Читать книгу Albrecht Dürer - Anja Grebe - Страница 15
Martin Schongauer
ОглавлениеDie Schongauer-Geschwister haben dem jungen Gesellen wahrscheinlich nicht nur „gute Gesellschaft geleistet“, sondern ihm auch die Zeichnungen ihres verstorbenen Bruders zur Verfügung gestellt. Dürer konnte vermutlich das Material in Ruhe studieren, Kopien interessanter Kompositionen anfertigen und einige Stücke sogar mitnehmen. Darunter war möglicherweise auch das „Studienblatt mit Pfingstrosen“ (Los Angeles, Getty-Museum). Das Aquarell diente wohl nicht nur als direkte Studie zu Schongauers 1473 vollendeter „Madonna im Rosenhag“ (Colmar, Dominikanerkirche), sondern auch zu Dürers um 1503 entstandenem Aquarell der „Madonna mit den vielen Tieren“ (Wien, Albertina). Das Pfingstrosenblatt legt nahe, dass Dürer schon während seiner Gesellenreise für eine wirklichkeitsgetreue Naturdarstellung sensibilisiert wurde, selbst wenn seine eigenen Aquarelle mit Tieren, Pflanzen und Landschaften erst nach der Rückkehr vom Oberrhein entstanden sind. Vergleicht man Dürers spätere Aquarelle mit dem Schongauer-Blatt, so wird ein wichtiger Unterschied deutlich: Dürers Naturstudien, etwa das „Große Rasenstück“ (Wien, Albertina), sind in der Regel keine unverbunden nebeneinander gestellten „Naturausschnitte“ wie das Pfingstrosenblatt, sondern „Naturkompositionen“, die den Bildcharakter eines Stilllebens besitzen.
In welchem Maße Dürer in der Auseinandersetzung mit Zeichnungen und Druckgraphiken Schongauers eine neue Sicht auf die Kunst entwickelte, die zugleich eine neue Wahrnehmung der Welt bedeutete, veranschaulicht ein um 1492/93 entstandenes Blatt, dessen Vorderseite eine „Heilige Familie“, die Rückseite aber ein Selbstbildnis Dürers zeigt (Erlangen, Universitätsbibliothek). Während die Zeichnung der Vorderseite an Kompositionen Schongauers angelehnt ist, etwa die „Madonna mit Nelke“ (Berlin, Kupferstichkabinett), handelt es sich bei dem Selbstbildnis um eine Studie nach der Natur, wobei sich Dürer selbst als Modell genommen hat. Entsprechend hervorgehoben sind die Augen. Die Zeichnung wird beherrscht von dem fast hypnotischen Blick des Dargestellten, der sich nachdenklich und mit verschlossenen Zügen wiedergibt.
Das genaue Beobachten ist die erste Voraussetzung einer Naturstudie, die zweite Voraussetzung ist eine sichere, geübte Hand, die das Gesehene auf das Blatt überträgt. Dürer hat die rechte Hand des Zeichners auffällig in den Vordergrund gerückt. Sie wirkt wie nachträglich angesetzt und beruht wahrscheinlich auf einer unabhängigen Studie. Mehr noch als das „Selbstbildnis als Knabe“, das vermutlich in engem Dialog mit dem Vater entstand, markiert das Erlanger Selbstporträt den Beginn von Dürers Karriere als eigenständiger Künstler. Seine eigene Sicht auf die Welt und die Kunst entstand im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Rücken der spätmittelalterlichen Kunst des Oberrheins, wie sie durch die „Heilige Familie“ auf der Vorderseite verkörpert wird. Von dieser Tradition ausgehend unternahm Dürer den entscheidenden Schritt in Richtung einer neuen Kunst, die er in den folgenden Jahren vor allem durch die Begegnung mit der italienischen Renaissance weiterentwickelte.
Das Erlanger Selbstbildnis gilt als Modell für die kleine, um 1493 entstandene Tafel des „Schmerzensmanns“ (Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle). Dort ist der dornengekrönte Heiland mit ähnlich aufgestützter Hand dargestellt. Die mitleiderregende Figur mit dem nackten, blutenden Oberkörper, dem um die Hüften gelegten Leichentuch und den umgebenden Leidenswerkzeugen geht auf Darstellungen von Christus im Elend zurück, wie sie in der oberrheinischen Kunst des 15. Jahrhunderts als Andachtsbild verbreitet waren. Während diese Bilder Christus meist als sitzende Ganzfigur unter dem Kreuz zeigen, zeigt ihn Dürer als Halbfigur hinter einer Brüstung, die einen steinernen Sarkophag andeutet, gleichzeitig aber an die gemalte Brüstung in Porträts erinnert, in denen sie als (Fenster-)Schwelle zwischen Bild und Betrachterraum dient. Dürers Christus sitzt in einem blaugrundigen „Höhlenbogen“, dessen oberer Teil aus einem altertümlich anmutenden, fein punzierten Goldgrund mit Ranken und Vögeln besteht.
Der für eine unbekannte Bestimmung geschaffene „Schmerzensmann“ markiert eine wichtige Etappe in Dürers künstlerischer Entwicklung. Waren beim Erlanger Blatt die nach einer Vorlage erstellte Zeichnung und die Naturstudie noch auf Vorder- und Rückseite verteilt, zeigt die Karlsruher Tafel erstmals eine Verschmelzung von Bildtradition und eigener Erfindung. Während das Bildmotiv auf die ikonographische Tradition des Christus im Elend zurückgeht, beruhen der Kopf mit der aufgestützten Hand und Teile des Körpers auf eigenen Studien nach der Natur.
Trotzdem stellt die Figur kein verborgenes Selbstporträt Dürers als Schmerzensmann dar. Statt eines Rollenporträts im mittelalterlichen Sinne zeigt Dürer eine Darstellung von Christus, für die er sein Selbstbildnis als Vorbild benutzte. In dem berühmten „Selbstbildnis von 1500“ (München, Alte Pinakothek) wird Dürer noch einen Schritt weitergehen. Er hat sich in diesem Gemälde in der Gestalt von Christus nach dem Vorbild byzantinischer Ikonen porträtiert. Hier diente das Selbstbildnis nicht als Modell für eine Christusdarstellung, vielmehr war die Christusikone die Vorlage für Dürers Selbstdarstellung.
Zwischen diesen beiden Polen steht das „Selbstbildnis von 1493“ (Paris, Louvre) als erstes gemaltes Selbstporträt Dürers (Abb. 5). Es stellt die Summe seiner Erfahrungen während der Wanderjahre dar und ist trotz späterer Übermalungen ein Zeugnis seiner meisterhaften Naturbeobachtung und Darstellungskunst. Zu den Zeichnungen, die mit dem Porträt in Zusammenhang stehen, gehört ein Studienblatt (New York, Metropolitan Museum), auf dem Dürer sein Gesicht mit schnellen Federstrichen festgehalten hat.
Abb. 5: Selbstbildnis von 1493.
„Selbstbildnis von 1493“
Das Selbstbildnis, das Dürer 1493 während seiner Wanderjahre am Oberrhein malte, zeigt den jungen Malergesellen im Dreiviertelprofil vor einem schwarzgrünen Hintergrund, der Gesicht, Brust und Hände deutlich hervortreten lässt. Hingegen verschmilzt das dunkelgrüne Gewand nahezu mit dem Untergrund. Das Bild besticht durch die lebhafte Wiedergabe der Gesichtszüge und Augen, aber auch durch die virtuose Darstellung des modischen Gewandes mit dem gefältelten Hemd und den Stickereien.
Mit Faltenwürfen bzw. Faltenstrukturen hat sich Dürer in zahlreichen Studien während seiner Wanderjahre intensiv beschäftigt. Daneben galt seine Aufmerksamkeit dem Studium der Hände, die auch in diesem Gemälde eine wichtige Rolle spielen. Die Betonung und gezierte Haltung der rechten (eigentlich linken) Hand lässt vermuten, dass Dürer dieses Detail unabhängig von der übrigen Darstellung zunächst zeichnerisch studiert hat. Hingegen ist die merkwürdig losgelöst wirkende linke Hand, welche den verlängerten Stiel der Distel hält, eine spätere Ergänzung von einem anderen Maler.
Über die Bedeutung der Distel (Eryngium) ist viel gerätselt worden. Wie bei allen Attributen ist ihre Interpretation von dem Kontext, der Darstellungstradition und der Funktion des jeweiligen Kunstwerks abhängig. Ausgehend von der Tatsache, dass das Eryngium im Volksmund auch „Männertreu“ genannt wird, wurde es auf die bevorstehende Heirat Dürers mit Agnes Frey bezogen. Dürer habe sein Selbstbildnis bewusst auf Pergament gemalt, um es seiner Verlobten leichter aus der Ferne in die Heimatstadt schicken zu können. Tatsächlich war die Pflanze, wie Shira Brisman dargelegt hat, in der Dürerzeit als „Sternkraut“ (Aster atticus) bekannt, was zu der wohl eigenhändigen Inschrift „My sach die gat/Als es oben schtat“, d.h. „Meine Geschicke werden von Gott bestimmt“, passt. Dieser Ausdruck des Gottvertrauens und der Gottergebenheit ist nur schwer mit der angeblichen romantischen Bestimmung des Gemäldes als Brautwerbung zu vereinbaren. Am wahrscheinlichsten ist, dass Dürer das Gemälde wie alle seine autonomen Selbstbildnisse für sich selbst anfertigt hat. Dürers „Selbstbildnis von 1493“ dokumentiert sein Aussehen im Alter von 22 Jahren und ist zugleich ein Dokument seiner intensiven Auseinandersetzung mit sich selbst sowie Ausdruck seiner Persönlichkeit und seines Selbstbewusstseins im wörtlichen wie übertragenen Sinne.
Was Zeichnung und Gemälde vor allem verbindet, ist der merkwürdig „schiefe“ Blick des Dargestellten, ein Kennzeichen fast aller Selbstbildnisse des Künstlers. Die rechte Pupille ist im äußersten Augenwinkel dargestellt, während die linke Pupille geradeaus zu schauen scheint. Dieser Blick ist bei der Zeichnung damit zu erklären, dass Dürer sich von der Seite im Spiegel betrachtete und das Gesehene zugleich auf dem vor ihm liegenden Blatt festhielt. Er zeigt somit das „auseinander fallende Sehen“ des gleichzeitigen Beobachtens und Wiedergebens. Es wäre ein Leichtes gewesen, diesen „Fehler“ bei der malerischen Ausführung zu beheben und die beiden Blicke wieder zusammenzuführen. Indem Dürer den „doppelten“ Blick bei den gemalten Selbstbildnissen beibehält, scheint er deutlich machen zu wollen, dass diese auf einer authentischen Beobachtung beruhen. Ähnlich wie die Lichtreflexe und Fensterkreuze, die sich in den Augen spiegeln, ist der „schiefe Blick“ eine Art gemalte Signatur, die den Porträtierten zugleich als Subjekt und Objekt des Gemalten beschreibt.
Eine ähnliche Strategie der Doppelung gilt auch für die Hände, die Dürer stets auffällig ins Bild setzt. Neben dem Kopf und den Augen bzw. dem Blick hat Dürer den Händen als den wichtigsten „Werkzeugen“ eines Malers besondere Beachtung geschenkt und seine eigene Hand in den unterschiedlichsten Positionen immer wieder studiert. Seine Aufmerksamkeit galt vor allem dem Spiel der Muskeln, Sehnen und Adern und ihrer Veränderung bei unterschiedlichen Handhaltungen. Dass er dabei auch obszöne Gesten geübt hat, zeigt ein „Studienblatt mit drei Händen“ (Wien, Albertina).
Das „Selbstbildnis von 1493“ ist das erste in der Reihe von drei gemalten Selbstporträts, in denen der junge Künstler sein Aussehen und zugleich seine malerischen Ansprüche zwischen 1493 und 1500 dokumentierte. Sie zeigen drei Varianten des Porträts, wie sie Dürer ebenso für die Darstellung Dritter anwandte: als Halbfigur mit Attribut vor dunklem Hintergrund („Selbstbildnis von 1493“), als Halbfigur vor einem rückwärtigen Fensterausblick („Selbstbildnis von 1498“) und schließlich die frontale Darstellung („Selbstbildnis von 1500“).
Das „Selbstbildnis von 1493“ ist möglicherweise in Straßburg entstanden, wo Dürer sehr wahrscheinlich vor bzw. nach seinen Aufenthalten in Colmar und Basel in einer Malerwerkstatt gearbeitet hat. Darauf lässt ein Eintrag im 1573/74 erstellten Inventar des Kunstsammlers Imhoff schließen, der zwei 1494 datierte, heute verschollene Täfelchen mit den Porträts von Dürers Meister in Straßburg und dessen Ehefrau besaß. Straßburg war Ende des 15. Jahrhunderts das wichtigste Kunstzentrum am Oberrhein und führend in der Tafel- und Glasmalerei. Zu den bedeutendsten Straßburger Künstlern gehörte der anonyme Meister der „Dominikus-Legende“ (Darmstadt, Hessisches Landesmuseum). Ob er jener Meister war, bei dem Dürer auf seiner Wanderschaft gearbeitet hat, ist aufgrund des weitgehenden Verlustes der oberrheinischen Gemälde durch den Bildersturm der Reformation jedoch nur schwer zu überprüfen.