Читать книгу Sonntagsgeschirr - Anita Obendrauf - Страница 12

Grosser Bruder

Оглавление

Endlich holte Angelina den Laptop aus ihrer Reisetasche und platzierte ihn auf dem Pult unter dem lächelnden Rod Stewart. Sie hatte sich fest vorgenommen, wieder zu arbeiten. Sich bei Jeanne zu melden und nach Arbeit zu fragen, getraute sie sich nicht. Aber sie hatte noch private Übersetzungsaufträge. Da war die Geschichte von Mariette. Es handelte sich um ein grösseres Projekt, eine Buchübersetzung. Perdu dans l’Annapurna, hiess der Originaltitel. Sie überlegte, wann sie das letzte Mal daran gearbeitet hatte. Es war der Tag vor demjenigen gewesen, an dem sie ihr Kind verloren hatte. Sie übersetzte das erste Mal ein Buch. Der Verleger hatte sie angefragt, denn er war der Meinung, der Text müsse von einer Frau und Bergsteigerin übersetzt werden. Die Geschichte war aus der Perspektive von Mariette geschrieben, die ihren Freund Noël nach Nepal begleitete. Noël plante mit Kameraden die Erstbegehung einer Route an einem Achttausender der Annapurna. Die bereits übersetzten Kapitel beschrieben die Reisevorbereitungen, die Ankunft in Nepal und den Aufstieg ins Basislager. Zuletzt hatte sie übersetzt, wie Noël ins Höhenlager aufgebrochen war, der Wind stetig zugenommen hatte und Mariette zusehends unruhiger geworden war. Angelina dachte an Maurice. Am Abend zuvor hatte er angerufen. Am Wochenende war er mit Robert und Katleen auf dem Besso gewesen und hatte die Überschreitung zum Blanc de Moming gemacht. Er hatte von der Kletterei und der fantastischen Aussicht geschwärmt. Sie wusste, dass der Besso eine einmalige Sicht auf die umliegenden Viertausender bot. Wenn jemandem die Namen der Berge nichts sagten, war es eine Besteigung wie jede andere. Sie jedoch hatte auch davon geträumt, eines Tages auf dem Besso zu stehen. Warum war er zu diesem Berg losgezogen? Es hätte so viele andere Ziele gegeben.

Sie spürte ihre Wut auf Maurice und zugleich war ihr Wunsch, den Besso zu besteigen, wie aus einer anderen Welt in einem vergangenen Leben. Sie fühlte sich nicht imstande zu solch einer Tour. Maurice kam gut ohne sie zurecht.

Entnervt klappte sie ihren Laptop zu. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Ausserdem brannte ihr aufgeschürfter rechter Ellbogen. Im Bad durchsuchte sie die Schubladen nach einer Salbe, und als sie diese fand, strich sie eine dicke weisse Schicht auf ihren Arm. Dann marschierte sie schnurstracks zum Telefon.

Sie hatte ihr Handy zu Hause vergessen, zumindest hatte sie es Maurice so erklärt. In Wirklichkeit hatte sie es liegen gelassen, damit niemand sie erreichen konnte. Sie hätte es natürlich auch ausschalten können, aber es war eleganter, das Handy gar nicht dabeizuhaben. Die Telefonnummer von Meinhards Architekturbüro war problemlos im Internet zu finden gewesen. Bereits letzte Woche hatte sie sich vorgenommen, Meinhard anzurufen, es aber immer wieder hinausgezögert. Unzählige Male hatte sie sich irgendwelche Worte zurechtgelegt, um dann alles wieder zu verwerfen.

An Weihnachten hatten sie immer miteinander telefoniert und auch an den Geburtstagen. Doch letzte Weihnachten hatte Angelina nur eine Postkarte geschrieben mit einer Gämse im Schnee auf der Vorderseite. Die Feiertage hatte sie mit Maurice, Katleen und Robert im Goms verbracht. Es hatte gerade genug Schnee gelegen für ein paar Skitouren: Tällistock, Sidelhorn, Brudelhorn.

Früher hatten sie sich an Weihnachten daheim bei Mutter und Vater getroffen. Mutter hatte den Baum immer mit roten Kugeln und mit echten Kerzen geschmückt, die sie an Heiligabend angezündet hatten. Es war zauberhaft. Echte Kerzen! Wer benützte heutzutage noch echte Kerzen? Mit dem Tod von Mutter hatte sich alles verändert. Irgendwie war Angelina immer davon ausgegangen, dass Meinhard und Vater Weihnachten zusammen verbrachten. Ob das stimmte?

Das Klingeln am anderen Ende war zu hören als fernes Tut, Tut, Tut. Angelina presste den Telefonhörer fest ans Ohr und wartete mit einer Mischung aus Anspannung und freudiger Erwartung darauf, Meinhards Stimme zu hören.

«Architektur Kollbrunner.» Es war Meinhard.

«Hoi, ich bin’s.»

«Angelina?»

War es Verwunderung in seiner Stimme?

«Ich bin in St. Gallen, können wir uns sehen?», fragte Angelina.

«Machen wir, wann?»

«Ich kann nach Romanshorn kommen. Es ist sicher schön am See jetzt.»

Sie vereinbarten, sich am späteren Nachmittag zu treffen. Angelina legte den Hörer auf und es war, als wäre eine Last von ihren Schultern gefallen. Während sie in der Küche das Geschirr spülte, trällerte sie ein Kinderlied vor sich hin: «Vo San Gallä uf Sankt Fidä da hät’s es Tunnel, wämmer ine chunnt, wird’s dunkel, wämmer use chunnt, wird’s hell. Holeduli, duliduli, holeduliduliduliduli …»

Vom Bahnhof Roggwil aus sah Angelina bereits den Bodensee. Das leicht abfallende Wiesland mit den Obstbäumen, dann den See und das gegenüberliegende Ufer, Deutschland. Sie legte beide Hände flach an die Scheibe des Zugfensters und starrte hinaus, wie sie es als Kinder auch immer getan hatten. Als der Zug mit einem Ruck anfuhr und ihre Nasenspitze leicht gegen die Scheibe schlug, fuhr sie erschrocken zurück.

Beim Einsteigen in St. Gallen hatte Angelina überlegt, von welchem Sitzplatz aus sie Seesicht hätte. Von ihrer Wohnung zu Hause sah sie den Lac Léman nicht, dafür den Salève, den Hausberg von Genève, der aber bereits in Frankreich lag. Hier in der Ostschweiz war alles eine Spur näher, familiärer, provinzieller. Ob sie deshalb ausgezogen war in die weite Welt, um der Enge zu entkommen?

Sie hatte in Sydney gearbeitet, später in Cairns, war in Neuseeland gewesen und dann über den Pazifik zur Osterinsel und weiter nach Südamerika gereist. In Bogotá hatte sie eine Sprachschule besucht, danach die Andenländer durchquert, dabei einen Abstecher in den Urwald des Amazonas und auf die Galápagos-Inseln gemacht, bis sie auf der Reise nach Patagonien Maurice kennengelernt hatte. Mit ihm war sie in die Schweiz zurückgekehrt. Sie hatte bei ihm in seiner kleinen Zweizimmerwohnung in Fribourg gewohnt und nochmals die Schulbank gedrückt. Sie hatte die Matura nachgeholt, da sie Übersetzerin werden wollte. Und als sie an die École de traduction et d’interprétation aufgenommen wurde, zogen sie gemeinsam nach Genève. Für Maurice als Informatiker war es ein Leichtes, eine neue Arbeitsstelle zu finden. Aber für Angelina waren die ersten Monate in Genève hart. Es war so anders als Fribourg. Nicht nur die Ausbildung forderte sie. Immer wieder hatte sie das Gefühl, herablassend behandelt zu werden, auch von Deutschschweizern, die bereits lange Zeit in Genève lebten. Glaubten sie, mit ihrer Hochnäsigkeit die kleinbürgerliche Schweiz hinter sich gelassen und den Sprung in eine mondäne Welt geschafft zu haben?

Schneller als ihr lieb war, kam der Zug in Romanshorn an. Gerne hätte sie die Landschaft weiter an sich vorüberziehen lassen wie ein farbiges Band mit aufgedruckten Buchstaben. Kaum hatte sie die Worte entziffert, kamen bereits die nächsten Gedankenfetzen, stetig und unaufgeregt.

Neben dem Bahnhof in Romanshorn lag der Hafen. Vom Zug aus konnte sie sehen, wie soeben die Fähre aus Friedrichshafen einlief. Angelina stieg aus, ging durch die Unterführung und hinüber zum Quai.

Wie nur konnte sie Meinhard erklären, was geschehen war? Seit Mutters Beerdigung hatten sie sich nicht mehr gesehen. Sie lebte in Genève, Meinhard in Romanshorn. Entfernter voneinander konnte man in diesem Land nicht leben. Würde er sie verstehen?

Langsam legte das Schiff bei der Landungsbrücke an und die ersten Passagiere gingen an Land. Sie könnte übersetzen nach Deutschland, oder das Ausflugsschiff nach Konstanz und weiter den Rhein entlang nehmen bis nach Schaffhausen. Immer weiter. Weg von hier und dieser Begegnung.

War dies nicht ihr Beruf? Übersetzen? Das, womit sie Geld verdiente. Übersetzen, von einer Sprache in eine andere, von einem Ufer ans andere, von einem Land ins nächste. Traduire, traverser une frontière linguistique, traverser le lac …

Zögernd ging sie zurück. In der Unterführung war es düster. Ein paar Schüler vor ihr schubsten sich hin und her, lachten, versperrten den Weg. Meinhard hatte versprochen, sie am Bahnhof abzuholen. Wartete er bereits? Tritt für Tritt stieg sie die steinerne Treppe zum Bahnhofsplatz hinauf. Auf dem hellgrauen Granit hatte es schwarze Sprenkel und weisse, plattgedrückte Kaugummis.

Angelina erblickte Meinhard, an die Mauer des Postgebäudes gelehnt. Als er sie sah, erhellte ein Lächeln sein Gesicht. Er hatte sich verändert. Bereits als Kind hatte er zu den Grossen gehört, inzwischen war er breiter geworden. Seine hochgewachsene und massige Gestalt wirkte auf Angelina wie die Standfestigkeit in Person. Er umarmte sie lange und fest.

Angelina unterdrückte die Tränen. «Hey, grosser Bruder, wie geht’s?»

«Gut und dir? Hast du mich je in Romanshorn besucht?»

«Einmal. Das müsstest du doch wissen!»

«Lass uns zum See spazieren. Ich war den ganzen Tag im Büro.»

Sie gingen zum Hafen und den Quai entlang. Die Geschäftigkeit auf der Fähre hatte sich inzwischen gelegt. Eine leichte Brise wehte. Es war angenehm frisch, nicht so stickig wie in St. Gallen.

«Schön hier am See», sagte Angelina.

«Ja, ich würde ihn gerne mehr nutzen. Vor ein paar Jahren habe ich den Segelschein gemacht. Ich habe eine kleine Jacht mit einem Freund zusammen, habe ich dir das schon erzählt?»

«Eine Jacht? Du segelst?»

Meinhard blickte sie an. «Sehe ich inzwischen so unsportlich aus?»

«Das habe ich nicht gemeint.»

«Wir können am Wochenende auf den See, vorausgesetzt es hat Wind. Und sonst nehmen wir den Motor. Was treibst du so?»

«Ich besuche Leni. Kannst du dich noch an sie erinnern? Wir sind zusammen zur Schule gegangen.»

«Schwach. Warst du schon bei Vater?»

«Letzte Woche.»

«Und?»

«Hat sich nicht schlecht arrangiert, glaube ich.»

«Meinst du?»

«Was glaubst du?»

«Ich habe viel zu tun, die Bauwirtschaft boomt. Da komme ich selten nach St. Gallen. Er meldet sich auch nie.»

«Nein, er meldet sich nie.»

«Aber du bist nicht gekommen wegen Vater oder mir. Was treibt dich zurück?»

Angelina presste die Lippen aufeinander. Schweigend gingen sie nebeneinander her und am Kornhaus vorbei zum Jachthafen. Angelina betrachtete die Motor- und Segelboote, die vertäut waren. «Liegt hier dein Schiff?»

«Nein, drüben im Gemeindehafen. Ich hätte es dir zeigen können. Aber hier ist es friedlicher, weil es weniger Leute hat.»

Auf der Mole, die den Hafen abtrennte, spazierten sie zwischen Büschen hindurch. Als sie das äussere Ende mit einer Fahnenstange und drei Flaggen erreichten, blieb Angelina stehen. Dann holte sie tief Luft: «Meinhard, es ist … mein …» Sie stockte.

«Du brauchst es mir nicht zu erzählen, wenn du nicht willst», antwortete er schnell.

Meinhard trat drei Schritte vor und blieb stehen. Angelina tat es ihm gleich. Sie standen nun auf den Steinquadern, die wie eine grosse Treppe zum See hinabführten. Ein paar Blässhühner schwammen auf sie zu.

«Schau, der Zeppelin.» Meinhard blickte zum Himmel.

«Ein Zeppelin?»

«Ja, von Friedrichshafen aus kann man Rundflüge machen.»

Das Wasser plätscherte leise, als weiter draussen ein Passagierschiff vorüberfuhr. Angelina hörte das Rascheln der Blätter im Wind. Die Brise war hier etwas stärker zu spüren. Hatten sie die Jahre der Kindheit, die unzähligen Abenteuer zusammengeschweisst? Was war von damals geblieben?

Meinhard trat mit der rechten Fussspitze auf einen Kiesel, presste die Zehenspitzen und den Fussballen fest darauf, während er die Ferse hin und her schwenkte. Es war, als wollte er den Kiesel zermalmen. Abrupt blickte er auf. «Du hast dich Monate nicht gemeldet und jetzt stehst du einfach hier. Schön, dass du da bist.»

In Meinhards Wohnung gaben die Panoramafenster einen weiten Blick zum See hin frei. Von der geräumigen Wohnküche führte eine Schiebetür zur Terrasse, und als Meinhard diese nun aufschob, war es, als ob der ganze laue Sommerabend den letzten Winkel der Wohnung ausfüllte. Alles zusammen erschien Angelina wie ein Mittelmeerambiente und es war ihr, sie rieche sogar das Salz des Meerwassers in der Luft.

Auf der Terrasse standen ein Tisch und vier Stühle und weiter hinten ein einsamer Rosmarinstrauch in einem bauchigen, blauen Blumentopf.

«Wie lange hast du diese Wohnung schon?», fragte Angelina, ans Terrassengeländer gelehnt.

«Dies ist mein dritter Sommer.»

«Und das ganze Haus hast du geplant?»

«Na klar, ich bin Architekt. Ich tue nichts anderes.»

«Als Häuser am See zu bauen.»

Angelina nahm eine Olive aus der Schale und schob sie in den Mund.

Meinhard hatte den Vorschlag gemacht, auf seiner Terrasse zu grillen. Während er den Grill aus dem Keller geholt, mit einem alten Lappen den Staub entfernt und die Kohle eingefüllt hatte, hatte Angelina den Salat gewaschen und Oliven, Silberzwiebeln und Essiggurken in kleine Schälchen gefüllt.

Nun goss Meinhard Brennflüssigkeit über die Kohlen, hielt ein Streichholz daran und erzeugte eine riesige Stichflamme. Schnell trat er einen Schritt zurück.

Angelina spukte den Stein der Olive in die Wiese. «Für drei Jahre bist du aber dürftig eingerichtet.»

Meinhard hielt den Blasebalg, mit dem er Luft zwischen die Kohlen gepumpt hatte, nun wie einen Tennisschläger, um den Rückschlag auszuführen. «Wie meinst du das?»

«Der Grill im Keller, ein verwaister Rosmarinstrauch.»

«Ich giesse zu wenig, da geht alles andere ein. Jetzt bring das Fleisch.»

«Ich hätte eine Flasche Weissen mitbringen sollen, kühl und spritzig für einen solchen Abend», sagte Angelina, während sie Meinhard den Teller mit den marinierten Steaks reichte.

«Ist für alles gesorgt. Hol die Flasche aus dem Kühlschrank und zwei Gläser.»

Der Duft des gebratenen Fleisches weckte Angelinas Appetit. «Soll ich testen?», fragte sie auf den Weisswein zeigend.

Meinhard nickte, während er das Fleisch geschickt mit der Grillzange wendete.

Angelina nahm einen Schluck vom Wein. «Fruchtig.»

«Schmeckt er dir?»

«Perfekt.»

Sie assen schweigend. Meinhard hatte den Stuhl mit dem Seeblick Angelina überlassen. Letzte Sonnenstrahlen spiegelten sich auf der Wasseroberfläche.

«Zuhause haben wir nie grilliert», sagte Angelina.

«Aber Mutter hat gut gekocht», erwiderte Meinhard.

«Was mochtest du so gerne?» Angelina dachte kurz nach. «Kaiserschmarren und Salzburger Nockerln?»

«Nockerln habe ich seither nie mehr gegessen. Die bekommst du nirgends.»

«Vielleicht irgendwo in Österreich», bemerkte Angelina.

«Dass Mutter diese Spezialitäten so gut kochen konnte? Sie stammte ja nicht aus Österreich.»

«Hat sie extra für Vater gelernt.»

«Meinst du, sie haben sich geliebt?»

Erstaunt blickte Angelina zu Meinhard. Zögerte jedoch mit ihrer Antwort. «Bestimmt», sagte sie dann. «Glaubst du nicht?»

«Mir wird langsam kalt. Sollen wir reingehen?»

Vom Esstisch aus sah Angelina, wie der See seinen Glanz verlor. Der Himmel färbte sich blauorange und schliesslich verschwand das letzte Gelb am Horizont und wich der Dunkelheit. Sie sah die Lichter am anderen Ufer. Dazwischen lag schwarz der See. Und obwohl sie in der warmen Wohnung sassen und die Nacht draussen nicht wirklich kalt war, fröstelte sie. «Es ist schon spät», sagte sie und blickte auf die Armbanduhr. Es war erst Viertel vor zehn Uhr.

Meinhard begleitete sie zum Bahnhof. «Also, Segeln am Sonntag», sagte er und umarmte Angelina zum Abschied fest. «Ich rechne mit dir.»

Im Zug befanden sich letzte Ausflügler auf dem Heimweg. Angelina schloss die Augen. Der Abend war so friedlich gewesen. Nein, es hatte keine zweite Gelegenheit gegeben, um es Meinhard zu sagen.

Sonntagsgeschirr

Подняться наверх