Читать книгу Mütter - Anja Bagus - Страница 14

Das wundersame Bild

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Die blonde Frau in den übergroßen Jeans und der weiten Joggingjacke wurde von dem Polizisten aufgefordert, sich zu erheben und zog damit die Aufmerksamkeit des jungen Thor auf sich. Während er sie durch das Schaufenster mit der Aufschrift „Antiquariat Koreander“ beobachtete, fiel ihm auf, dass ihr blondes Haar unter ihrer grauen Stoffmütze herausragte. Es schimmerte rotgolden in der winterlichen Nachmittagssonne, was einen eigenartigen Kontrast zu ihren Ringen in der Nase, den Lippen, den Ohren und den Augenbrauen bewirkte. Sie muss ein schwieriges Leben haben, dachte Thor, und alleine die Tatsache, dass die Frau kein Geld von ihm haben wollte, hinterließ bei ihm ein Gefühl der Unzulänglichkeit. Es mochte wohl in der ganzen Stadt keinen sensibleren Menschen gegeben haben als ihn, und unglücklicherweise hatte ihm seine Mutter beigebracht, dass man immer selbst daran schuld war, wenn man zurückgewiesen wurde.

Während Thor noch dem Polizisten und seiner unfreiwilligen Begleitung nachsah, griff der alte Herr Koreander nach dem elektronischen Bilderrahmen, der auf einem Tisch zwischen einer überteuerten Ausgabe von Kellers „Die Leute von Seldwyla“ und einer strahlend weißen Reiterfigur Friedrichs des Großen stand.

„Na, mein Junge“, sagte der Trödler, „willst du tatsächlich dieses alte Ding? Und zwanzig Euro sind dir nicht zu teuer? Für ein wenig mehr bekommst du einen neuen.“

„Ja, ich finde es schön, es passt in mein … in meine Wohnung.“

„Soso, in deine Wohnung. Ich dachte, du wohnst noch bei deiner Mutter.“

Mutter, schon wieder musste Thor an seine Mutter denken und natürlich fielen ihm dabei die Wurstbrote wieder ein, die noch in seinem Rucksack lagen. Herr Koreander ging langsam hinter die mechanische Kasse und hämmerte mit seinen knorrigen Zeigefingern auf die Tasten ein. Thor hatte die Brote wieder nicht gegessen, weil er die Wurst schon lange nicht mehr mochte. Doch hielt er seine Mutter für zu sensibel, als dass er es ihr hätte sagen können. Immerhin handelte es sich bei diesen Broten um eine seiner wenigen noch erhaltenen Gewohnheiten aus der Zeit, da sein Vater noch bei ihnen gewohnt hatte. Es gab darüber hinaus nicht viel, an das sich seine Mutter erinnern konnte, ohne dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Deshalb nahm Thor die Brote noch immer jeden Tag mit.

„Die Besitzer dieses Rahmens haben den Preis festgesetzt“, sagte Herr Koreander, „sie bestanden darauf. Er stand lange im Schaufenster. Ich habe ihnen gesagt, dass ich das Ding für diesen Preis nicht loswerde. Aber sie sagten, das wäre nicht schlimm. Dieses Ding sei ein Fluch, sagten sie. Es könnte ruhig für immer hier bleiben.“

„Stimmt denn etwas damit nicht?“

„Nun, wer weiß? Vielleicht ist er von Dämonen besessen. Aber mach dir keine Sorgen. Die ganze Familie war noch gesund und wohlauf. Sie sagten nur, es sei nicht gut, diesen Rahmen im Haus stehen zu haben. Ganz besonders nicht für junge Männer.“

„Und warum?“

„Ja, das weiß der Himmel. Wenn du mich fragst, Junge, dann müssen Sachen nicht hundert Jahre alt sein, um verzaubert zu sein. Glaub mir, unsere Welt hat ihren Zauber nicht verloren. Die meisten Menschen sind nur blind dafür geworden. Es gibt bestimmt einen Grund, warum sie den Rahmen zurückgegeben haben. Weißt du was? Ich verkaufe ihn dir für fünf Euro. Die tauchen ohnehin nie wieder hier auf und wenn doch, sage ich ihnen, er sei gestohlen worden.“

„Ja, wenn das geht.“

„Natürlich. Es ist ein alter Digitalrahmen, für Leute in Deinem Alter gehört so ein Ding wahrscheinlich ins Museum. Also, fünf Euro und er gehört dir.“

Herr Koreander gab Thor eine löchrige Plastiktüte mit der Aufschrift „Metzgerei Honigblut“, kehrte ihm den Rücken zu und beugte sich ohne ein weiteres Wort über sein Kassenbuch. Er zählte nicht einmal die Münzen, die Thor ihm auf die kleine Plastikschale neben der Kasse gelegt hatte – was den jungen Mann, der mit einem auffordernden „Auf Wiedersehen“ den Laden verließ, zwangsläufig denken ließ, der alte Trödler hätte sich nur für ein Verkaufsgespräch so nett und redselig gegeben. Eine solche Kaltblütigkeit, dachte Thor, ließe sich niemals mit dem feinsinnigen Gespür für alte Dinge in Einklang bringen, das ein Trödler von Natur aus haben müsse, und er kam nicht umhin, sich trotz des Preisnachlasses betrogen und ausgenutzt zu fühlen.

Auf die Passanten, die sich in den Abendstunden noch in den Straßen aufhielten, muss Thor einen seltsamen Eindruck gemacht haben. Er hielt das in Plastik eingewickelte Ding wie ein Tablett vor sich und schritt bedächtig über die große Straße, ohne das Läuten der Straßenbahn zu bemerken, die ihn um nur knapp drei Meter verfehlte. Erst als er an der Metzgerei Honigblut vorbeikam, verflog das beklemmende Gefühl und die Freude über den Bilderrahmen stieg. Wahrscheinlich war Herr Koreander einfach zu beschäftigt gewesen und hatte ihn deswegen ohne viele Worte aus dem Laden gehen lassen.


Zuhause an seinem Schreibtisch legte er die Wurstbrote neben sich, um sie noch zu essen, bevor seine Mutter ihn zum Abendessen rufen würde. Doch er vergaß sie bald, wie er auch den Rest der Welt um sich stets vergaß, wenn er als „Aegon Targaryen“ einen Text in einem der vielen Internet-Foren für Fantasygeschichten und Rollenspiele schrieb, galt er doch in diesen Kreisen als eine maßgebliche Autorität. Mittlerweile existierten, fein säuberlich nummeriert, an die hundert Profile mit seinem Namen. Aber bis auf „Aegon Targaryen42“, der über gewisse Aspekte esoterischer Fragen zu den Religionen der HALO-Allianz äußerst umfassend informiert war, hatte keiner je einen solchen Status erreicht wie Thor. Heute ging es um die vorab veröffentlichte Betaversion der sechsten World-Of-Warcraft-Erweiterung „Legions“, über deren Qualität man sich innerhalb unterschiedlicher Communities stritt. Der Bilderrahmen stand zwischen seinen Schätzen, die auf den Kommoden und Regalen seines Zimmers aufgereiht waren: Figuren und Bilder von Sagengestalten mystischer Welten, Tiere, Menschen, Elfen, Zwerge, Ungeheuer und tapfere Krieger. Alles, was diese bestimmte Sehnsucht in ihm auslöste; alles, was ihn sich fragen ließ, warum die Wirklichkeit nicht genau so faszinierend und voller Zauber sein konnte, wollte er stets um sich haben.

Erst nach dem Abendessen, als er sicher war, dass seine Mutter nun nicht mehr in sein Zimmer kommen würde, begann er damit, Fotos auszusuchen und spann bis tief in die Nacht schöne Geschichten um sein Leben herum, in denen er mutig, klug, geachtet und begehrt war.


Als Thor am nächsten Morgen aufwachte, sah er verträumt auf die wechselnden Bilder des Rahmens; die vielen Fotos von Rollenspielen, Conventions und Network-Partys. Sein Kopf lag schwer auf seinem Unterarm, während er die Abende in sein Gedächtnis zurückrief, wie bei einer Hommage, die auf ihn anlässlich der Auszeichnung für sein Lebenswerk gehalten wurde. Als der Rahmen schließlich eine Serie von Bildern der letzten Spielemesse zeigte, die er unsortiert eingefügt hatte, erhob er sich und ging in die Küche. Ein Zettel seiner Mutter lag auf dem Tisch. Er beugte sich neugierig darüber und stellte fest, dass es sich um eine Einkaufsliste handelte. Zu seinem Unmut hatte seine Mutter wieder ‚Wurst‘ mit aufgeschrieben. Ganz unten war außerdem der Satz notiert: „Thor einen Zettel schreiben“, und er bekam für einen kurzen Moment ein schlechtes Gewissen, weil sie sich doch solche Mühe gab. Dann erinnerte sich Thor wieder daran, was er in der Küche wollte, nahm eine Flasche Cola aus dem Kühlschrank und ging wieder in sein Zimmer. Schon im Türrahmen hielt er inne. Etwas fehlte auf seinem Schreibtisch. Dort, wo er gestern die Wurstbrote hingelegt hatte, stierte ihn nur noch Darth Vader von seinem Mousepad entgegen, als wollte er sagen: Auch wenn Du es Dir noch so wünschst, ich bin nicht Dein Vater. Ja, dachte Thor, dabei hätte ich von Darth Vader als Vater wenigstens noch etwas lernen können, statt nur, wie man seine Mutter von ihrer gescheiterten Ehe ablenkt. Er nahm einen Schluck Cola und wollte fast würgen. Sie schmeckte abgestanden und bitter.

Während er noch überlegte, wie er seiner Mutter erklären sollte, warum er die Brote nicht gegessen hatte, wechselte der Rahmen auf seiner Kommode wieder das Bild. Thor erstarrte, als er es sah. Das Foto, das nun nach den Spielemesse-Bildern angezeigt wurde, war keines aus seiner Sammlung. Unverkennbar war er selbst die Person auf dem Bild, doch saß er in einer mittelalterlichen Kriegsmontur auf einem sich aufbäumenden Pferd. Sein Gesicht zeigte einen Ausdruck von Kampfeslust und Siegeswillen, sein Schwert schien – vielmehr als eine Waffe – ein Werkzeug der Gerechtigkeit und des Anstands zu sein. Es war eine Szenerie, die in der realen Welt so niemals stattgefunden hatte, höchstens in seinen Träumen. Er und sein Pferd waren eins, gleich einem Zentauren, und jeder musste wissen, dass, sobald er das Schlachtfeld betreten würde, die Schlacht unwiederbringlich entschieden war.

Je länger er das Bild ansah, desto unwirklicher kam es ihm vor, bis er zuletzt selbst vor den Spiegel in seinem Zimmer trat, um ganz sicher zu gehen, dass er und der Mensch auf dem Pferd tatsächlich wesensgleich waren. Es bestand kein Zweifel.

Als seine Mutter vom Einkaufen nach Hause kam, überfiel sie ihn wie üblich mit etlichen Erzählungen; dass sie sich Sorgen um seinen Appetit mache, dass der neue Bilderrahmen ihr gefiele, obwohl sie nichts von diesem ganzen Elektronikkram verstünde und dass ihr neuer Nachbar geklingelt und mit ihr einen Kaffee getrunken habe. Thor hörte diese Geschichten und es war, als erlebe er sie durch ein Fenster aus einer anderen Welt, als säße er als Herr auf seinem Schloss und lenke sich nur ein wenig ab, bis er sich wieder seinen eigenen Angelegenheiten widmen musste.


Dieses Gefühl begleitete ihn noch immer, als er schließlich zur Universitätsbibliothek kam, wo er neben seinem Germanistikstudium mit Schwerpunkt Mittelalterliche Literatur als EDV-Berater arbeitete. An seinem Arbeitsplatz angekommen, fand er seine Kollegen Hendrik und Vanessa in Aufruhr vor. Das zentrale System war abgestürzt. Während Hendrik sich um die zahlreichen Beschwerden kümmerte, versuchte Vanessa sich an einer ersten Diagnose. Die Schlange der Studenten, die wegen ihres VPN-Clients oder ihrer Mailquota um Rat fragen wollten, wurde immer länger. Von hinten riefen die Ersten, wann es denn endlich einmal weiterginge. Einige schimpften, wieder andere machten sich über die Unfähigkeit der Angestellten lustig. Als Thor Vanessas Gesicht sah, hatte sie Tränen in den Augen. Direkt vor ihr stand ihr Ex-Freund, mit dem sie erst vor ein paar Tagen Schluss gemacht hatte, zeterte laut und sah Vanessa dabei mit vor Wut verzerrtem Gesicht an. Da ging Thor hinter dem Beratungstisch hervor, stellte sich vor die versammelte Meute und rief:

„So, Leute, wir haben hier Probleme mit dem Server, falls es jemand noch nicht mitbekommen hat. Wir wissen noch nicht, woran es liegt oder was genau kaputt ist. Im Moment können wir eure Anfragen nicht bearbeiten. Also macht irgendetwas anderes, geht in die Cafete oder in die Lesesäle, ihr müsst eben einen Nachmittag mal ohne Internet auskommen.“

In der Menge tuschelte es und einige riefen immer noch Beschwerden. Doch Thor wich nicht von der Stelle und nach und nach verschwanden die Studenten, bis schließlich der Platz vor dem Beratungstisch leer war. Hendrik sah verwundert aus und Vanessa lächelte Thor an.

„Hendrik, lass das Telefon erst einmal klingeln“, sagte Thor, „versuch, jemanden von der Serverfirma zu erreichen. Vanessa, du überprüfst mit dem Diagnosetool, ob ein Software-Fehler vorliegt und ich gehe in den Serverraum und schaue, ob dort alles in Ordnung ist.“

Im Serverraum fand Thor sofort die Ursache für die Störung. Eine Ratte hatte sich dort eingenistet und einige Kabel angenagt. Nachdem er die Kabel ersetzt und die Ratte in die Freiheit entlassen hatte, ging er über den Campus zurück zur Bibliothek. Er spürte einen Anflug von der Energie, die ihn häufiger beim Schreiben eines Forumsbeitrags befiel; ein unzweifelhaftes Gefühl, dass die Dinge nur so sein konnten, wie er sie sah, und nicht anders, als müsse man sie nicht mehr überdenken.

Mitten in diesem Moment der Klarheit begann sein Herz plötzlich kräftiger zu schlagen. Von weitem sah er Fiona Gratmüller auf sich zukommen. Sie war die schönste Frau auf dem Campus und seit Monaten heimlich Thors heftiger Schwarm. Er senkte den Kopf und schaute aus dem Augenwinkel auf ihr blondes Haar und den eleganten Schwung, mit dem sie ihre mit den Buchstaben „LV“ bedruckte Tasche am Ende ihres Armes baumeln ließ. Einen einzigen Wortwechsel hatte es bisher zwischen ihnen gegeben, als sie ihre Unterlagen mit den Worten „Kannst du da mal eben drauf aufpassen?“ auf Thors Arbeitstisch gelegt hatte und sofort weitergegangen war. Auf dem obersten Papier hatte er ihren Namen gelesen. Das Blut war ihm in den Kopf geschossen, als sie ein paar Minuten später alles wieder abholte und ihm bezaubernd lächelnd ein „Danke“ zuhauchte. Seitdem sah er sie fast jeden Tag am Kopierer stehen, und von seinem Schreibtisch aus musste Thor sie einfach anschauen, so oft es möglich war. Nun begegneten sie sich außerhalb der Bibliothek und da sonst kein Mensch zu sehen war, mussten sie sich unweigerlich beachten. Er konnte sehen, dass sie den Kopf gesenkt hielt, während sie auf ihn zukam. Bloß nicht hinschauen, aber es auch bloß nicht verpassen, falls sie schaut, schoss ihm immer wieder durch den Kopf. Er wollte es und wollte es nicht, kam sich klein und unbedeutend vor angesichts dieser Frau, die ihn eigentlich gar nicht ansehen konnte, ansehen sollte, weil … nun, der Grund lag wohl im Aufbau dieses Universums selbst, das so viel weniger magisch war, als all die anderen, die Thor kannte. Wieso nur war ausgerechnet er im unmagischsten aller existierenden Universen gelandet? Fiona hatte sich bis auf wenige Meter genähert, da schaute sie plötzlich hoch und lächelte. Thors Herz schien stehen zu bleiben und er quetschte ein heiseres „Hallo“ aus seiner Kehle. Als er daraufhin auf ihren Lippen eine leichte Bewegung sah, die ein „Hallo“ zu formen schien, strömte ein wohliger Schauer durch seinen ganzen Körper. Er sah ihr noch einmal hinterher und war sich sicher, dass auch sie sich kurz zuvor nach ihm umgedreht hatte.


„Jetzt, da mein Ex endlich weg ist, können wir uns wieder häufiger treffen“, sagte Vanessa, als sie später nebeneinander an ihren Arbeitstischen saßen und Ruhe eingekehrt war, „das war ja fürchterlich mit seiner Eifersucht. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte ich nur zuhause gesessen.“

„Wir haben uns ja immerhin noch auf der Arbeit gesehen.“

„Ja, aber das wird jetzt wieder anders. Lass uns wieder DVD-Abende machen, so wie früher. Du warst der einzige, mit dem das wirklich Spaß gemacht hat.“

Thor erinnerte sich gut an die Abende mit Vanessa, nachdem sie seine Arbeitskollegin geworden war: die gemeinsame Zeit auf dem Sofa; das Beobachten, das Näherrutschen, die Hoffnungen und Träume, die diese Abende immer wieder in ihm genährt hatten und die vielen Stunden, in denen er sich Gedanken darüber gemacht hatte, wie er Vanessa dazu bringen könnte, sich in ihn zu verlieben. Als er sie kennengelernt hatte, konnte er es kaum glauben, wie perfekt sich ihre Vorlieben und ihre Charaktere ergänzten. Doch letztlich war es nur Schmerz. Immer wieder. Thor musste an das Bild vom „Dies Academicus“ denken, das er in seinem Bilderrahmen gespeichert hatte. Es war das einzige, auf dem er und Vanessa zusammen zu sehen waren und der Tag, an dem das Bild entstanden war, für ihn der Höhepunkt einer Reihe von Treffen mit ihr. Er hätte schwören können, dass es sich jenes Mal um eine Art Rendezvous gehandelt hatte. Wie gut erinnerte er sich noch an das schwarze Kleid, das sie getragen und um wie viel hübscher sie dadurch auf ihn gewirkt hatte. In einem Festzelt auf dem Campus war eine Leinwand aufgebaut gewesen, weil ein Spiel der Weltmeisterschaft in Brasilien übertragen wurde. Sie saßen nebeneinander. Vanessa sang aus vollem Hals „Atemlos durch die Nacht“ und hatte den Arm um ihn gelegt; das erste und das letzte Mal. Danach hatte sich ein Poetry-Slammer neben sie gesetzt und sie die nächste Zeit so gut unterhalten, dass die beiden zur zweiten Halbzeit des Spiels nicht mehr zurückgekommen waren. Die Beziehung hatte nicht lange gehalten, ebenso wie die mit ihrem letzten Freund. Doch Thors Hoffnungen, ihre gemeinsamen Interessen würden die perfekte Basis für eine Beziehung bilden, wie so viele Frauen in so vielen Situationen ja immer wieder betonten (obwohl sie genau wie Thor sehr gut wussten, dass sie hier nur einem Idealbild zusprachen und in Wahrheit sehr viele niedere Instinkte ihre Auswahl diktierten), waren mit jeder von Vanessas Kurzzeitbeziehungen mehr und mehr ausgeblutet. Irgendwann hatte er sie aufgegeben.

„Die Abende waren wirklich schön“, sagte er.

„Ich fand’s echt super. Einfach so alle drei Herr der Ringe hintereinander oder Star Wars. Das kann ich mit niemandem sonst machen, weil die ganze Welt denkt, DVD-Abend bedeutet ficken.“

„Ja, das verstehe ich auch nicht.“

„Im besten Fall denken sie noch, es ist ein Date. Meine Güte! Ich bin eine Frau und ich will schön ausgeführt werden, Essen oder Kino, und dann bis zur Haustür gebracht werden und nichts passiert außer, dass der Typ sagt, er ruft mich die nächsten Tage an und dann warte ich und frage meine beste Freundin, wann er sich wohl melden wird. Das ist echt. Ich meine, eine Beziehung, die auf der Couch beginnt, kann ja wohl nichts sein. Da sitzt man hinterher noch häufig genug!“


Thor versuchte noch später im Kopf ihre Worte wie kleine, lästige Insekten abzuwehren, um die Gedanken an die schmerzvolle Vergangenheit loszuwerden. Als er schließlich am Abend nach Hause kam, fand er eine Nachricht von seiner Mutter vor, in der stand, dass sie gegen zehn Uhr wieder zuhause sei. Er ließ sich müde auf sein Bett fallen und war insgesamt zufrieden mit seinem Tag. Der Bilderrahmen zeigte wieder das eigentümliche Bild des Ritters, der ihm so ähnlich sah. Plötzlich fiel es ihm auf. Heute hatte er die Dinge selbst in die Hand genommen, alle hatten auf ihn gehört und alles hatte funktioniert. Er war tatsächlich wie der Feldherr auf dem Foto gewesen.

Da sprang er vom Bett auf, zog die Speicherkarte aus dem Rahmen, um zu überprüfen, ob sich das Bild wirklich auf der Karte befand. Er konnte es nicht finden. So schob er die Karte wieder in den Rahmen und wartete. Wie groß war sein Erstaunen, als zwar nicht das Bild des Kriegers auf dem Pferd erschien, stattdessen aber ein anderes, auf dem derselbe Mann von einem König zum Ritter geschlagen wurde. Es musste eine ehrenvolle Zeremonie gewesen sein. Der Ausdruck im Gesicht des Königs zeigte Stolz und Hochachtung; der des Mannes Respekt und Demut – so, wie man nur aussehen kann, wenn man weiß, dass man eine Auszeichnung wirklich verdient hat.

Und wieder war jenes Gesicht zweifellos sein eigenes. Thor entfernte den Stick aus dem Rahmen und durchsuchte ihn wiederum von vorne bis hinten, von oben bis unten. Dann versuchte er, im Internet Bilder von sich aufbäumenden Pferden oder Ritterzeremonien zu finden. Vielleicht hatte irgendjemand sein Gesicht in so ein Bild montiert und es dann auf seinen Stick geladen, um ihm einen Streich zu spielen. Er fand nichts. Immer wieder lud er die Bilder auf den Rahmen und immer wieder erschien das Bild der Zeremonie. Schließlich stellte er den Rahmen auf seinen Nachttisch, um das Bild zu betrachten, und schlief irgendwann spät nachts endlich ein.


Am nächsten Tag wurde er zu seinem Abteilungsleiter ins Büro gerufen. Thor verließ nervös seinen Arbeitsplatz, befürchtete er doch, für den gestrigen Tag eine Rüge zu bekommen, weil er sich mit den Studenten angelegt hatte. Ja, sie sollten immer höflich sein, dachte er, egal was sie sich von den Leuten auch anhören mussten; sollten immer sachlich bleiben und sich möglichst alles gefallen lassen, denn sonst würde sich am Ende noch jemand beschweren. Was für eine Katastrophe! Man kann nie vorsichtig genug sein; darüber schien sich die gesamte Führungsebene der Bibliothek stets einig.

Doch sein Abteilungsleiter war überraschenderweise allerbester Laune. Er gratulierte ihm zu seinem Einsatz und eröffnete, dass er ihn zum Leiter des Beratungsteams machen wolle, da er offenbar in Krisensituationen einen kühlen Kopf behalte und der Sache mit den Internetproblemen ohne zu zögern auf den Grund gegangen sei. Tatsächlich bekäme er dafür sogar mehr Geld und einen eigenen Schreibtisch. Er wäre zudem nicht mehr verpflichtet, die ganz späten Schichten zu übernehmen und könne jeden Tag pünktlich Feierabend machen. Mit den Worten, er sei froh, einen solchen Mitarbeiter in seinem Team zu haben, entließ der Abteilungsleiter ihn wieder.

Als Thor zu seinem Tisch zurückkam, berichtete er Vanessa sofort von seiner Beförderung. Sie freute sich und erzählte ihrerseits, dass der gestrige Tag ihr die Augen über ihren Ex geöffnet habe und sie sich nun nicht mehr länger Vorwürfe mache, die Beziehung beendet zu haben. Thors Aufmerksamkeit verflog schnell, denn am Kopierer stand Fiona Gratmüller. Sie hob den Kopf und lächelte ihm zu. Plötzlich bewegte sie sich vom Kopierer weg und kam geradewegs zu seinem Tisch. Dies nahm Thor wie in Zeitlupe wahr, und als er schon dachte, sie würde ihn ansprechen, tippte ihr jemand von hinten auf die Schulter. Sie wandte sich ab.

„Hallo, bist du noch da?“, fragte Vanessa.

„Ja, entschuldige, ich war gerade in Gedanken.“

„Also, wie sieht es mit morgen aus? DVD-Abend bei mir?“

„Ja, ich weiß nicht recht. Aber klar, machen wir.“

„Was hat dich denn gerade so irritiert? Die Blonde?“

„Nein, ich muss mich nur an den Gedanken mit dem neuen Job gewöhnen.“


Sobald er an diesem Tag nach Hause kam, setzte er sich vor den Bilderrahmen und grübelte etliche Stunden lang. Nach dem Bild, auf dem er zum Ritter geschlagen wurde, hatte man ihn befördert. Wie schon das Bild am Vortag hatte es wie eine Prophezeiung gewirkt. Wenn also das Kriegerbild und das, auf dem er zum Ritter geschlagen wurde, tatsächlich die Dinge vorausgesagt hatten, so war es gut möglich, dass auch heute wieder ein neues Bild erschien. Und plötzlich sah er es. Das neue Bild zeigte wiederum den Mann, der ihm so ähnlich sah, dieses Mal mit einer wunderschönen Frau an seiner Seite – offenbar bei ihrer Hochzeit. Und Thor erkannte auch sie. Es war Fiona.

Sein Herz machte einen Luftsprung. Fiona war die Antwort auf alle seine Fragen, alle Entbehrungen der letzten Jahre, die er hatte ertragen müssen. Schon als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, war ihm klar geworden, dass diese Frau zu seinem Leben gehörte. Vielleicht hatte sie ja mitbekommen, dass er sich nun durchsetzte und dass er befördert worden war. Inzwischen lächelte sie jedes Mal, wenn sie ihn sah. Thor nahm den Bilderrahmen hoch wie einen Pokal und nannte ihn ein „wunderbares Zauberding“, denn endlich würde sein Leben so sein, wie er es sich immer vorgestellt hatte.


Der nächste Tag war ein Samstag und Thor hatte zusammen mit Vanessa seine letzte Vormittagsschicht am Wochenende. Ständig schaute er zum Eingang in freudiger Erwartung, dass Fiona kommen würde. Den Bilderahmen hielt er bei sich, und wenn er nicht zur Tür sah, musste er auf das Foto starren. Endlich erschien sie am Kopierer. Thor ahnte, dass nun der Moment gekommen war. Er stellte sich den Ritter auf dem Foto vor, bekam Schwung in seine Bewegungen und schritt ehrerbietig auf den Kopierer zu. Es wunderte ihn nicht, dass er diesmal keinen großen Mut aufbringen musste, zu ihr hinzugehen und sie anzusprechen, und so sagte er mit feierlich tiefer Stimme:

„Hallo.“

„Hallo, kann ich dir helfen?“

„Nein, also, ich dachte, ich könnte dir helfen. Hast du Probleme mit dem Rechner?“

„Nein.“

„Aber mit dem Kopierer?“

„Nein, gar nicht. Sehe ich so aus?“

„Ja, also ich dachte, wahrscheinlich hast du sie. Aber vielleicht ist das mit dem Rechner auch gar nicht wichtig. Aber falls du Hilfe brauchst, bin ich für dich da.“

„Danke, aber ich brauche wirklich keine Hilfe. Ich muss nur hiermit heute fertig werden.“

„Ach so, ja, wenn du fertig bist, gehen wir einen Kaffee trinken?“

„Warum sollten wir das?“

„Naja, ich dachte, wenn es vielleicht doch irgendwelche Probleme gibt, dann kann man die ja am besten bei einem Kaffee besprechen.“

„Hör zu, ich weiß jetzt nicht, was das soll. Aber wenn ich Probleme mit dem Computer habe, frage ich meinen Freund. Und jetzt entschuldige mich, ich muss das hier fertig machen.“

In seiner Brust spürte Thor ein höllisches Ziehen und sein Magen krampfte sich zusammen. Die Wirklichkeit, nein, die Menschheit kannte wirklich keinen Zauber mehr, dachte er. Wie ein Aussätziger stand er noch ein paar Sekunden neben dem Kopierer, dann ging er verschämt zurück zu seinem Arbeitsplatz.

Vanessa hielt gerade den Bilderrahmen in der Hand und fragte ihn, was das für einer sei. Doch Thor antwortete nicht, nahm seinen Rahmen und verschwand aus der Bibliothek.


Den Rahmen wie das Foto einer vermissten Person vor sich haltend, rannte Thor ziellos durch die Straßen. Die Braut sah Fiona ähnlich, aber vielleicht hatte er sich auch getäuscht. Der Bilderrahmen hatte ihn bisher nicht im Stich gelassen, deshalb konnte es einfach nur so sein, dass eine andere Frau gemeint war. Am Trödelladen von Herrn Koreander sah er wieder das Mädchen, das von der Polizei abgeführt worden war, als er den Rahmen gekauft hatte. Und da Thor in den letzten Tagen gelernt hatte, auf das Schicksal zu vertrauen, fiel ihm sofort auf, dass auch sie der Frau auf dem Foto ähnlich sah, dachte man sich die Ringe aus ihrem Gesicht weg und stellte sie sich mit ihren blonden Haaren ohne Mütze vor. Natürlich, dachte er. Ihr Schmuck, ihre Kleidung, sie waren wie eine Maske, in Wahrheit steckte eine ganz andere Frau in ihr, die darauf wartete, dass man anklopfte und sie hinaus bat. Es konnte kein Zufall sein, dass sie da war, gerade als der Rahmen in sein Leben getreten war. Er sah Herrn Koreander durch das Schaufenster mit dem Rücken zu ihm stehen, als er sich vor die Frau stellte.

„Hallo, möchtest du vielleicht mit mir mitkommen?“

„Mitkommen? Was bist du denn für einer?“

„Ich möchte dir helfen. Möchtest du etwas zu essen?“

„Ich habe schon gegessen.“

„Dann vielleicht etwas trinken oder sonst etwas?“

„Nein, lass mich in Ruhe!“

„Aber dir geht es doch nicht gut. Das sieht man. Wenn du …“

„Was willst du von mir? Du hast sie doch nicht alle!“

„Ich habe dich vor ein paar Tagen gesehen, als du von der Polizei abgeführt wurdest.“

„Ach so einer bist du. Jetzt mach bloß, dass du verschwindest. Als ob ich mit jedem Arsch mitgehen würde. Das habe ich nicht nötig. Also, verpiss dich!“

Zutiefst beschämt schritt er weiter und sah sich nicht um, bis er sich hinter der nächsten Ecke befand. Doch war sein Glaube noch nicht gebrochen. Es zog ihn weiter durch die Stadt. Eigentlich musste er sich einfach nur treiben lassen, dachte er, musste es dem Zufall überlassen, dass er heute – und wann sonst, wenn der Rahmen es ihm prophezeite – seiner Traumfrau begegnen würde; einer Frau, die wie eine Königin aussah. Vielleicht traf er sie in einem Brautgeschäft, oder auf der Königsstraße in der Innenstadt, vielleicht war es die Verkäuferin mit der schwarzen Brille und der Tätowierung auf dem Oberarm im Games Workshop oder eine, die sich zufällig neben ihn stellen würde, wenn er an der Ampel stand.

Thor lief lange durch die Straßen, ohne dass irgendetwas geschah. An diesem Nachmittag stieß er einige Flüche aus. Zunächst verfluchte er Fiona, die ihm mit ihrem Lächeln falsche Träume eingeflößt und so in sein Schicksal eingegriffen hatte, dann die Frau von der Straße, die lieber in der Gosse lag, als mit ihm zu gehen. Er verfluchte die Verkäuferin und schließlich alle Frauen, die jemals nett zu ihm gewesen waren und ihn so auf eine falsche Fährte gelockt hatten. Aber irgendwann verfluchte er nur eins: Den Bilderrahmen, der ihm all diese falschen Illusionen gezeigt und ihn dazu gebracht hatte, dass er nun mit nichts dastand. Er wollte ihn zerstören, wegschmeißen, einschmelzen, in Beton eingießen und am tiefsten Grunde des Ozeans versenken.

Doch als er schließlich zuhause angekommen war, ließ er ihn ganz. Er schrieb Vanessa und sagte den DVD-Abend ab, dann stellte er den Bilderrahmen an seinen Platz. Er hatte endlich verstanden, was er ihm sagen wollte.


„Hallo Thor“, sagte Vanessa, als er am folgenden Vormittag neben ihr Platz nahm, „Hast du heute nicht frei? Hast du gestern noch Deine Beförderung gefeiert?“

„Nein, das nicht gerade.“

Vanessa sah ihn an, als erwarte sie, dass er noch etwas sage. Dann ließ sie von der Tastatur ab und wandte sich ihm zu.

„Nachdem du gegangen warst, habe ich mir schon gedacht, dass du nicht mehr zu mir kommst. Ich dachte, irgendwas wäre passiert. Du siehst heute ja schon wieder viel besser aus, nur ein wenig übermüdet.“

„Ja, das stimmt, es tut mir leid, dass ich so kurzfristig abgesagt habe. Aber gefeiert habe ich nicht. Ich habe mich gestern bescheuert aufgeführt. Keine Ahnung, was los war. Doch, eigentlich weiß ich es.“

„Hatte es vielleicht etwas mit dem Bilderrahmen zu tun, den du bei dir hattest?“

„Was? Wie kommst du darauf?“

„Das ist ein komisches Ding. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es einmal meinem Bruder gehört hat.“

„Deinem Bruder?“

„Ja, aber wir haben ihn zum Trödler gegeben, also den Rahmen, nicht meinen Bruder.“

Vanessa lächelte und das gefiel Thor.

„Dann ward ihr die Familie, die ihn zu Herrn Koreander gebracht hat?“

„Das waren wohl wir.“

„Und warum? Der Trödler hat gesagt, an dem Rahmen wäre etwas Sonderbares.“

„Nun, ich weiß nicht, aber es ist schon etwas sonderbar damit. Wir haben den Rahmen gekauft und mein Bruder hat ihn sich ins Zimmer gestellt. Er ist stundenlang, manchmal ganze Tage nicht aus seinem Zimmer gekommen und muss wohl nur diesen Bilderrahmen angestarrt haben.“

„Und warum?“

„Das weiß ich nicht. Er wollte es nicht sagen. Damals war er in der Pubertät und ich bin sicher, er hat sich Bilder von nackten Frauen draufgeladen oder so. Denn keiner durfte mehr zu ihm ins Zimmer. Aber zugeben wollte er es nicht. Kein Wunder … Wieso fragst du?“

„Ach, nichts. Ich glaube, ich werde den Rahmen auch wieder zurückgeben.“

„Du willst ihn zurückgeben? Warum?“

„Ich brauche ihn nicht. Bei mir steht eh schon so viel rum. Ich brauche mehr Platz. In meinem Leben muss sich langsam einmal etwas ändern. Das gilt übrigens auch für unseren DVD-Abend.“

„Das willst Du auch ändern? Schade, aber ok, wenn du keine Lust hast.“

„Nein, ich möchte dich lieber einladen. Zum Essen, oder so.“ „Du meinst, wir kochen zusammen?“

„Nein. Also, Vanessa, willst du mit mir … also … dass wir beide zusammen etwas Essen gehen und vielleicht hinterher ins Kino oder spazieren?“

Vanessa lächelte.

„Also kein DVD-Abend?“

„Nein, nicht zuhause. Draußen. Und dann bringe ich dich nach Hause bis vor deine Tür und komme nicht mehr mit rein, sondern bleibe auf der Schwelle stehen, und am nächsten Tag rufe ich dich an und frage dich, wie es war und wenn es dir gefallen hat, dann gehen wir noch einmal Essen …“

„ … und am nächsten Tag erzähle ich dann meiner besten Freundin, dass ich darauf warte, dass du dich meldest, und du lässt mich noch warten, aber dann meldest du dich doch oder stehst mit einem Strauß Rosen vor meiner Tür. So etwa?“

„Vanessa, seitdem wir uns kennen, möchte ich …“

„Nein, sag nichts, wir machen das so. Wohin gehen wir?“


Thor blieb nicht mehr lange sitzen. Kurz hatte er sich gefragt, ob er Vanessa alles erzählen sollte, aber vielleicht würden sich dafür noch andere Gelegenheiten ergeben. Als er in die Wohnung trat, saß seine Mutter auf dem Sofa im Wohnzimmer und sah fern.

„Hallo Thor, so früh schon unterwegs? Du hattest doch noch gar nicht gefrühstückt.“

„Ja, ich habe Vanessa bei der Arbeit besucht. Und eins wollte ich Dir noch sagen, Mama; inzwischen schmecken mir die Wurstbrote nicht mehr so gut.“

„Gut, dann mache ich sie nicht mehr. Früher hast du sie aber sehr gemocht.“

„Ja, früher, aber inzwischen, also, manchmal ändern sich halt gewisse Dinge.“

„Ich verstehe schon. Irgendwie habe ich mir das auch gedacht.“

Thor kam näher an das Sofa und fragte sich einen Moment, ob eine Spur von Verletztheit in ihrer Stimme gelegen hatte. Doch sie schien ganz ruhig, weder beleidigt noch geknickt. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie in den letzten Tagen viel unterwegs gewesen war. Hatte sie nicht von ihrem neuen Nachbarn erzählt? Thors Finger umspielten das harte Plastik des Bilderrahmens, den er in der Hand hielt, seitdem er sich von Vanessa in der Bibliothek verabschiedet hatte. Die Bilder wechselten weiter von einem zum nächsten. Wieso hatte er die ganze Zeit erwartet, dass seine Mutter traurig sein würde, nur weil er die Brote nicht mehr essen wollte? Vielleicht, dachte er sich, sind Erwartungen so ähnlich wie die Bilder des Rahmens. Sie verstellen den Blick für das Wahrhaftige, das Wirkliche, für den Zauber, den die Welt eben nicht verloren hat, sondern der eben nur so gänzlich anders ist, als er ihn sich vorstellte.

„Warum trägst du eigentlich seit Tagen diesen Bilderrahmen mit dir herum?“, fragte seine Mutter.

„Das ist … ich wollte ihn zur Reparatur bringen, er ist wohl etwas kaputt.“

„Heute, am Sonntag? Komisch, vorgestern hat er noch einwandfrei funktioniert.“

„Woher weißt du das?“

„Ach, ich habe mir einen kleinen Scherz erlaubt. Weil du ja so viele Fotos von dir drauf gemacht hast, habe ich eines unserer alten Hochzeitsfotos hinzugefügt. Ich wollte wissen, ob du es erkennst. Ah, da ist es ja.“

Thor erkannte es sofort und starrte fassungslos auf das Hochzeitsbild und auf die Frau, die er zuerst für Fiona, dann für die blonde Obdachlose gehalten hatte.

„Das bist du? Und du hast das Bild eingefügt? Woher weißt du denn, wie man damit umgeht?“

„Ja, Deiner Mutter kannst du so einiges zutrauen. Dein Vater und ich hatten das Motto ‚Mittelalter‘ auf unserer Hochzeit. Gott, Du siehst ihm so ähnlich. Witzig, oder? Ich meine, weil du ja diese ganzen Mittelalter-Sachen auch so magst.“

Sie erzählte dies mit einem Lächeln; keine Träne war in ihrem Auge zu sehen.

„Nein, mal im Ernst. Wie hast du gelernt, mit sowas umzugehen?“

„So schwer ist das ja nicht. Unser neuer Nachbar hat es mir gezeigt. Er ist spontan auf einen Kaffee vorbeigekommen.“

„Schon wieder?“

„Ja, und morgen gehen wir essen.“

„Nun gut. Aber, hast du auch noch andere Bilder in den Rahmen eingefügt? Zum Beispiel eins mit einem Ritter auf einem Pferd oder wie er zum Ritter geschlagen wird?“

„Nein, nur das eine. Wieso fragst Du?“

„Ach nichts, schon gut.“

Seine Mutter lachte und schaute wieder zum Fernseher. Thor ging in sein Zimmer. Wenn das Bild mit der Hochzeit von seiner Mutter war, so musste er das richtige, prophezeiende Bild gestern übersehen haben. Voll gespannter Erwartung setzte er sich vor den Rahmen und wollte die ganze Serie noch einmal durchsehen. Doch schlief er dabei immer wieder ein. Ein neues Bild tauchte nicht mehr auf.

Stattdessen erwachte er mitten in der Nacht noch einmal und sah in dem Rahmen das Bild von Vanessa und ihm auf dem Dies Academicus. Da hoffte er nur noch eins – dass sie zu ihrer Verabredung dasselbe schwarze Kleid anziehen würde, das sie auf dem Foto trug.

Ende

Mütter

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