten unseren Geburtstag zusammen feiern. Ist das okay?“ Sanne sah ihre Mutter flehend an.
„Aber Sanne, ich dachte, wir feiern unten am See. Die ganze Familie freut sich schon darauf.“
„Ach Mama, bitte, ich hab nur durch Birgit die Möglichkeit, mit Freunden zu feiern. Ich … ich …“
„Was ich? Was meinst du?“
„Hm ... ich hab mich verknallt. In Ben. Bitte, lass mich bei Birgit feiern. Das ist meine einzige Chance.“
„In Ben? Birgits Bruder? Der ist doch viel älter als du.“
Gunda Schönewald, Sannes Mutter, sah ihre Tochter aus den Augenwinkeln an. Der Anblick war kein schöner. Sanne, die eigentlich Susanne hieß, litt seit Jahren unter Fettsucht. Gunda hätte sich schon daran gewöhnen müssen, wie ihre Tochter aussah, aber es tat ihr jedes Mal aus tiefstem Herzen weh. Alle Bemühungen, die Krankheit in den Griff zu bekommen, waren bisher gescheitert. Sanne sah aus wie eine Sumoringerin, aber sie war sensibel wie ein Kaninchen und hatte ein Gesicht wie eine wunderhübsche Prinzessin aus einem Märchenbuch. Gunda seufzte. Sie konnte ihrer Tochter so gut wie nie etwas abschlagen – und in diesem Fall?
„Wieso viel, nur fünf Jahre. Das ist doch nicht viel.“
„In deinem Alter ist das eine ganze Menge.“
„Mama, bitte!“
„Also gut, Kind. Ich werde mit Papa reden. Vielleicht ist er ja einverstanden.“
„Oh, danke, Mama, ich hab dich so lieb!“
Sanne umarmte ihre Mutter stürmisch, sodass die zarte Frau unter ihr ins Wanken geriet.
„Bitte lass mich leben!“, lachte Gunda.
***
„Du, Michael, Sanne möchte so gern mit Birgit ihren Geburtstag feiern. Was meinst du?“
Michael Schönewald sah von seiner Zeitung auf. Es war Samstag, und da er frei hatte, schien die Gelegenheit günstig zu sein, ihn von Sannes Wunsch zu überzeugen. Gunda sah ihn bittend an.
„Aber wir wollten doch am See …“
„Ich weiß“, unterbrach sie ihn, „aber sie hat sich verknallt, in Ben, Birgits Bruder.“
„Na, dann wohl erst recht nicht. Das kann doch nur eine Enttäuschung werden. Oder meinst du wirklich, dass der sich mit unserer Tochter abgibt? So wie der aussieht. Das glaubst du ja selbst nicht! Ist der nicht auch viel älter?“
„Michael, wir haben eine sehr hübsche Tochter, und Ben ist ein lieber Junge. Ich mag ihn. Ich mag ihn sogar lieber als Birgit.“
„Wieso? Was hast du denn plötzlich gegen Birgit?“
„Ich habe nichts gegen Birgit, aber sie ist manchmal richtig kratzbürstig. Findest du nicht?“
„Ist mir noch nicht aufgefallen. Zu mir ist sie immer ganz höflich.“
„Ist doch jetzt unwichtig. Ich denke, wir sollten Sanne den Wunsch erfüllen. Wir werden meine Eltern an einem anderen Tag ins Haus am See einladen. Denen ist das wahrscheinlich ziemlich egal. Und ob Erik sich an diesem oder einem anderen Tag mit Opa herumplagen muss, ist ihm bestimmt auch schnuppe.“
Erik, Sannes Bruder, ein drahtiger kleiner Kerl, elf Jahre alt, spielte lieber mit seinen Freunden, als sich von seinem Opa maßregeln zu lassen. So lieb er seine Oma hatte, sein Opa, ein knurriger alter Herr, hatte ständig etwas an ihm herumzumeckern.
Michael schien in sich hineinzuhorchen. Es dauerte eine Weile, bis er sagte: „Werden sie Erik denn zur Party einladen?“
„Wohl kaum. Er ist zu jung.“
„Na gut. Vielleicht hast du recht. Sollen sie doch bei Birgit feiern. Aber ich habe kein gutes Gefühl dabei.“
Gunda war aufgestanden, stellte sich hinter Michaels Stuhl und umarmte ihn von hinten.
„Danke. Ich liebe dich. Du bist der Beste“, raunte sie und küsste sein rechtes Ohr.
„Na dann!“ Michael grinste versöhnlich.
***
Ben Giese saß in seinem Zimmer am Schreibtisch vor dem Fenster. Die Hausarbeit, die er für die Uni Oldenburg schreiben musste, war anstrengend. Er saß schon einige Stunden vor dem Laptop und brauchte dringend eine Pause. Es war schwül in seinem Zimmer. Obwohl die Räume hoch und die Fenster geöffnet waren, hatte sich die sommerliche Hitze inzwischen im ganzen Haus breitgemacht. Ben konnte von seinem Fenster aus die ganze Auffahrt bis zur Straße einsehen. Er liebte den Blick in den Garten, der hin und wieder von einem Gärtner gepflegt werden musste, weil er so riesig war. Die Villa am Stadtrand von Oldenburg gehörte schon seit mehr als hundert Jahren seiner Familie und sah von der Straße wie ein altes Gemälde in einem Rahmen aus Büschen und Bäumen aus.
Ben seufzte. Er musste sich ranhalten, denn der Abgabetermin für die Arbeit war morgen. Er wollte gerade weitermachen, als er Birgit und Sanne heftig diskutierend die Auffahrt heraufkommen sah. Bei dem Bild, das sich ihm bot, fing er an zu grinsen. Unterschiedlicher konnten Mädchen wohl nicht aussehen. Seine Schwester war ein langes, dürres Elend, die Haare aschblond und heute zu einem Pferdeschwanz gebunden. Wie immer war sie die Rädelsführerin, während Sanne hin und wieder zu ihr aufsah und überwiegend zuhörte. Sanne sah von Weitem aus wie ein angezogener riesiger Medizinball. Allerdings umspielte ihr kastanienbraunes Haar in Wellen ihr Kinn und schien sogar aus dieser Entfernung zu leuchten. Ben mochte sie. Sie war nicht annähernd so zickig wie seine Schwester, mit der er sich eigentlich immer nur stritt. Die Mädchen waren jetzt im Hausflur zu hören, in dem sie sich wahrscheinlich die Schuhe auszogen. Sie sprachen über die bevorstehende Geburtstagsparty, die derzeit das über alles hinausragende Familienthema war. Gerade wollte er hinunterrufen, dass die Mädchen ihm einen Tee mitmachen sollten, als er eine Gestalt auf der Auffahrt bemerkte. Er beugte sich näher an die Fensterscheibe, um diesen Jemand vielleicht erkennen zu können. Als ob derjenige Ben bemerkt hätte, versteckte er sich hinter einem großen Rhododendron, der neben vielen weiteren die Auffahrt säumte. Ben stutzte. Sollte er hinlaufen und nachschauen? Bis dahin hätte der Typ längst das Weite gesucht. Er ging hinunter zu den Mädchen. Vielleicht hatten sie ja etwas bemerkt. Sanne sah ihn mit strahlenden Augen an. Wie hübsch sie ist!
„Sagt mal, ist euch vielleicht jemand gefolgt?“
Birgit blickte wenig interessiert auf. Sie hatte nur ihre Party im Kopf. „Wieso? Nö, wer sollte uns schon folgen?“
„Ich habe jemanden gesehen, der hinter dem Gebüsch an der Auffahrt verschwunden ist, als ihr ins Haus gegangen seid.“
Sanne, die Ben nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen hatte, erwiderte erstaunt: „Wirklich? Und du weißt nicht, wer das war?“
„Ich konnte ihn nicht erkennen. Er war zu schnell verschwunden.“
„Aber ein Junge war es?“
„Ja, glaub ich schon. Oder ein Mann. Jedenfalls keine Frau.“
„Wollen wir nicht mal nachsehen?“
„Quatsch, der ist doch längst über alle Berge. Wahrscheinlich hat der nur da gepinkelt“, mischte Birgit sich ein.
Sanne sah zweifelnd von einem zum anderen.
Ben spürte, dass sie sehr verunsichert war. Er wollte sie beruhigen und sagte: „Ist wohl nicht so wichtig. Wahrscheinlich hat Birgit recht. Macht ihr mir einen Tee mit? Ich muss dringend weiterarbeiten.“ Schnell drehte er sich um und eilte zur Treppe.
Ich glaub das nicht. Dass der nur pinkeln wollte. Als er oben angekommen aus dem Fenster sah, konnte er niemand mehr entdecken.
***
Ronny hatte Birgit und Sanne von der Schule aus verfolgt. Es war nicht das erste Mal gewesen. Bisher war er unbemerkt geblieben. Die Mädchen hatten heute auf dem Schulhof Einladungen verteilt, aber er war mal wieder übergangen worden. Wie er herausbekam, ging es um eine Geburtstagsparty. Es schmerzte, dass er so oft ignoriert wurde. Eigentlich war er nur an Birgit interessiert. Aber Sanne klebte ständig an ihren Hacken. Jetzt bogen die beiden in die Einfahrt zu Birgits Elternhaus ein. Bevor er sich an seinen Beobachtungsposten begeben konnte, bemerkte er, dass jemand von einem der oberen Fenster genau in seine Richtung starrte.
„Scheiße, der hat mich gesehen!“ Schnell sprang er zur Seite hinter einen großen Busch. Sein Herz pochte. Ich verpiss mich lieber, bevor noch jemand herkommt. Ich muss irgendwie auf die Fete. Lukas muss mich einschleusen. Ich muss nachdenken, wie wir das anstellen. Aber jetzt muss ich erst mal meine Schlangen versorgen.
„Hallo meine Süßen, ihr habt sicher Hunger?“
Anabelle, Ronnys Lieblingsschlange, eine fast orangefarbene Kornnatter, zischte ihn mit der gespaltenen Zunge an, als er in ihr Terrarium sah. Sie glitt von ihrem Baumstamm herunter und schlängelte sich zum Sichtfenster, als ob sie Ronny begrüßen wollte.
„Du bist genauso schön wie Birgit“, sagte Ronny liebevoll und nahm die Schlange aus dem Käfig. Anabelle kringelte sich um seinen Nacken. Ein angenehmes Kribbeln durchzog seinen Körper. Er war inzwischen ein großer kräftiger Bursche geworden und überragte fast alle seine Mitschüler. Er hatte die gleiche Figur wie sein Vater, nur dass der nicht ganz so groß war. Auch dessen braune Augen und die braunen Haare, die ihm immer wieder in die Stirn fielen, hatte er von seinem Vater geerbt. Nachdem er die anderen Schlangen, zwei Vipern und eine grüne Mamba, gefüttert hatte, legte er sich mit Anabelle aufs Sofa und zog seine Hose herunter.
„Ja … Anabelle, weiter so, weiter so.“ Er stöhnte, während Anabelle sich auf seiner nackten Haut hin- und herwand. Sein Glied schien vor Erregung zu bersten. Nachdem er gekommen war, legte er Anabelle zurück in ihr Terrarium. Er warf einen Blick auf seine Giftschlangen. Die grüne Mamba hatte er „Birgit“ getauft. Voller Wehmut dachte er jetzt an die andere Birgit. Er musste sie haben. Nur durch sie konnte er wirklich zur Erfüllung kommen.
***
Nachdem Sanne und Birgit in der Pause die Einladungen zu ihrer Geburtstagsparty verteilt hatten, bekam Sanne ein schlechtes Gewissen. Ronny hatte an der Hauswand der Schule gelehnt und sie und ihre Freundin beobachtet.
Das Gefühl, Außenseiter zu sein, kannte sie nur zu gut. Dass sie nirgends ausgeschlossen wurde, hatte sie nur Birgit zu verdanken. Anfangs machten alle Klassenkameraden wegen ihrer Fettsucht einen großen Bogen um sie, und das tat weh.
Auf dem Rückweg in ihr Klassenzimmer sprach sie Birgit auf Ronny an. „Meinst du nicht, dass wir ihn auch hätten einladen sollen? Er sah so traurig aus. Ich glaube, er hat mitbekommen, dass er nicht dabei sein soll.“
Birgit sah sie empört von der Seite an und blieb abrupt stehen.
„Spinnst du? Der hat sie doch nicht mehr alle. Der hätte mir gerade noch gefehlt.“
Sanne erschrak. Mit einer derartigen Abwehr hatte sie nicht gerechnet.
„Aber er tut mir leid. Er ist sicher sehr unglücklich. Sonst wäre er nicht so ein Außenseiter.“
Birgits Augen waren immer größer geworden. „Außenseiter? Ein Spinner ist der. Und ein Spanner noch dazu. Er hat vor unserem Haus gestanden und in mein Zimmer geglotzt. Und du nimmst den auch noch in Schutz!“
„Was? Das hast du mir ja gar nicht erzählt.“
„Ich hab es nicht so wichtig genommen.“ Birgit war weitergelaufen und sah sie etwas schuldbewusst von der Seite an. „Es war ja auch nur ein Mal. Ich hab es wohl vergessen dir zu sagen. Tut mir leid. Ist aber auch schon eine Weile her.“
Sanne war jetzt stehen geblieben und sah Birgit ungläubig hinterher. „Vergessen?“ rief sie. „Wie lange ist das her? Wann war das?“
Birgit drehte sich um. „Weiß ich nicht mehr so genau. Komm jetzt! Nicht sehr lange. Ich will ihn jedenfalls nicht auf meiner Party haben.“
„… Aber … war der das, der schon mal auf der Auffahrt stand? Du weißt, als Ben jemanden gesehen hat?“
„Kann sein. Hab ich auch schon dran gedacht. Aber wissen tue ich es nicht. Ist mir eigentlich auch egal.“
„Sag mal! Das ist doch nicht egal. Frag ihn, was das soll!“
„Du spinnst. Der kann mich mal.“
„Aber …“ Sanne sah Birgit fassungslos an. „Hast du wenigstens mit Ben darüber gesprochen?“
„Wieso mit Ben? Der geht mir doch so schon jeden Tag auf den Keks.“
„Und deine Eltern? Wissen die das?“
„Quatsch. Was sollen die denn schon machen? Die Auffahrt ist so lang. Wenn jemand hinläuft, ist der doch längst verschwunden.“
„Vielleicht hätten sie die Polizei informiert.“
„Das fehlte noch. So ’n Aufwand für den Spinner.“
„Bist du denn sicher, dass Ronny das war?“
„Klar bin ich sicher. Ich hab ihn genau erkannt. Er hatte ein Fernglas dabei. Der kann doch von da aus genau in mein Zimmer glotzen. Ich hab extra die Gardinen aufgezogen, damit er merkt, dass ich es weiß. Ich hab mich in Pose gestellt.“
Birgit kicherte. Sanne sah sie mit aufgerissenen Augen und offenem Mund an.
„Ich glaub, du bist verrückt geworden.“
Birgit umfasste Sannes Schultern und zog sie an sich, so weit das bei ihrem Umfang möglich war.
„Nur keine Panik“, sagte sie lachend.
„Was soll der mir schon tun?“
***
Ronny machte sich auf den Weg zu Lukas Schröder. Sein Fahrrad war kaputt und er fluchte, weil er laufen musste. Bei der Hitze kam ihm der Weg in die Innenstadt von Oldenburg, in der Lukas mit seinen Eltern wohnte, doppelt so lang vor. Er überlegte, wie er Lukas überreden könnte, ihn zu Birgits Party mitzunehmen. Nachdem er an Lukas’ Wohnungstür geklingelt hatte, öffnete dessen Mutter und er fürchtete einen Augenblick, dass Lukas nicht zu Hause wäre. Aber sie begrüßte ihn freundlich und schickte ihn in Lukas’ Zimmer. Lukas sah überrascht von seinem Schreibtisch auf, als er plötzlich vor ihm stand.
„Was machst du denn hier?“, fragte er etwas unfreundlich.
„Hi, Lukas! … Na ja, ich will nicht lange rumreden, du bist doch auf Birgits Fete eingeladen und … ich muss unbedingt mit.“
„Wieso, bist du nicht eingeladen?“
„Nee, wohl nicht, sonst würde ich nicht fragen. Aber … ich bin scharf auf die Kleine. Kannst du mich nicht einfach mitnehmen?“
Lukas sah wenig begeistert aus. „Also, ich weiß nicht … Wie soll das gehen?“, fragte er.
„Weiß ich noch nicht so genau. Aber ich muss unbedingt mit.“
„Nee, also, das kann ich nicht machen.“
„Was heißt das? Du bist mir noch etwas schuldig. Vergessen?“
Lukas sah Ronny aus den Augenwinkeln an. „Du meinst wegen der Natter?“
„Genau. Du warst so scharf darauf, eine zu bekommen, und ich habe dir eine besorgt. Obwohl deine Eltern das nicht wollten“, ergänzte er. „Was ist überhaupt aus der Kleinen geworden?“
„Ich hab sie im Schuppen versteckt. Mein alter Herr hat’s noch nicht geschnallt. Das darf er auch nicht. Er würde ausrasten.“
„Ist mir auch eigentlich schnuppe, wie du das mit der Schlange hinkriegst. Jedenfalls habe ich noch was gut bei dir.“
„Ich hab ja auch nichts dagegen, dass du mitkommst. Aber wie soll ich Birgit das erklären?“
„Brauchst du nicht. Hauptsache, ich komme mit rein.“
Lukas zögerte. Er sah Ronny unsicher an.
„Na gut. Irgendwie wird das schon gehen. Aber dann musst du mir noch eine Viper besorgen oder eine andere Giftschlange.“
Ronny atmete auf. „Geht in Ordnung. Ich werde sehen, was sich machen lässt.“
***
Die lange Auffahrt, der Eingangsbereich sowie das ganze Haus erstrahlten in einem so prunkvollen Licht, dass jeder Gast erst einmal stehen blieb und tief Atem holte, bevor er sich auf die Villa zubewegte. Die ganze Familie Giese und Sanne Schönewald hatten Stunden gebraucht, um überall Lampions aufzuhängen und Girlanden zu verteilen. Am Nachmittag sah es so aus, als ob sich ausgerechnet heute die Sonne nicht mehr blicken lassen würde, aber rechtzeitig zum Abend hatten die Wolken sich verzogen und das frühe Abendlicht der Sonne konkurrierte mit den unzähligen Lampen. Es dauerte lange, bis Sanne und Birgit jeden Gast begrüßt und die zahlreichen Geschenke entgegengenommen hatten. Mittlerweile war die Party in vollem Gange und weder Birgit noch Sanne hatten die Sache im Griff. Birgits Eltern, Christa und Ferdinand Giese, hatten sich auf Drängen ihrer Tochter ins Obergeschoss zurückgezogen. Ihr Vater ging nur ab und zu nach unten, um sich einen Überblick zu verschaffen. Es hatte ein paar Tage zuvor heftige Diskussionen mit Birgit gegeben, da ihre Eltern sich eigentlich den ganzen Abend unter die Gäste mischen wollten. Aber Birgit sagte, das wäre doch einfach nur peinlich. Niemand würde sich wohlfühlen, wenn es nach Kontrolle riechen würde. Letztendlich war Ben derjenige gewesen, der den Streit geschlichtet hatte. „Ich bin doch dabei“, hatte er gesagt. „Ich werde aufpassen, dass nichts passiert. Ihr könnt ganz beruhigt sein.“
Birgit hatte ihn dankbar angesehen. Das erste Mal, dass sie ihm einen wirklich liebevollen Blick zuschickte. In Bens Augen war eine irritierte Verwunderung zu erkennen gewesen. In Birgits Elternhaus war es in letzter Zeit häufig zu Diskussionen gekommen, weil Birgit zunehmend aufsässig wurde und sich nicht an die Regeln hielt, die ihre Eltern ihr auferlegten. Durch den vollkommen durchorganisierten Haushalt der Gieses war es bisher möglich gewesen, sich wenigstens einmal am Tag zusammenzusetzen, um wichtige Dinge zu besprechen, und wenn es Probleme gab, gemeinsame Nenner zu finden. Aber seit einiger Zeit war das nicht mehr möglich. Birgit nahm sich häufig heraus, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, ohne sich um die Belange ihrer Familie zu kümmern. Birgits Vater nahm das relativ gelassen zur Kenntnis. Er schob es auf die Pubertät und dieses banale Argument brachte er immer wieder zu Birgits Verteidigung an. Ihre Mutter war es, die sich nicht damit abfinden wollte. Auch wenn diese es durchaus normal fand, dass ihre Tochter flügge würde und nicht mehr das kleine Mädchen war, meldete sie Bedenken hinsichtlich der bevorstehenden Party an. Sie traute ihrer Tochter alles Mögliche zu. Deshalb setzte sie durch, dass ihr Mann zu jeder vollen Stunde auf der Party nach dem Rechten sah. Der verdrehte zwar jedes Mal die Augen, wenn er sich ins Getümmel der Partygäste begeben musste, tat seiner Frau aber den Gefallen, wenn auch nicht gerade sehr gewissenhaft.
Als es gegen zweiundzwanzig Uhr klingelte, war es wahrscheinlich eher Zufall, dass Sanne es hörte. Die Musik hatte sich immer mehr zu einem überbordenden Rauschen und Dröhnen des Basses entwickelt, nach dem einige der Geburtstagsgäste sich im Takt auf der Tanzfläche, die eigens auf der Diele des großen Hauses hergerichtet worden war, bewegten. Andere wippten nur mit dem Kopf und nippten an ihren Gläsern. Mit Birgits Eltern war vereinbart, keinen Alkohol anzubieten. Aber einige der Freunde hatten das Alkoholverbot geschickt umgangen, indem sie in die Colaflaschen, die sie mitgebracht hatten, unterschiedlichen Fusel gefüllt hatten, der überall die Runde machte. Birgit, die in ihrem engen Kleid, ohne es zu ahnen, einer grünen Schlange glich, war in ihrem Element. Sie war die Königin.
Gerade, als Sebastian Herzog sich darum bemühte, ihr einen Kuss auf den Mund zu geben, sah sie Ronny auf das kleine Sofa zukommen, auf dem sie saßen. Für einen winzigen Moment stockte ihr Atem, bevor sie betont gelassen fragte: „Wie kommst du denn hierher?“ Nach dem köstlichen Colagesöff übertünchte eine gewisse Gleichmütigkeit ihre sonst so aufbrausende Art. Dennoch ergänzte sie mit einem leichten Stirnrunzeln: „Du warst doch gar nicht eingeladen.“
Nach dieser direkten Konfrontation sah Ronny sie etwas verunsichert an. Birgits alkoholträchtiger Zustand war aber so offensichtlich, dass er Mut fasste und sagte:
„Deine Busenfreundin hat mich eingeladen. Wusstest du das nicht?“
Birgit schaute jetzt misstrauisch. Sie wollte aufstehen und nach Sanne sehen, fiel aber auf das Sofa zurück.
Sebastian, der verärgert über Ronnys Auftritt war, hatte offensichtlich ebenfalls zu viel des „köstlichen Gesöffs“ intus. Er stand auf, sagte: „Ich muss mal“ und verschwand.
Ronny war wie verzaubert von Birgits Anblick. Spontan setzte er sich zu ihr auf das Sofa. Erschrocken rückte sie ein Stück von ihm weg. Ronny perlte Schweiß auf der Stirn, als er sagte: „Ich habe ein besonderes Geschenk für dich. Ich konnte es aber nicht mitbringen.“
Birgit, die zwischen Widerwillen und Neugierde schwankte, sagte: „Aha, und was soll das sein?“
„Du musst mit zu mir kommen, wenn du es haben willst.“
„Vielleicht will ich es ja gar nicht haben.“
„Ich glaube doch. Denn du willst doch immer etwas Besonderes. Stimmt’s?“
„Du musst es ja wissen.“
Sanne tauchte zwischen den Gästen auf. Ronny sah es von Weitem und stand schnell auf. Im Weggehen raunte er: „Morgen um vier Uhr. Ich warte an der Straße vor der Auffahrt auf dich. Dann bekommst du es. Aber verrate es niemandem.“ Schnell machte er sich durch die ausgelassenen Schüler davon.
„Ich denke, du wolltest Ronny nicht einladen“, sagte Sanne, die jetzt vor dem Sofa angekommen war. Ihre Stimme klang gleichermaßen überrascht wie vorwurfsvoll. „Warum hast du es dir anders überlegt?“
Birgit sah sie erstaunt an.
„Wie? Der hat doch gesagt, du hättest ihn eingeladen.“
„Was? Wie käme ich dazu? Ich hätte dich doch zumindest gefragt. Außerdem wusste ich doch, wie du dazu stehst.“
Birgits Augen waren so glasig, dass Sanne erschrak. Sie hatte sich zurückgehalten und das verbotene Getränk standhaft abgelehnt.
„Du hast zu viel getrunken“, sagte sie.
„Jetzt spiel nicht den Moralapostel“, antwortete Birgit verärgert.
„Meinetwegen trink so viel du willst. Ich könnte mir nur vorstellen, dass deine Eltern sauer werden, wenn sie das mitbekommen.“
„Müssen sie ja nicht … Ich glaub, ich muss kotzen“, lallte Birgit und versuchte, sich von dem Sofa zu erheben.
Sanne ergriff ihren Arm. Sie sah sich hilfesuchend nach Ben um, der war aber nirgends zu entdecken.
„Hast du Ben gesehen?“, fragte sie Sebastian, der auf sie zukam.
„Ich glaube, der ist gerade in die Küche gegangen.“
„Hole ihn! Bitte! Sofort!“
Sebastian setzte sich zögernd in Bewegung. Sanne versuchte, Birgit zu stützen. Aber diese schob sie weg. „Lass das“, schimpfte sie. „Ich kann wohl noch selbst gehen.“
Sanne stand hilflos daneben. Sebastian kam mit Ben zur Hilfe.
„Ben, bitte! Sie hat gesagt, sie muss kotzen. Bitte hilf ihr!“
Sannes Stimme war den Tränen nahe.
Ben sah sie an. „So schlimm wird es wohl nicht sein.“
Als er Birgit umfasste, versuchte diese auch Ben wegzuschieben. Aber er ließ es nicht zu und brachte sie zur Toilette. Schnell zog er den Schlüssel aus der Tür, bevor Birgit sich einschließen konnte. Sanne sah ihn dankbar an.
„Bitte warte mit mir, bis sie wieder herauskommt.“
„Na klar. Was denkst du denn. Wir müssen sehen, dass meine Eltern das nicht mitbekommen. Geh mal zur Treppe und sag mir Bescheid, falls mein Vater herunterkommt. Ich halte hier so lange die Stellung.“
Ben sah Sanne schuldbewusst hinterher. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er nicht besser auf Birgit und die ganze Situation aufgepasst hatte. Es schien alles ein wenig aus dem Ruder zu laufen.
***
Ronny war mit dem Gefühl, einen ersten Sieg errungen zu haben, zu seinen Schlangen geeilt. Er hatte die beiden Mädchen gegeneinander ausgespielt. Zunächst hatte er Sanne weisgemacht, dass Birgit ihn eingeladen hatte. Die hatte ihn zwar skeptisch angesehen, ihn aber schließlich dennoch ins Haus gelassen. Lukas hatte seinen Mund gehalten und sich davongeschlichen, nachdem er seine Glückwünsche heruntergestammelt hatte. Kurz nach ihnen war noch ein Gast erschienen, der Sanne davon abhielt, sich weiter um sie zu kümmern. Ronny war vor Staunen der Mund offen stehen geblieben, als er auf ein riesiges Gemälde aufmerksam geworden war, von dem Birgit ihm entgegenlachte. Gebannt war er auf das Bild zugegangen. Bei näherem Hinsehen hatte er geglaubt zu erkennen, dass es sich doch nicht um Birgit handelte. Die Frau war schon etwas älter, sah aber fantastisch aus, in ihrem engen grünen Kleid, das bis zum Boden reichte und sich unten zu einem Volant ausbreitete. Als er sich durch die vielen Gäste zu Birgit durchgekämpft hatte, glaubte er, das Kleid an Birgit wiederzuerkennen, nur dass es jetzt kurz war. Nachdem Sanne aufgetaucht war, hatte er sich schnell aus dem Staub gemacht, und jetzt stand er vor seinen Terrarien und konnte es kaum fassen. Ich hab es geschafft. Sie hat angebissen. Ich bin mir sicher.
Ehrfürchtig nahm er seine Anabelle aus dem Terrarium und legte sie um seinen Nacken.
„Stell dir vor, meine Schöne. Ich bin mit Birgit verabredet. Ich weiß ganz genau, sie wird euch auch lieben. So wie sie aussieht, ist sie mit euch verwandt.“ Im Glücksrausch legte er sich mit Anabelle aufs Sofa.
Pünktlich um sechzehn Uhr des nächsten Tages stand Ronny vor der Auffahrt der Giesevilla. Sein Herz klopfte. Wird sie wirklich kommen?
Seine Zuversicht war plötzlich zu einem Minimum zusammengeschrumpft. Was bilde ich mir eigentlich ein! Die kommt doch nicht. Niemals.
Zehn Minuten vergingen. Keine Birgit in Sicht. Auf das Fernglas hatte er verzichtet. Wie hätte er Birgit das erklären sollen? So konnte er jetzt aber nichts hinter ihrem Fenster entdecken. Verzweifelt und mit Wut auf sich selbst lief er ein Stück die Straße hoch und wieder zurück.
Wie konnte ich nur so blöd sein und denken, sie würde tatsächlich kommen!
Er wollte sich schon davonmachen, als er die Haustür hörte. Sein Herz schien stillzustehen, als er in Richtung Haus sah. Birgit kam schnellen Schrittes auf ihn zu. „Da bin ich also“, sagte sie.
„Hallo“, begrüßte er sie unsicher. „Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.“
„Will sehen, was du mir zu bieten hast“, sagte sie ohne Umschweife.
„Na, dann komm!“
„Wohin gehen wir überhaupt?“
„Ist ein ganzes Stück aus Oldenburg raus. Wir können mit dem Bus fahren.“
Birgit sah ihn zögernd an. Zweifel standen in ihrem Gesicht. Niemand wusste, was sie vorhatte, noch nicht einmal Sanne.
Sie trottete neben Ronny her bis zur Bushaltestelle, ohne ein Wort zu sagen. Auch er schwieg. Es dauerte nur einen Moment, bis der Bus kam und sie einstiegen.
„Ist ja ’ne Weltreise“, brach sie das Schweigen. Sie hatten die Innenstadt hinter sich gelassen und Birgit war immer unruhiger geworden. „Wohin fahren wir überhaupt?“
„Sind gleich da, wirst schon sehen.“
Als sie ausstiegen, standen nur noch vereinzelt Häuser an der Straße. Nur wenige schienen bewohnt zu sein.
„Hier war ich noch nie“, sagte Birgit mehr zu sich selbst, während sie sich immer wieder umsah.
„Ist nicht mehr weit“, sagte Ronny, der ihre Verunsicherung spürte. Er schlängelte sich durch eine kleine Häusergruppe hindurch zu einem Hinterhof. Am Ende stand eine kleine Baracke, auf die er jetzt zügig zuging. Birgit folgte zögernd.
„Wohnst du jetzt etwa hier?“ Ihre Stimme wollte nicht richtig gehorchen.
„Nein, aber hier ist die Überraschung. Ich habe mir nur eine Bude eingerichtet, in der ich mich meistens aufhalte. Meine Eltern ahnen nichts davon. Sie sind kaum zu Hause und wissen nie, wo ich gerade bin.“
„Aber dann brauchst du doch diese Bude nicht, wenn sie nie da sind.“
Ronny sah sie geheimnisvoll an. „Sie wissen nichts von meinen Freundinnen, und sie dürfen es auch nicht wissen.“
Birgits Gesichtsausdruck war ein einziges Fragezeichen. Was mache ich hier? Was meint er mit Freundinnen? Ihre Schritte wurden immer langsamer.
Ronny bemerkte ihre Unsicherheit. „Gleich ist es so weit. Du wirst staunen. Komm!“
Birgit sah sich noch einmal um. Weit und breit war niemand zu sehen. Ronny hatte die Tür inzwischen aufgeschlossen und sah sie erwartungsvoll an. „Na, nun mach schon.“
Zögernd ging sie durch die Tür.