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Das Dorf

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«Kommst du mit auf einen Spaziergang ins Dorf?», fragte Angelina Vater. Niemand, der nicht an diesem Ort aufgewachsen war und ihn von früher her kannte, hätte diese Ansammlung von Häusern inmitten von Fabrikhallen und Einkaufszentren Dorf genannt. Doch für Angelina war es das Dorf geblieben.

Es war nun über eine Woche vergangen, seit sie Vater das letzte Mal besucht hatte. Am Morgen hatte sie ihn angerufen und gefragt, ob er zu Hause sei. «Ja, ja. Komm vorbei», hatte er gesagt.

Nun war Nachmittag. Sie beide sassen in Vaters Wohnung am Tisch, je ein Glas Wasser vor sich, und wussten nicht, worüber sie reden sollten. Da verspürte Angelina den Wunsch, nach draussen zu gehen. Es war lange her, seit sie im Dorf gewesen war.

Hallen, hell erleuchtete Bürogebäude und Parkplätze säumten ihren Weg. Mövenweg, las Angelina auf dem Schild. Ob es hier früher Möwen gegeben hatte? Sie konnte sich nicht daran erinnern. Dies war ihr Schulweg gewesen. Beim Scheidweg hatte sie sich mit Klassenkameraden getroffen, und gemeinsam waren sie den Mövenweg entlanggegangen. Es war ein Kiesweg gewesen, der ins Dorf geführt hatte, ohne dass eine einzige Strasse überquert werden musste. An den freien Nachmittagen hatten sie im nahen Walkebach kleine, selbst gebastelte Flosse schwimmen lassen. Vom Bach und den Blumenwiesen von damals war nichts mehr geblieben. Sie dachte an Margeriten, Wiesenknöteriche und rot leuchtenden Mohn, an hoch gewachsene Gräser mit Rispen.

Der Schulweg hatte über die Bahngleise geführt. Es hatte eine Barriere gegeben, die ein guter Grund fürs Zuspätkommen gewesen war. Dann wurde die Bahnschranke durch einen hohen Zaun ersetzt, die Bahnlinie für die Fussgänger untertunnelt und so das Dorf in zwei Teile geteilt.

Als Angelina nun mit Vater durch die Unterführung ging und sie kurz darauf am Dorfbrunnen standen, bretterten die Züge vorüber, ohne auch nur das Tempo zu drosseln. An die Einweihung des Brunnens mit einem grossen Fest konnte sie sich dunkel erinnern. Früher hatte es einen Gemüsehändler, einen Dorfladen mit Käsetheke, eine Bäckerei und eine Metzgerei gegeben. Alles, was ein Dorf ausmachte. Und natürlich eine Kirche, nein zwei Kirchen, eine katholische und eine evangelische. Wie der Dorfbrunnen waren sie geblieben. Die katholische Kirche war schneeweiss, mit einem Dach, das sich in einem schwungvollen Bogen gegen den Himmel erhob. Ihr Schutzpatron, Bruder Klaus, hatte ihnen als Kinder eine Wallfahrt nach Sachseln und nach Flüeli in den Ranft beschert. Die Knaben, auch Meinhard, hatten ministrieren dürfen. Angelina nicht, weil sie ein Mädchen war. Es hatte sie wütend gemacht, etwas nicht tun zu dürfen, was Meinhard tat. Nur Sternsingen, das durfte sie auch. Weil sie so schön singen konnte und weil der Pfarrer sie mochte. Daran dachte Angelina nun, als sie mit Vater die breite Treppe zum Platz vor der Kirche hochstieg. Vater umfasste das Geländer und blieb kurz stehen, bevor er die nächsten Stufen nahm. Auch Angelina hielt inne. Sie überlegte. Nein, es tat nicht mehr weh, dass sie nicht hatte ministrieren dürfen. Hatte Gott diese Regeln erstellt oder waren sie von den Menschen erfunden worden? War Gott überhaupt eine Erfindung der Menschen? Vielleicht um das Gefühl zu haben, Leiden ergebe irgendeinen Sinn?

Jeden Sonntag war sie mit Mutter und Vater zur Kirche gegangen. Die Frauen und Mädchen hatten auf der linken Seite gesessen, die Männer und Knaben auf der rechten. Sie hatte Missionarin werden wollen, um den armen Kindern zu helfen und Gott zu dienen. Welch’ kindliche Vorstellung von Helfen, dachte sie nun. In die Fremde war sie gegangen, aber nicht um zu missionieren. Dem Dorf und der Enge war sie entflohen.

Die Metalltür war schwer und fiel hinter ihnen mit einem dumpfen Klock zu. Im Innern der Kirche war es düster und kühl. Die Betondecke wirkte wuchtig und schwer. Einer Welle gleich, senkte sie sich zuerst, um sich dann emporzuschwingen. Und je weiter Angelina nach vorne ging, umso leichter und erhabener wirkte die Decke. Kleine Fenster liessen von oben Licht ein und warfen einen hellen Schein auf den Altar aus beigem Marmor mit dunklen Sprenkeln. Vor der Marienfigur mit Jesuskind flackerten schmale, weisse Kerzen.

«Lass uns eine Kerze anzünden für Mutter», flüsterte Angelina Vater zu. Obwohl sie alleine waren, wagte sie es nicht, laut zu sprechen. Sie nahm eine Kerze, drücke sie Vater in die Hand und zündete ein Streichholz an. Vaters Hand zitterte leicht. Eine weitere Kerze zündete Angelina selbst an und schob sie in den weichen Sand der Schale neben diejenige für Mutter.

Angelina setzte sich neben Vater auf die Kirchenbank. Die farbigen Fenster dämpften die Helligkeit von draussen. Vater sass halb in sich gesunken, den Kopf vornübergebeugt. Ob er eingenickt war? Angelina lehnte zurück. Sie spürte das harte Holz am Rücken, legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die hohe, geschwungene Decke. Sie dachte an Migg, ihren Hamster. Er war kurz nach ihrem neunten Geburtstag gestorben. Sie war so unsäglich traurig gewesen und hatte Trost gesucht. Ihr grösster Wunsch war damals gewesen, dass es Migg gut gehe und sie ihn eines Tages im Himmel wiedersehen würde. Um sicher zu gehen, hatte sie sich nach der Beichte an den Pfarrer gewandt. «Tiere kommen nicht in den Himmel», hatte er sie belehrt, «denn nur Menschen haben eine Seele.»

Damals hatte er in ihr erste Zweifel gesät an diesem Gott, der die Tiere seelenlos erschuf. Nein, wenn Gott so war, dann wollte sie nicht an ihn glauben. Angelina schüttelte den Kopf und seufzte. Sie blickte nach vorne zu den Kerzen. Mit zusammengekniffenen Augen sahen die Flammen wie ein wogender heller Teppich aus.

«Sollen wir zurückgehen?», fragte Vater. Ihr Seufzen hatte ihn aus dem Schlummer gerissen. Er richtete seinen Oberkörper auf, stützte sich mit der einen Hand auf der vorderen Banklehne ab und ging langsamen Schrittes durch den Mittelgang. Angelina nahm erst in diesem Augenblick die nahezu lebensgrosse, geschnitzte Figur von Bruder Klaus im hinteren Teil wahr. Er hatte in ihrem Rücken gestanden, dieser Einsiedler mit Bart und markanten Gesichtszügen.

Vor der grossen, zweiflügeligen Tür tauchte Vater die Fingerspitzen ins Weihwasser, drehte sich um, deutete eine Kniebeuge an und bekreuzigte sich. Währenddessen suchte Angelina nach einer Münze im Portemonnaie und warf diese in den Opferstock. Dann suchten ihre Augen nochmals ihre zwei flackernden Kerzen, bevor sie die Kirche verliess. Draussen schmerzte das grelle Licht der Nachmittagssonne. Schweigend gingen sie die breite Treppe vom Kirchplatz zur Strasse hinunter.

Auf dem Rückweg fragte Angelina: «Gehen wir den Bildweier entlang? Ist doch schöner als an der Strasse.»

Wie sagte Vater immer für unnütze Wege? Wenn sie einen Umweg gemacht hatten? Das Kreuz um die Kirche tragen. Das passte zum heutigen Tag.

Vom Weiher war wegen der Hecke nichts zu sehen. Erst als sie zu zwei Tischen mit Bänken und Abfallkübeln kamen, blickten sie aufs Wasser. Ein Metallzaun umgab den See. Es hatte eine Informationstafel, auf der stand: Vögel am Bildweier. Farbige Bilder zeigten Bekassine, Eisvogel, Gänsesäger und weitere Vögel. In kleinerer Schrift stand ein längerer Text. Das Schutzgebiet Bildweier und seine abwechslungsreiche Umgebung … Angelina las nicht weiter. Früher hatte es keinen Zaun gegeben, sondern einen kleinen Bootssteg aus dunklem Holz, und als Kinder hatten sie trockenes Brot mitgebracht und die Enten und Fische gefüttert. Eines Nachmittags hatte Meinhard den Vorschlag gemacht, das Sumpfgebiet, das den Weiher umgab, zu erkunden. Schnell war er inmitten des hohen Schilfs verschwunden gewesen. Angelina hatte versucht, ihm zu folgen. Am Rand war der Boden nur feucht gewesen. Bald jedoch hatte das moorbraune Wasser ihre nackten Füsse überspült und kurz darauf bis zu den Knien gereicht. Sie war von einer Schilfinsel zur nächsten gehüpft, doch auch diese boten irgendwann keinen Halt mehr. Sie hatte sich verloren inmitten dieses Dickichts aus hohen Schilfrohren.

Vater setzte sich auf die Bank. Er wirkte müde. Hier musste früher der Bootssteg gewesen sein. Angelina ging zum Zaun und blickte aufs Wasser. Es hatte eine grünliche Farbe. Braungrün, Moosgrün, Olivgrau?

Vom Bootssteg war nur noch ein rostiges Gerüst übrig.

«Weisst du, dass ich hier fast ertrunken bin?»

Vater hob den Kopf und schaute Angelina fragend an.

«Dort, weiter vorne bei den Weiden. Und dann ist plötzlich Meinhard neben mir gewesen. Ich war schon bis über die Knie eingesunken.»

«Ja, der Meinhard.»

«Warum rufst du ihn nicht einmal an?»

«Der hat ja auch keine Zeit.»

Enten, Blässhühner und zwei Schwäne schwammen herbei. Von hier sah Angelina auf der anderen Seite des Weihers die hohen Betonwände des Fussballstadions mit der Shopping Arena und links davon einen Teil der roten Fassade des Westcenters. Dort war die Allee gewesen. Sie hatte sie gemocht, diese knorrigen Bäume. Heutzutage gab es Umfahrungsstrassen, Autobahneinfahrten und Überholspuren. Das Rauschen des Verkehrs drang unablässig zu ihnen.

«Vater, warst du schon einmal in der Arena?»

«In der Arena? Wozu?»

«Um einzukaufen.»

«Da unten gibt’s alles, was ich brauche.» Er machte eine Handbewegung in Richtung Wiese und Bäume.

Früher hatte es um die Ecke einen kleinen Konsum gegeben. Hatte dieser sich halten können? Ein kleiner Laden inmitten der Shoppinglandschaft?

Wie der Weiher, dachte Angelina, Schutzgebiet, eingezäunt und umringt von Strassen. Stand auf der Infomationstafel nicht etwas von abwechslungsreicher Umgebung? Sie schüttelte den Kopf und setzte sich neben Vater auf die Bank.

Sonntagsgeschirr

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