Читать книгу Mütter - Anja Bagus - Страница 8

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ISA THEOBALD lebt und arbeitet im Saarland, wo sie neben dem Schreiben auch noch kocht, Krimi-Dinner veranstaltet, Seifen siedet, mit Feuer tanzt, absonderliche Hobbys und ebensolche Menschen sammelt und im Großen und Ganzen sehr viel Freude am Leben hat. Geschichten von ihr sind unter anderem erschienen bei Ubooks, Verlag Torsten Low, UlrichBurger-Verlag, Charon-Verlag und Feder & Schwert.



Paula

„Eine kleine Dickmadame

Fuhr mal mit der Eisenbahn

Eisenbahn die krachte

Dickmadame die lachte“

Paulas Hände tanzten wie kleine Vögel durch die Luft, trafen Mamas Hände im perfekten Moment, während ihre Stimme quietschend immer lauter und schneller wurde. Mama hielt mit, sang lachend den Reim, bis Paulas Zunge sich verknotete und Mamas Hände die ihren in der Luft fingen – und hielten. Strahlend warf das achtjährige Mädchen sich in die Arme der dunkelhaarigen Frau und beide lachten, bis sie keine Luft mehr bekamen.


„Du warst wieder in diesem Haus.“ Die Stimme ihres Vaters klang hart und kalt, seine Augenbrauen waren so fest zusammengezogen, dass sie sich fast an der Nasenwurzel trafen. Paula schaute zu Boden.

„Schau mich an, Kind. Du brauchst es nicht zu leugnen, man sieht es deutlich genug an deinem Kleid.“ Paula starrte auf die staubig-grauen Flecken, die sich über den Saum des cremefarbenen Spitzenkleides zogen und wie verräterische Finger auf ihr leuchtend rotes Gesicht zu weisen schienen. Papa seufzte.

„Paula. Ich habe es Dir schon tausendmal erklärt.“ Er erstarrte, als das kleine Mädchen sich mit verkniffenem Gesicht die Ohren zuhielt. „Paula!“ brüllte er und zog ihre Arme nach unten.

Das Kind blickte ihn mit tränennassen Augen an.

„Paula, dieses Haus ist gefährlich.“, setzte er erneut an; bemüht, seine Stimme ruhig zu halten.

„Ist es nicht.“ Leise, aber bestimmt.

„Ein-sturz-ge-fähr-det!“ antwortete er und betonte jede Silbe, als ob sie taub wäre. Oder dumm. „Verstehst Du, was das heißt, Kind? Das bedeutet, dass der alte Kasten jederzeit in sich zusammenfallen kann.“ Seine Stimme wurde wieder lauter. Paula sah in sein Gesicht. Sie hatte dieses Gesicht einmal geliebt – die großen, braunen Augen unter den buschigen Brauen, der gewaltige Schnauzer, der zitterte wie ein ängstliches Tier, bevor der Papa lachte – oder brüllte. Früher hatte er nie gebrüllt. Früher. Vor der Frau.

„Ich bin dort sicher.“ entgegnete sie ihm.

„Bist Du nicht, Herrschaftszeiten! Egal, wie gut Du klettern kannst, wenn das Dach zusammenbricht, bist Du ganz sicher nicht sicher!“ Da. Da zitterte der Schnauzer. Gleich würde er wieder laut werden. Dann war es ja jetzt auch egal.

„Mama würde das niemals zulassen.“

Papa plusterte sich auf, schien immer größer zu werden. Paula stand ganz still, blickte zu Boden; gewillt, das Donnerwetter über sich hinweg gleiten zu lassen. Als aber kein Laut kam, blinzelte sie von unten herauf durch die Wimpern und beobachtete entsetzt, wie Papa in sich zusammenzufallen schien und immer kleiner wurde. Sein Schnauzer zitterte, aber nun schien er die lediglich Tränen einfangen zu wollen, die über Papas bleiche Wangen liefen. Was sollte sie jetzt tun? Sie wusste nichts zu sagen. Erwachsene weinten normalerweise nicht. Und Papa schon dreimal nicht. Aber jetzt war Paula verwirrt. Sie fürchtete sich. Papa schien etwas sagen zu wollen; er rang mit Worten, die einen Weg über seine Lippen hinweg zu suchen schienen, doch der Schnauzer hielt sie auf. Sein gebeugter Rücken streckte sich, er schüttelte sich unmerklich, gewann seine Fassung zurück und schickte Paula auf ihr Zimmer. Sie folgte, ohne Widerworte.


Paula saß mit untergeschlagenen Beinen vor ihrem Puppentisch. Das Teeservice hatte Staub angesetzt, ebenso wie das spitzenbesetzte Kleid der Puppe. Elise. Früher war Elise immer bei ihr gewesen, immer in ihren Armen. Früher. Vor der Frau.

Die Stimmen im Salon klangen angespannt. Aus dem unverständlichen Murmeln waren Worte geworden, die Paula nicht mehr aussperren konnte. Die Stimme der Frau fräste sich ihren Weg durch die verschlossenen Türen.

„Franz. Das Kind braucht Hilfe!“

„Sie ist nicht krank!“

„Nein. Sie ist nicht krank, sie ist verstört.“

„Meine Tochter ist nicht verrückt!“ Jetzt hatte der Schnauzer ganz sicher gezittert. Doch die Frau wich nicht zurück.

„Ach, ist sie nicht? Wie oft hast Du ihr denn schon verboten, sich in dieser Bruchbude herumzutreiben? Warum kehrt sie denn immer wieder dorthin zurück?“ Paula schlug sich die Hände über die Ohren, doch die Stimme der Frau schraubte sich immer höher. Schrill zwangen sich die Worte zwischen den zusammengepressten Fingern des Mädchens hindurch. Tränen strömten aus den weit aufgerissenen Augen des Kindes. Ach, könnte sie doch nur bei Mama sein! Sie sprang auf, warf sich auf ihr Bett, zog sich die Decke über den Kopf und schluchzte laut. Sie würden ihr Stubenarrest aufbrummen, sie einsperren, damit sie nicht zu Mama gelangen konnte. Das konnte sie nicht zulassen.

Sie wischte ihr verschmiertes Gesicht an der seidenen Bettdecke ab und stand leise auf. Ihr Reiseköfferchen stand in der Kammer neben dem Dienstbotenzimmer, da war kein Rankommen, also musste es anders gehen. Sie warf einige Kleidungsstücke auf das Bett, zwei Bücher, Elise und das silberne Armband, das die Großmutter ihr geschenkt hatte. All das wickelte sie in einen großen Schal, dessen vier Ecken sie zuknotete, um eine Tasche mit Halteschlaufe zu formen. Ihr Blick fiel auf die Fotografie auf ihrem Nachttisch, sie hielt kurz inne. Konnte sie Papa alleine lassen? Er hatte doch die Frau. Er brauchte sie nicht. Mama aber. Mama brauchte sie. Wie die Luft zum Atmen, sagte sie immer. Das unhandliche Bild in seinem schweren Rahmen konnte hierbleiben.

Paula griff nach ihrem roten Wollmantel mit den handgeschnitzten Hornknöpfen, warf sich ihre improvisierte Tasche über die Schulter und ließ sich langsam aus ihrem Fenster zu den Rosenrabatten hinunter, an denen sie sich hinab hangelte, um den Boden zu erreichen. Die Dornen stachen tief in ihre weichen Handflächen und zerkratzen ihr Beine und Gesicht, doch Paula bemerkte das kaum. Sobald ihre Füße den Boden berührten, rannte sie wie von Hunden gehetzt durch den gepflegten Park, in dem sie früher so gerne gespielt hatte. Sie schlich um das Gärtnerhaus herum, sorgsam darauf bedacht, nicht gesehen zu werden – niemand sollte ihretwegen Ärger bekommen – und machte sich dann daran, mit Hilfe der alten, schiefen Weide die große Mauer zu überwinden, die das Grundstück von der Außenwelt trennte. Es waren nur noch wenige Schritte bis zum Flussufer hinunter. Dort folgte sie dem alten Treidelpfad, der sie ungesehen an den Grundstücken der Nachbarn vorbeiführte. Erst am Ende der Straße stieg sie den kleinen Abhang wieder hinauf, schimpfte über die fiesen Brombeeren, die ihr die Strümpfe zerrissen, und näherte sich dem alten Haus zum ersten Mal durch den verwilderten Garten. Der Duft der wilden Rosen machte ihr Herz wieder leicht. Sie rannte über die zerbrochenen Steinplatten zu der nur noch zur Hälfte existierenden Terrasse und schob sich dort sehr vorsichtig durch die scharfen Überreste der Glastür.

„Mama! Mama! Ich bin wieder da! Mamaaaa …“ Paula konnte die geliebte Stimme singen hören. Eilig und ohne darauf zu achten, wohin sie ihre Füße setzte, jagte sie durch den Salon, sprang über den am Boden zersplitterten Kronleuchter und wand sich unter den in alle Richtungen stehenden Holzbalken der herabgestürzten Decke hindurch. Durch die Trümmer, die einstmals wohl die Zwischendecke gebildet hatten, konnte sie das einfallende Licht der großen Fenster im Kaminzimmer sehen. Dort würde ihre Mutter auf sie warten. Paula nahm all ihren Mut zusammen und sprang.


Sechs Schimmel hatten die schwarze Kutsche gezogen, in welcher der weiße Sarg noch kleiner wirkte, als er wirklich war. Sechs Schimmel mit schwarzen Federbüschen am Geschirr, genau wie bei ihrer Mutter. Über der Grube stand auf einem Holzgestell ein riesiger Kranz aus weißen Rosen, genau wie bei ihrer Mutter. In seinen großen Händen mit den glänzenden schwarzen Handschuhen wirkte ihre Puppe winzig. Franz legte Elise sanft auf den blumenbedeckten Sarg, dann brach er zusammen.

„Eine kleine Dickmadame

Fuhr mal mit der Eisenbahn

Eisenbahn die krachte

Dickmadame die lachte“

Paulas Hände tanzten wie kleine Vögel durch die Luft, trafen Mamas Hände im perfekten Moment, während ihre Stimme quietschend immer lauter und schneller wurde. Mama hielt mit, sang lachend den Reim, bis Paulas Zunge sich verknotete und Mamas Hände die ihren in der Luft fingen – und hielten. Strahlend warf das achtjährige Mädchen sich in die Arme der dunkelhaarigen Frau und beide lachten, bis sie keine Luft mehr bekamen.


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