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Der Friedhof

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Zuerst die Toten, dann die Lebenden, dachte Angelina. Am Abend zuvor hatte sie mit Vater telefoniert und ihren Besuch angekündigt. Aber zuerst wollte sie zum Friedhof. Sie wollte Mutter erzählen, was geschehen war. Mutter würde zuhören. Vielleicht war es einfacher, Verstorbenen Dinge zu erzählen.

Das eiserne Friedhofstor quietschte und fiel mit einem metallischen Klacken wieder ins Schloss. Ein breiter Weg, eine Allee aus mächtigen Thujen empfing sie. Der Kies knirschte unter ihren Füssen. Obwohl der Strassenlärm bis hierher drang, war es Angelina, als würde sie bei jedem Schritt die Ruhe stören. Sie kam an schmale Gräber, auf denen neben Blumen kleine Spielsachen lagen. Es waren die Gräber von Kindern, Bébés, die nicht einmal ein Jahr alt geworden waren. Angelina spürte eine verzweifelte Schwere. Schnell ging sie weiter.

Kein Unkraut fand sich auf den Kieswegen. Die Gräber waren in Reih und Glied angeordnet, die Grabsteine individuell und doch konform, nicht zu wuchtig. Es gab auch einfache Holzkreuze mit Namen.

Als Kind hatten Mutter und Vater sie nie mitgenommen zu Beerdigungen. Angelina erinnerte sich, wie sie im Stillen geweint hatte, als Grossvater gestorben war. Trauer hatte keinen Platz gehabt. Sie hatte Grossvater nie vergessen. Damals hatte sie noch an Gott geglaubt, gehofft, dass er ihre Einsamkeit schmälern und so etwas wie Trost spenden würde. Sie hatte sich vorgestellt, dass Grossvater nun bei ihm wäre und zu ihr herunter lächelte, und sich gefragt: Warum gab er ihr nicht ein Zeichen? Ein Einziges hätte genügt. Doch Grossvater gab keinen Wink und Gott sass still auf seinen Wolken, schaute, was die Menschen so trieben und füllte seine Listen mit guten und bösen Taten.

Wäre sie ruhiger, wenn sie immer noch an den lieben Gott glauben würde? Wenn sie vertrauen würde, dass er mit weiser Vorsehung alles zum Guten lenkte. Sie haderte. Er war nicht der, als den sie ihn anpriesen. Er lenkte nicht, zum Guten nicht und zum Bösen nicht. Wenn er wirklich existierte, dann waren ihm die Menschen egal. Er liess sie gewähren.

Wann begann das Leben? Mit der Zeugung oder erst mit der Geburt? Und wann der Tod, der unwiderrufliche? Wo war Gott? Gab es einen Anfang und ein Ende?

Angelina fand das Grab nicht auf Anhieb. Seit der Beerdigung vor sieben Jahren war sie nicht mehr da gewesen. Warum hatte sie sich nicht gekümmert all diese Jahre? Wie oft hatte sie sich vorgenommen, nach St. Gallen zu reisen, um es dann wieder fallen zu lassen? Immer hatte sie gedacht, sie hätte noch Zeit. Zwanzig Jahre liess man die Toten ruhen, dann wurden die Gräber aufgehoben. Nicht einmal ein halbes Menschenleben dauerte die Grabesruhe. Der Platz war eng für die Toten. Wenigstens hatte Mutter ein Grab. Nicht so, wie ihr Kind.

Früher hatte das Grab am Rande gelegen, nun war es mittendrin. Stiefmütterchen, gelb und violett, in einer Vase ein Bund roter Rosen, etwas welk in der Hitze. Die mussten von Vater sein. Angelina ging zur halbhohen Steinsäule, einem Grabstein ähnlich, mit einem Wasserhahn. Sie nahm die metallene Giesskanne und drehte den Hahn auf. Es klang hohl und dumpf, als das Wasser aufs Blech aufschlug. Sie trug die Giesskanne zum Grab und goss. Immer wenn sie Gräber von Menschen besuchte, die sie gekannt hatte, goss sie. Auch im strömenden Regen goss sie. Sie fand es beruhigend, etwas für Menschen zu tun, die sie vermisste. Wahrscheinlich tue ich es nur für mich selbst, dachte sie. Um in Bewegung zu bleiben und die Gefühle in Schach zu halten.

Sie holte noch einmal Wasser, goss abermals, sorgfältig darauf achtend, die Stiefmütterchen nur bei den Wurzeln zu giessen und Blüten und Blätter nicht nass zu machen, damit die Sonne sie nicht versengte. Es war halb zehn Uhr am Morgen und bereits heiss. Nun nahm Angelina die Blumenvase mit den Rosen und trug sie zum Wasserhahn. Sie legte die Rosen sorgsam in den Schatten, spülte die Vase aus, reinigte mit den Fingern den oberen Rand, spülte sie nochmals aus und füllte sie mit frischem Wasser. Bedächtig nahm sie eine Rose nach der anderen in die Hand, zupfte vereinzelt welke Blätter von den Stängeln und ordnete sie in der Vase neu an. Sie dachte an Mutters vierzigsten Geburtstag, als sie ihr damals einen Bund mit vierzig Rosen geschenkt hatten. Rote, gelbe und dazwischen ein paar weisse.

Hatte sie Mutter vermisst in diesen sieben Jahren? Und davor? Natürlich hatte sie Mutter vermisst. Aber hatte sie ihre Mutter vermisst? Ja, aber nicht nur. Sie hatte auch Sehnsucht gehabt nach einer Mutter, die sie gar nie gehabt hatte. Sie erinnerte sich daran, wie Mutter jeden Frühling die Blumenkistchen auf dem Balkon bepflanzt hatte. Sorgfältig hatte sie die Setzlinge aus den kleinen Töpfen gehoben, in den länglichen Kisten angeordnet, eine Handvoll Erde genommen und sie neben den Setzlingen in die Kiste gleiten lassen, um sie daraufhin sanft festzudrücken. Bald hatten die Blumen üppig und bunt gesprossen. Petunien in den Farben Rosa, Gelb, Violett und Weiss. Es war, als hatte Mutter damit farbenfrohes Leben verbreiten wollen.

Eine fröhliche und unbeschwerte Mutter hatte sich Angelina gewünscht. Oft war sie jedoch still und gedankenverloren gewesen. Und es gab diese Unerbittlichkeit und Strenge. Erst spät hatte Angelina die leise Traurigkeit und Wehmut bemerkt, die sich dahinter verborgen hatten.

Angelina ordnete die Rosen nochmals neu an und trug die Vase, mit beiden Händen haltend, zurück zum Grab.

In der Fremde war sie oft auf Friedhöfe gegangen. Sie hatten sie ruhig werden lassen und demütig. Die Gräber hatten Geschichten erzählt von langen Leben und frühen Toden, von Kriegen und Tragödien. Sie erinnerte sich an einen Besuch am Rand einer grossen Stadt. Kreuze ohne Namen waren aufgereiht gewesen. So mussten die Soldaten gestanden haben beim Appell. Sie waren gefallen im Kampf und namenlos begraben. Dahinter die Toten, an deren Namen man sich erinnerte, ganze Familien vereint. Grabsteine standen schief, und auf den Gräbern wuchsen Bäume und Büsche. Verschlungene Pfade führten kreuz und quer hindurch, mystisch und zauberhaft zugleich. Es hatte kleine Bänke, und an Allerheiligen kamen die Lebenden und liessen sich nieder zum Picknicken bei den Toten. An solchen Orten blieben die Gräber auf ewig. Es waren Oasen der Stille inmitten einer ihr in jenem Augenblick sinnlos erscheinenden Geschäftigkeit.

Angelina spürte die Hitze. Gerne hätte sie sich auf eine kleine Bank beim Grab oder unter einen schattigen Baum gesetzt. Obwohl der Friedhof voller Birken, Buchen und Nadelhölzer war, konnte sie in der Nähe keine Bank entdecken. So liess sie sich auf dem schmalen Streifen Kies vor dem Grab nieder. Flüsternd begann sie Mutter zu erzählen. Sie suchte für das Unfassbare Worte, stockte nach wenigen Sätzen und verharrte in Sprachlosigkeit. Zusammengekauert sass sie in der sengenden Sonne. Einzelne Tränen malten dunkle Punkte auf den hellen Kies.

Sonntagsgeschirr

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