Читать книгу Sonntagsgeschirr - Anita Obendrauf - Страница 8

Sonntagsgeschirr

Оглавление

Kaum hatte Angelina das schmiedeeiserne Tor hinter sich geschlossen, prallte der Verkehrslärm auf sie ein. Für einen kurzen Augenblick hatte sie ein Gefühl von Gehaltensein und innerer Ruhe verspürt. Als sie nun den Zaun entlangging, der den Friedhof umgab, brauste ein Auto nach dem anderen vorüber. Widerstrebend schlenderte sie zur nächsten Bushaltestelle. Am liebsten hätte sie sich in Lenis Wohnung verkrochen. Doch Vater erwartete sie. «Ich bin in der Gegend», hatte sie am Tag zuvor am Telefon gesagt. «Bist du morgen zu Hause?»

Sie wusste nicht, ob er sich über ihr Kommen freute. Seit Mutters Beerdigung war sie nicht mehr bei ihm gewesen. Sieben Jahre waren vergangen und es hatte keine Fragen von ihm und keine Erklärungen von ihr gegeben.

Angelina starrte durchs Busfenster, vor ihr lag die Brücke. Es gab keinen Friedhof in Winkeln. Die Toten wurden in der Stadt begraben. Wenn sie als Kind gefragt worden war, ob sie aus der Stadt sei, hatte sie verneint. Sie wohne ennet der Sitter. Auf der anderen Seite des Flusses. Für sie war es ein Dorf gewesen, obwohl Winkeln längst zur Stadt gehört hatte.

Als der Bus über die Fürstenlandbrücke fuhr, drückte sie ihre Stirn an die Fensterscheibe. Drei Jahre lang war sie jeden Tag diesen Weg mit dem Fahrrad zur Schule gefahren. Über dem Fluss hatte sie jeweils angehalten und in die Tiefe geblickt. Die Steine hatten sich im seichten Wasser erahnen lassen. Nach Regengüssen hatte sich die Farbe des Flusses von Moosgrün in ein gelblich lehmiges Braun verwandelt. Sie hatte es gemocht, dieses undurchdringliche und schnell strömende Wasser. War das Fundament des Brückenpfeilers überspült gewesen, hatte es viel geregnet auf den Höhen des Appenzellerlandes. Angelina erinnerte sich, wie sie und ein Schulfreund über die Brücke geradelt waren und sie zu den Wäldern hinuntergeschaut hatte. Dabei hatte sie ihn gerammt, und er war ins Brückengeländer gefahren. Ihnen beiden war nichts geschehen, aber sein Vorderrad war so verbogen gewesen, dass er das Velo nach Hause tragen musste.

Immer wieder waren Unfälle geschehen, weil Angelina umhergeschaut hatte. Sie war über Mäuerchen und Steine gefallen, gegen Pfähle und Abschrankungen geprallt oder in Glastüren gelandet. Engel-Guck-in-die-Luft hatten sie sie genannt. Irgendwann hatte Angelina mit Bergsteigen angefangen. Um mich festzuhalten und mir das Stolpern abzugewöhnen, dachte sie rückblickend. Aber vielleicht auch nur, um weiter zu sehen, über den nächsten Hügel hinaus.

Bei dieser anhaltenden Hitze musste der Fluss zu einem Rinnsal geworden sein. Vom Bus aus konnte sie das Wasser nicht sehen. Der Fahrradweg verlief immer noch auf dem Trottoir. Bei der nächsten Haltestelle stieg Angelina aus, ging durch die Unterführung und zwischen den gleichförmig hellbraunen Häusern hindurch. Hier hatte sie fast die Hälfte ihres Lebens verbracht. Angelina hielt inne und schaute sich um. An jeder Ecke lagen Erinnerungen. Sie waren Fragmente ihres Lebens, einige bunt und leuchtend, andere dunkel und schwer. Bilder drängten sich auf, unverblümt und ungefragt.

Die mächtige Fichte hatten sie gefällt, aber der grosse Findling inmitten der Wiese war geblieben. Dies war ihr Treffpunkt gewesen. Hier war geplaudert worden, gezankt, gelacht und gestritten. Hier wurden Freundschaften geschlossen und Schlachten gefochten.

Zögernd drehte sich Angelina um und ging zum Hauseingang. Würde sie Vater erzählen, was geschehen war? Würde er fragen: Was führt dich zu mir? Warum gerade jetzt?

Angelina blieb im düsteren Hauseingang stehen und betrachtete die Briefkästen. Sie waren in zwei Reihen übereinander angeordnet. Gegenüber waren die Klingeln in zwei senkrechten Fünferreihen. Kollbrunner stand in krakeliger Schrift auf einem Schildchen. Angelina drückte den weissen Knopf. Dann lehnte sie sich mit der Schulter gegen die Glastüre, die rechte Hand auf dem metallenen Griff. So hatte sie es als Kind auch immer getan. Ein Surren ertönte und die Tür gab nach. Langsam stieg Angelina die Treppe hoch.

Hatte Vater sich verändert? War er älter geworden? Wie lebte er ohne Mutter? Jede Stufe eine Frage. Hatte sie sich verändert?

Beim Treppenabsatz blieb sie stehen. Die Stufen wechselten die Richtung. Früher waren sie ihr höher erschienen. Angelina ging weiter. Jede Stufe eine Antwort. Sie alle waren älter geworden. Sie hatte sich verändert. Menschen veränderten sich immer. Sie sehnte sich nach Stillstand.

Angelina schluckte. Doch der Kloss im Hals blieb. Ihre Hand hielt sich am Holz des Geländers fest. Es war in all den Jahren glatter geworden, blank poliert durch unzählige Hände. Als Kinder hatten sie Wettrennen veranstaltet. Sie waren bis zuoberst in den fünften Stock gestiegen und losgerannt. Bei den Absätzen hatten sie die linke Hand fest ans Geländer geklammert, um die Kurve in zwei Sprüngen zu meistern. Nachbarn hatten geschimpft wegen des Lärms, des Getrampels der Füsse auf dem Steinboden.

Angelina klingelte. Die Glocke klang schrill, nicht so wie in ihrer Erinnerung. Sie vernahm schlurfende Schritte.

«Vater, guten Tag, wie geht’s?» Angelina spürte den Kloss im Hals.

«Angelina. Komm rein.» Er legte leicht die Hand auf ihre Schulter und zog sie fast unmerklich näher. Dann drehte er sich um und sie folgte ihm in die Wohnung.

«Setz dich. Kaffee?» Vater war neben dem Tisch stehengeblieben und stützte sich auf eine Stuhllehne.

Angelina schob sich auf den Stuhl, der früher ihr Platz gewesen war, und fuhr mit der Hand über die Tischdecke aus Plastik, als ob ihr dies Halt gäbe. Durch die offene Küchentür sah sie Geschirr auf der Ablage stehen. Früher hat er nie gekocht, nicht einmal Kaffee konnte er kochen, dachte sie. «Ja, gerne einen Kaffee.»

Er drehte sich um und ging ein paar Schritte in die Küche. Angelina betrachtete ihn von hinten. Sein Rücken war etwas gebeugt, die Schultern waren schmäler geworden, das graue Haar wirr, lichter.

«Und Maurice», fragte er. Auch seine Stimme war brüchig geworden.

«Er muss arbeiten. Viel zu tun. Es geht ihm gut, glaube ich.»

«Du hättest hier übernachten können.»

«Möchtest du das?»

«Es ist genug Platz. Das Zimmer hinten war früher auch deins. Seit du weg bist, hat es Margaret als Nähzimmer genutzt.»

Angelina stand auf und ging den schmalen Korridor entlang. Nichts schien sich verändert zu haben, seitdem Mutter nicht mehr hier war. Nur der Geruch war anders geworden. Sie fehlte.

«Ich war heute Morgen auf dem Friedhof», sagte Angelina laut, während sie die Türfalle des hinteren Zimmers drückte. «Ich habe gegossen.»

«Ja, sie brauchen viel bei dieser Hitze.»

Angelina hörte das Klappern des Geschirrs, dann Vaters Schritte hinter sich. Vor dem Fenster stand der Tisch mit Mutters Nähmaschine. An der Wand gegenüber das Bett, ihr Bett aus der Kindheit mit dem roten Überwurf, den aufgedruckten braunen Bären und blauen Bällen. Daneben der Schrank, dunkelbraunes Furnier.

«Du hast nichts verändert.»

«Komm, der Kaffee wird kalt.»

Vater zitterte ein wenig, als er den Kaffee eingoss. Er hatte das schöne Geschirr genommen aus dem Buffet im Flur. Sonntagsgeschirr, dunkelrote Rosen und mit Goldrand.

«Ich habe dir etwas mitgebracht.» Angelina nahm die Schachtel Pralinés aus der Tasche und legte sie auf den Tisch.

«Danke.»

«Ich hoffe, sie sind nicht geschmolzen.»

Der Kaffee war dunkel und kräftig, nicht so dünn, wie Mutter ihn gemacht hatte.

«Und, was machst du so den ganzen Tag?», fragte Angelina.

«Lesen.» Er zeigte auf einen Stapel Zeitungen, die auf der Kommode lagen. Daneben hatte es zwei dicke Bücher. «Früher hatte ich nie Zeit dafür.»

«Was liest du?»

Anstatt zu antworten, schob er schwerfällig den Stuhl zurück, ging zur Kommode, zog eine Schublade heraus und kam mit einem weinroten Etui zurück. Es gelang ihm nicht sofort, den silberfarbenen Schnappverschluss zu öffnen. Gepolstert in dunkelblauem Samt lag eine goldglänzende Münze.

«Schau», sorgfältig klaubte er die Münze heraus und hielt sie Angelina hin.

Angelina nahm sie zwischen Daumen und Zeigefinger und drehte sie vorsichtig. Mit den Fingerkuppen spürte sie die feinen eingeprägten Sterne am Rand. Sie betrachtete die Frauengestalt auf der Vorderseite und die Prägung 20 Fr. mit Schweizer Kreuz auf der Rückseite. Als Angelina die Münze in Vaters Hand zurücklegte, sagte er: «Ist sie nicht schön?» Er drehte sie im Licht der hereinscheinenden Sonne. Vorsichtig schob er das Goldvreneli in die runde Vertiefung im Etui zurück, klappte den Deckel zu und reichte es Angelina über den Tisch.

«Für meinen Enkel.»

«Vater!» Angelinas Stimme klang schrill. «Ich habe keine Kinder.» Im selben Moment fuhr ihr der Gedanke durch den Kopf, dass dies nicht stimmte.

«Dann ist sie für dich. Als Notgroschen.»

Sonntagsgeschirr

Подняться наверх