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An der Urnäsch

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Der Tag war genau so, wie Leni und Angelina ihn sich vorgestellt hatten, strahlend blau und unerbittlich heiss. Was hatte Leni vor drei Tagen gesagt? In der Sonne schmoren und nach Abkühlung lechzen?

Sie wollten die Urnäsch entlangwandern. Es war Angelinas Vorschlag gewesen. In der Schlucht mit ihren steilen Wäldern und felsdurchsetzten Flanken würde sich die Kühle halten und das Wasser, aus den Bergen kommend, sich kaum aufwärmen. Angelina hatte Würste und Bürli eingekauft, auch ein wenig Gemüse. Sie hatte fast so etwas wie Vorfreude verspürt. Darauf, durch diese wilde Schlucht zu ziehen, das kalte Wasser zu spüren, Steine zu schiefern und natürlich aufs Feuermachen. Wie lange hatte sie nicht mehr Holz aufgeschichtet, es angezündet, zugesehen, wie die Flammen sich hochschlängelten, mehr und mehr Holzscheite erfassten und diese dann glühend zusammenfielen?

Am Vorabend hatte Angelina Lenis Fahrrad aus dem Keller getragen, vor dem Haus mit einem Schlauch abgespritzt, die Reifen aufgepumpt, die Kette geölt und eine Proberunde gedreht. Es war gefahren. Ein zweites Rad hatte Leni bei der Nachbarin ausgeliehen.

Mit den Fahrrädern fuhren sie nun ins Kubel. Da es abwärts ging, erreichten sie schnell die alte Holzbrücke, dort wo Sitter und Urnäsch zusammenflossen, und wenig später die zweite Holzbrücke über die Urnäsch. Die Leute nannten sie Hüslibrugg, weil sie überdacht war und Seitenwände mit zwei Fensteröffnungen hatte. Angelina lehnte das Fahrrad ans Metallgeländer am Wegrand und betrat die Brücke, auf der es angenehm schattig war. An den Querbalken standen Sprüche in verschlungener Schrift. Bereits als Kind hatte Angelina die Schrift zu entziffern versucht. Sie war fasziniert gewesen von dieser Baute mit ihrem verwitterten Holz. Sie hatte sich berittene Kaufleute und Händler mit schweren Karren und beladenen Lasttieren vorgestellt, wie sie den beschwerlichen Weg über die holprigen Pfade ins Tobel hinunter und wieder hinauf auf die Hügel des Appenzellerlandes meisterten.

Nun betrachtete sie die verschnörkelte Schrift in mattem Schwarz auf dem bleichen, leicht gräulichen Holz. Mit etwas Mühe las sie: «Die Brug in deiβem Tieffen tobel, Wirt genant Alhier Im Kobel.» Sie drehte sich um und las an einem anderen Balken: «Zu Wüssen ist das die Brug 20 schuh Länger ist dan die vor der stehete.»

Dann ging sie zur Fensteröffnung in der Brückenmitte und lehnte hinaus. Unter ihr hatte das Wasser einen leichten Grünstich. Als Kinder hatten sie von hier Steine in den Fluss geworfen. Als ob es dort unten nicht schon genug davon gibt, dachte sie.

Leni war immer noch dabei, die Schrift des Balkens über ihr zu entziffern. «Anno 1778 Durch ein unerdencklichen Wasser guβ, Nimt es 6 Deckte Brugen an deiβem Nemlichen fluβ, Auch damit 3 Fuhr ville weg und alle samtliche Steg, … Kannst du das lesen?», fragte sie. «Fuhr ville oder Muhr?»

«Ville ist Französisch und heisst Stadt», antwortete Angelina. Sie blickte immer noch hinunter zur Urnäsch.

«Das ist bestimmt Französisch.»

Angelina stellte sich neben Leni und las laut: «Nimt es 6 Deckte Brugen an deiβem Namlichen fluβ.»

«Da war ich auch schon, und weiter?», konterte Leni.

«Auch damit 3 Wuhr ville weg und alle samtliche Steg, vom urnäscher Berg und thall biβ hie Här bein Weg», las Angelina, obwohl sie sich auch nicht ganz sicher war. «Wer wohl damals bestimmt hat, was hier geschrieben steht?»

«Der Erbauer», antwortete Leni. «Auf der Tafel vor der Brücke steht, dass sie im Jahr 1780 vom berühmten Zimmermeister Hans Ulrich Grubenmann erbaut wurde.»

«Oder die Obrigkeit? Vielleicht war’s auch egal. Damals konnten bestimmt viele nicht lesen. Kennst du diesen Grubenmann?»

«Nein, Brücken sind nicht gerade mein Spezialgebiet.»

«Es muss wild getan haben, wenn sechs Brücken vom Wasser mitgerissen wurden», sagte Angelina, während sie zurück zum Fahrrad ging und den Rucksack vom Gepäckträger nahm.

«Da hoffe ich, es gibt kein Gewitter.» Leni blickte zum Himmel, der immer noch wolkenlos blau war.

Sie kletterten über den nahen Holzzaun und folgten dem Fusspfad über die Wiese. Bald erreichten sie den Wald und eine Felswand mit einer abschüssigen Stelle, bei der ein Drahtseil befestigt war. Angelina kletterte behände hinunter.

«Du hättest mir sagen sollen, dass ich hier Kletterkenntnisse brauche. Dann hätte ich letzte Woche ein Höhentraining absolviert», stöhnte Leni, als sie mit dem Fuss nach einem Felsabsatz tastete, während sie sich mit beiden Händen ans Seil klammerte. Angelina packte Lenis linken Fuss und schob ihn auf einen breiten Vorsprung. Die Ferse hielt sie mit den Händen fest umklammert. Leni schwankte, als sie den anderen Fuss abhob. Fast hätte sie Angelina ins Gesicht getreten. «Jetzt das Gewicht langsam nach unten verlagern», sagte Angelina ruhig.

«Wohin?»

«Da rechts kannst du stehen.»

Leni stiess einen undefinierbaren Laut aus, bevor sie ihren Körper nach unten sinken liess und ihr rechter Fuss Halt fand. Angelina liess die linke Ferse los und trat einen Schritt zurück. Abermals hätte Leni fast das Gleichgewicht verloren. Dann streckte sie das linke Bein, bis es auf den erdigen Untergrund traf und sie wieder festen Boden unter den Füssen hatte. «Puh, wo führst du mich da hin!»

Kurz danach kamen sie zu einer Stelle, an der die Bäume licht standen. Ein Paar mit zwei Kindern hatte hier eine Decke ausgebreitet. Angelina grüsste und folgte dem Pfad ans Flussufer. Dort zog sie ihre Sandalen aus und trat barfuss auf die Steine. Die Hitze brannte an den Fusssohlen. Schnell hüpfte sie ins kühle Nass. So heiss hatte sie es nicht vermutet. Und das Wasser war weniger kalt als erwartet. «Wir müssen hier queren», sagte sie zu Leni.

Der Fluss war wegen der anhaltenden Hitze zu einem Rinnsal verkommen und bildete nur an wenigen Stellen tiefere Becken. Angelina wusste, dass es ein ganzes Stück flussaufwärts eine Verbreiterung gab, bei der es einen kleinen See hatte, das Tüfelsseeli. Bis dorthin wollte sie gehen. Die Stelle war tief genug zum Schwimmen. Früher hatten sich an diesem Ort die Nacktbadenden getummelt. Ob es immer noch so war, überlegte Angelina. Hatten nicht Leni und sie davon geträumt, in der Sonne zu liegen und für einmal ohne Bikiniabdrücke braun zu werden? Hinter dem Tüfelsseeli standen die Felswände so dicht beieinander, dass es gerade breit genug war, um hindurch zu schwimmen. Der Ort hatte von jeher eine Anziehungskraft und Faszination auf Angelina ausgeübt, die sie sich nie ganz erklären konnte. Es war ihr immer unheimlich vorgekommen, zwischen den Felswänden zu schwimmen. Dort war es dunkel und das Wasser eisig und tief. Einmal war ihr eine Schlange im Wasser begegnet, nur kurz, dann hatte sich diese ans Ufer geschlängelt und war im Dickicht verschwunden. Fast so, als hätte Angelina sich etwas eingebildet.

Angelina versuchte, nicht an schwimmende Schlangen zu denken, sondern sich auf die Steine im seichten Wasser zu konzentrieren. Einige waren mit Algen überzogen und rutschig, andere spitz und stachen in die Fusssohlen. Vorsichtig watete sie ans andere Ufer. Leni folgte ihr mit unsicheren Schritten. Sie hatte es vorgezogen, ihre Turnschuhe anzubehalten. Bald darauf versperrten Felsen den Weg und die nächste Flussquerung stand an. Angelina sprang diesmal von einem grossen Stein zum anderen und hielt auch am gegenüberliegenden Ufer nicht inne, sondern sprang weiter und weiter. Sie dachte an Maurice. Ob er ins Wallis gefahren war? Sich bereits im Abstieg vom Gipfel befand? Bei dieser Hitze musste man früh sein, bevor der Schnee weich wurde. Oder war er zu Hause geblieben, alleine? Vermisste er sie? Und ihr Kind?

Als sie sich umdrehte, stellte Angelina fest, dass Leni ein rechtes Stück zurücklag. Sie kam nur langsam vorwärts. Angelina wollte auf sie warten. Sie dachte ans Bergsteigen, wie manche Männer, von Kraft und Ehrgeiz vorwärts getrieben, ihr von weit oben aufmunternde Worte zuriefen. Und obwohl Angelina keinen Ehrgeiz hegte und ihr Ziel, das Tüfelsseeli zu erreichen, im Grunde unwichtig war, wartete sie nicht. Eine Unruhe drängte sie vorwärts. Als ob stillstehen aufgeben wäre.

Kurze Zeit später hörte sie Leni ihren Namen rufen. Sie nahm sich vor, nur noch diese eine Stelle zu queren und am anderen Ufer im Schatten auf Leni zu warten. Ihre Füsse tasteten sich von einem Stein zum nächsten. In der Mitte hatte es eine kleine Stromschnelle und sie war tiefer, als Angelina vermutet hatte. Bis zur Hüfte stand sie im Wasser. Die Strömung riss an ihren Beinen. Sie hätte den Fluss besser an der seichten Stelle weiter oben gequert. Wenn sie fiele, würde die Strömung sie flussabwärts über ein, zwei Felsstufen mitreissen. Wäre es schlimm? Zu ertrinken?

Dafür führte der Fluss zu wenig Wasser. Hastig setzte sie einen Fuss vor den anderen, rutschte, kämpfte ums Gleichgewicht, fing sich auf, stolperte vorwärts und fiel in den trockenen, weichen Kies. Ein Brennen am rechten Ellbogen durchzog ihren Körper. Sie spürte die Wärme des Bodens und schloss die Augen. Einfach liegen bleiben, dachte sie. Hier am Ufer der Urnäsch, für immer.

«Angelina, hast du dir wehgetan?» Leni kniete neben ihr. Durch Tränen hindurch konnte Angelina verschwommen ihr besorgtes Gesicht sehen.

«Mein Gott, hast du grosse Schmerzen?»

Angelina öffnete die Augen und wollte etwas sagen. Doch es kamen keine Worte.

Leni schüttelte sie sanft an der Schulter. «Angelina, wo tut es weh?»

«Es ist gestorben, mein Kind ist tot.»

Leni schaute sie verwirrt an.

«Ich war schwanger und nun ist es tot. Ich hatte eine Fehlgeburt.»

Schweigend legte Leni die Arme um ihre Schultern und drückte sie an sich. Tränen quollen aus Angelinas Augen.

Welche Farbe hatte der Tod? Schwarz wie die Nacht, Grau wie der Fels oder doch ein tiefes dunkles Blau, so wie das Meer?

«Das tut mir leid», hörte Angelina Leni leise sagen.

«Es tut einfach nur weh. Unendlich weh.» Langsam setzte Angelina sich auf und stützte sich mit den Händen im Kies ab. Sie spürte das Brennen am Ellbogen.

«Ganz schön aufgeschürft», sagte Leni, als sie die Wunde sah.

«Hast du eine Apotheke dabei?»

«Nein.» Leni schüttelte den Kopf.

«Scheiss-Tag!»

Leni nickte. «Ja, ein Scheiss-Tag.»

Sie lachten beide.

Und sie gingen nicht bis zum Tüfelsseeli. Leni mochte nicht mehr weitergehen und Angelina hatte keine Lust mehr. Auf dem groben Kies neben einer kleinen Feuerstelle liessen sie sich nieder. Sie suchten Holz, und als genügend beisammen war, schichtete Angelina es auf. Bei einer Fichte brach sie die unteren feinen Zweige ab und machte daraus ein Bündel. Nun zündete sie das Reisig an, und als es aufflammte, schob sie es unter den Holzstapel. Schnell fingen die Äste darüber Feuer. Leni hatte ihren Cervelat auf einen Stock gespiesst und hielt ihn über das lodernde Feuer.

«Du musst warten, bis es Glut hat», sagte Angelina.

«Ich habe aber Hunger.»

«So verbrennt die Wurst.»

«Das ist mir egal.»

«Leni, du bist stur.»

«Nein, aber ich habe Hunger. Ausserdem ist es meine Wurst.»

Angelina legte ihren Cervelat zur Seite und nahm stattdessen eine Gurke aus dem Rucksack. Sie schnitt diese in der Mitte entzwei und biss in die eine Hälfte. Die Schale war fest. Ich hätte sie schälen sollen, dachte sie. Eigentlich mochte sie Gurken nicht besonders, hatte aber ebenfalls Hunger.

«Vielleicht bin ich stur», sagte Angelina auf der harten Schale herumkauend.

«Wie meinst du das?»

«Weil ich warten muss, bis das Feuer heruntergebrannt ist, obwohl ich Hunger habe.»

Leni lachte.

«Ich hasse Regeln.»

«Ach komm», sagte Leni, «du hast doch immer gemacht, was du wolltest.»

«Wann?»

«Früher schon. Bist einfach ins Ausland abgehauen.»

«Bin ich abgehauen?»

«Wie würdest du es denn nennen?»

«Die weite Welt entdecken.»

«Beschönigend.»

Angelina überlegte. «Zugegeben, es könnte als eine Flucht angesehen werden. Ich wollte weg, wieso auch immer.»

«Vielleicht wollten wir alle auf irgendeine Art weg.»

«Ich bin oft abgehauen», sagte Angelina nachdenklich. «Jetzt bin ich weg aus Genève, fort von Maurice. Lebendig macht es mein Kind nicht mehr.» Sie starrte ins Feuer. Langsam zerfielen die Äste zu Glut. «Denkst du, es kommt darauf an, wann jemand stirbt?»

Leni blickte sie an. «Du meinst, ob es darauf ankommt, ob ein Kind stirbt oder ein alter Mensch?»

«Verändert die Länge des Lebens etwas im Tod?»

«Denkst du an die ungetauften Kinder bei den Katholiken? Daran, dass diese nicht in den Himmel kommen?»

Angelina schüttelte den Kopf. «Nein, nicht wirklich. Ich glaube nicht mehr an die Kirche. Warum sollen die Ungetauften bestraft werden und nicht ins Paradies gelangen? Weil sie nicht leben durften?»

«Glaubst du an ein ewiges Leben?», fragte Leni nachdenklich.

«Weiss nicht», antwortete Angelina.

«Gerne hätten wir Sicherheit darüber, was nach dem Tod kommt. Doch uns bleibt nur der Glaube.»

«Der Gedanke ist tröstlich, meinem Kind irgendwann wieder zu begegnen. Es in meine Arme zu schliessen.»

«Angelina, das wirst du.»

«Meinst du?»

«Schau dich um. Es gibt mehr als dieses kümmerliche Leben.»

Angelina blickte zum Fluss. Das Wasser war leicht grünlich, fast klar. Ja, kümmerlich, dachte sie.

Das Holz war heruntergebrannt. Die Glut hatte ein leuchtend helles Rot und am Rand flammte das Feuer nochmals kurz bläulich auf. Blauorange, dachte Angelina.

Sie griff nach dem Cervelat, spiesste ihn auf eine mit dem Messer zugespitzte Astgabel und hielt ihn über die Glut.

Sonntagsgeschirr

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