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Salat am Abend

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«Hast du Hunger?» Leni stand in der Küche vor dem geöffneten Kühlschrank. «Salat? Oder soll ich etwas kochen?»

Angelina schloss die Wohnungstür hinter sich, liess sich auf den Fussboden fallen und lehnte gegen die Wand. Essen? «Diese Hitze!»

«Du hast recht, es ist viel zu heiss, um etwas Warmes zu essen. Also Salat.»

Vom Bahnhof war Angelina durch die Mülenenschlucht spaziert, und obwohl der Schluchtweg um diese Zeit im Schatten lag, stand ihr der Schweiss in Perlen auf der Stirn.

«Mein Gott!» Leni kam zwei Schritte auf Angelina zu und grinste. «Muss ich dir ein Glas Wasser bringen oder gleich einen Eimer, eiskalt?»

Angelina lehnte sich nach vorne und öffnete langsam die Schnürsenkel ihrer Turnschuhe. Leni verschwand in der Küche, um im Kühlschrank zu hantieren. Vom Gang aus sah Angelina, wie ihr gelocktes, schwarzes Haar ihre nackten Schultern verdeckte und in der Mitte ihres Rückens endete. Sie trug ein knallig rosafarbenes Trägershirt und enge, weisse Jeans. Und obwohl ihr Körper massig wirkte, strahlte sie Behändigkeit und Vitalität aus.

Leni und sie kannten sich seit der Schulzeit. Schon damals war Leni das Gegenteil von ihr gewesen, klein, pummelig, unsportlich, fröhlich. Wieso sie Freundinnen geworden waren? Weil sie beide die Schule gleich wenig mochten? Weil Gegensätze sich anzogen?

Leni hatte allem etwas Gutes abgewinnen können, nur der Schule nicht. Angelina hatte damals nur eines gewollt: weg. Manchmal war Angelina neidisch gewesen auf Leni mit ihrem unerschütterlichen Optimismus. Leni hatte nach der Schule eine kaufmännische Lehre bei der Gemeinde gemacht, während Angelina weggegangen war, zuerst zu einer wohlhabenden Familie ins Welschland, später auf Reisen, ans andere Ende der Welt nach Australien. Ohne Ausbildung, ohne Geld, ohne Ziel.

Fast hätten sie sich aus den Augen verloren. Dann, vor drei Jahren, hatte Leni sie in Genève besucht und war zwei Wochen geblieben. Vom ersten Augenblick an waren sie sich so vertraut gewesen wie früher.

Leni schloss den Kühlschrank. Angelina hörte, wie sie am Spülbecken hantierte, Wasser laufen liess, eine Schranktür öffnete. Sie zog die Turnschuhe von den Füssen und blieb einfach auf dem Boden sitzen. Hätte Leni gerne Kinder? Einen Mann? Was wusste sie wirklich von ihr?

«Leni?»

«Ja.»

«Hättest du gerne Kinder?»

Leni kam aus der Küche und blickte auf Angelina hinunter. «Willst du nicht duschen?»

«Du hast recht, ich brauche eine Abkühlung.»

Angelina drehte den kalten Wasserhahn auf und stellte sich unter die Brause. Sie blieb reglos darunter stehen, bis sie am ganzen Körper zitterte. Dann stellte sie das Wasser ab und seifte sich ein. Danach brauchte sie eine Weile, bis sie eine für sich angenehme Wassertemperatur gefunden hatte. Einmal war es zu heiss, dann wieder zu kalt. Schliesslich schob sie den Duschvorhang zur Seite, angelte das Frotteetuch vom Haken und trocknete sich in der Badewanne stehend ab.

«Essen», hörte sie Leni rufen.

In dem Moment als Angelina in die Küche kam und Leni den Salat auf den Tisch stellte, klingelte das Telefon.

«Fang schon an», sagte Leni leichthin.

Sie hatte den Tisch schön gedeckt mit einem beigen Tischtuch und dunkelblauen Servietten, passend zu den weissen Tellern mit blauem Rand.

«Es ist für dich. Maurice.»

«Sag ihm, ich rufe später zurück.»

«Ça va?», fragte Maurice als Erstes.

«Ich war bei Vater. Soll dir einen Gruss ausrichten.»

«Merci, wie geht es ihm?»

«Er hat jetzt Zeit, Bücher zu lesen. Wir haben eben gegessen. Und du?»

«Ich treffe mich gleich mit Robert, wir springen noch in den See.»

«Heiss heute.»

«C’était très pénible. Zum Glück haben wir eine Klimaanlage im Büro. Bei der Hitze spinnen auch die Leute und nicht nur die Computer.»

Angelina hörte, wie Maurice lachte.

«Et toi?», fragte er.

«Ich?» Wenn Maurice bei ihr wäre, sähe er ihre Traurigkeit?

«Ja, was machst du heute noch?»

«Weiss nicht.»

«Attends, es hat geklingelt. Das ist Robert. Je reviens tout de suite.»

Angelina schnäuzte sich die Nase und fuhr mit dem Handrücken über die Augen. Dann hörte sie Maurice’ Stimme. «Weisst du schon, wie lange du bleibst?»

«Nein.»

«Am Wochenende, bei diesem Wetter könnten wir … On pourrait aller en Valais.» Als Angelina schwieg, fuhr er fort: «Bon, on verra. Ich muss los. Robert wartet. Mach’s gut! Ich melde mich.»

Angelina legte den Hörer auf. Trotz der Hitze fröstelte sie.

Leni sass in der Küche und blätterte in einem Gesundheitsmagazin aus der Apotheke. Das Geschirr hatte sie weggeräumt. «Kaffee?», fragte sie.

Angelina liess sich auf den Stuhl fallen und schaute aus dem Fenster. Von hier waren ein paar dunkle Baumwipfel des Berneggwaldes zu sehen. Langsam setzte die Dämmerung ein. «Leni, kann ich noch ein paar Tage bleiben?»

«Du kannst bleiben, solange du willst. Hat es mit Maurice zu tun?»

Angelina blickte wieder zum Wald. Dieses kräftige Grün der Bäume. Hatte es mit Maurice zu tun? War sie vor ihm geflohen? Oder vor sich selbst?

«Manchmal frage ich mich, was einen in einer Partnerschaft wirklich verbindet.»

«Und?», fragte Leni.

«Maurice will nächstes Wochenende eine Hochtour machen.»

«Hast du keine Lust?»

«Nein.»

Leni lachte. «Ich auch nicht.» Ihr Lachen steckte an.

«Und, was machen wir am nächsten Wochenende?», fragte Angelina.

Leni presste die Lippen aufeinander, als ob sie nachdenken würde. «In der Sonne schmoren, bis wir die Farbe dunkler roter Krebse angenommen haben und nur so lechzen nach kühlendem Nass.»

«Genau, splitternackt. Keine Bikiniabdrücke, nur ebenmässiges Braun.»

«Und du liest vor, während ich dahindöse.»

«Vorlesen?»

Leni stand auf, ging ins Wohnzimmer und kam mit einem roten Taschenbuch zurück, das sie aufschlug. Sie begann zu lesen: «Ich lag auf dem Liegestuhl und blätterte in einer alten Illustrierten. Die Sonne brannte. Der Himmel war blau und endlos. Das Meer war blau und endlos. So ging das seit Wochen.»

«Tönt gut.»

«Genau. Mein sechster Mord

«Was?»

«Milena Moser: Gebrochene Herzen oder Mein erster bis elfter Mord.» Leni legte das Buch auf den Tisch, schaltete das Licht ein und liess sich auf den Stuhl zurücksinken. Angelina nahm die dunklen Ringe unter ihren Augen wahr. Wie müde sie aussah.

«Strenger Tag heute?», fragte Angelina. Sie selbst fühlte sich völlig erschöpft.

Leni zuckte mit den Schultern. «Du meinst meine Arbeit auf dem Steueramt? Wir müssen die Steuern häufen, um Defizitberge abzubauen. Nur geben andere das Geld aus, das wir reinholen.»

«Wie lange bist du schon dort?»

«Ewig. Aber mehr dazu ein anderes Mal, ich bin todmüde. Du bleibst mir anscheinend noch eine Weile erhalten.» Sie zwinkerte Angelina mit dem einen Auge zu. «Da bleibt noch eine Menge Zeit für mörderische Pläne.»

Sonntagsgeschirr

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