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Brücke der Einsamkeit

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Die ersten Monate bei meinen Großeltern waren sehr schwer für mich. Ich lebte zwar ein ruhiges und wunderschönes Leben, war den beiden unendlich dankbar, aber ich hatte so große Sehnsucht nach meiner Familie, dass ich mir manchmal wünschte, ich hätte diesen Schritt niemals gemacht. Nachts konnte ich nicht einschlafen, weil mich mein Gewissen plagte. Ganz besonders, als ich hörte, dass meine Eltern kein Dach mehr über dem Kopf hatten. Sie verbrachten ihr Leben irgendwo, und ich lebte wie eine Prinzessin. Hatte ein eigenes Zimmer mit Balkon, die schönsten Kleider, immer genug zu essen, und auch sonst war ich rundherum gut versorgt. In dieser Zeit spazierte ich oft zu der kleinen Brücke, setzte mich in die Wiese und weinte. Es war mein Plätzchen, wo mich keiner sehen konnte. Zu Hause weinte ich nie, denn dann hätte ich meinen Großeltern alles erklären müssen, und ich wollte sie nicht vor den Kopf stoßen. Ich wusste, dass sie das nicht verstehen würden. Waren sie doch oft selbst mit unserer schwierigen Situation überfordert. Meine Großmutter war die zweite Frau meines Großvaters, hatte nie eigene Kinder gehabt. Plötzlich die Verantwortung für mich tragen zu müssen, sich den Besuchen des Jugendamts zu stellen und mit dem Zorn, den sie beide auf meine Eltern hatten, fertigzuwerden, war nicht einfach. Ich verstand ihren Ärger, aber es tat mir weh, wenn sie kein Blatt vor den Mund nahmen und einfach drauflos schimpften.

„Eine Schande ist das!“, tobte mein Großvater, wenn ihm irgendwas von meinen Eltern zu Ohren kam. „Was für ein Gesindel! Da holt man sie hierher, tut alles, was man kann, und muss sich nur schämen! Ein Fass ohne Boden ist das. Ja, Mädchen, du kannst nichts dafür, aber du bist unter keinem guten Stern geboren!“ Und seine Verbitterung machte seine Augen traurig. Dann ging er in den Wald, um sich zu beruhigen. Ja, schlecht waren sie, meine Eltern, weil sie nichts auf die Reihe brachten, aber ich liebte sie doch, und meine Großeltern liebte ich auch. Was tun? Ich war einsam!

Mein Bruder war so gesehen der Einzige, der von meiner Familie noch übrig war und der bestimmt wusste, wie ich mich fühlte, obwohl wir nie mehr auch nur ein Wort über unsere Eltern verloren. Ab und zu besuchte er mich, und ich freute mich immer, wenn er kam. Er machte in diesem Jahr die Schule fertig und wechselte dann zum Bundesheer. Ich weiß noch, wie stolz ich auf ihn war, wenn er in seiner Uniform vor mir stand. Er sah so gut aus, und seine Freundin hatte ich auch gern. Ich freute mich, dass es ihm gut ging und dass er glücklich war. Obgleich er mir unendlich fehlte! Er sagte mir immer, dass es von mir richtig gewesen sei zu gehen und dass er sehr froh sei, dass es mir so gut gehe. Damit sprach er mich auch ein bisschen frei von der Schuld, die ich heimlich mit mir herumtrug. Der Schuld, eine Verräterin zu sein.

Doch mit den Monaten wurde das Verlangen nach meiner Familie schwächer und wich langsam der Freude, die ich erleben durfte.

Mein kleines Reich, in dem ich wohnte, befand sich im ersten Stock unseres Knusperhäuschens. Es war, wenn man so will, mein Paradies. Es bestand aus zwei größeren Räumen, einer kleinen Veranda und einem Balkon. Die handbemalten Bauernmöbel hatte ich mir bei einem Tischler selbst aussuchen dürfen. Dunkelgrüne, schwere Möbel mit bunten Ornamenten und verspielten schmiedeeisernen Schlössern. Wie in einer alten Stube, kunstvoll ausgeführtes Handwerk. Ich liebte sie! Dann die Pendeluhr, die direkt über meinem Bett hing, ein altes Stück, das schon von meinem Urgroßvater täglich aufgezogen worden war. Was sie wohl schon alles gesehen hatte? Ich mochte ihr Ticken, und wenn ihr schwerer Gong die volle Stunde einläutete, dann war das immer etwas Besonderes. Nicht zu überhören. Wenn ich im Bett lag, konnte ich direkt in den Himmel schauen. Ich liebte es, nachts dieses nicht enden wollende Sternenmeer zu bewundern und beim Ticken meiner Pendeluhr friedlich in den Schlaf zu sinken. Kein Streit, nur Stille!

Am Morgen weckte mich mein Großvater, rief aus dem Garten herauf: „Anja, aufstehen! Die Sonne scheint, die Blumen blühen, das Wasserrad plätschert. Hui, hui, hui!“ Dann musste ich lachen, weil ich wusste, dass er nun schnurstracks zu seinem geheiligten Misthaufen gehen würde, um seinen Nachttopf auszuleeren. Wenn ich dann zu ihm runtersah, lachte er mich an und meinte: „Komm, das Frühstück ist fertig! Auf, auf, ihr Hasen, hört ihr nicht den Jäger blasen?“ Er freute sich, wenn er mich zum Lachen brachte, und wenn ich dann verschlafen in die Küche kam, wo es so angenehm warm war und der Duft des Kaffees die Gemütlichkeit noch unterstrich, machte Oma gerade sein Butterbrot, und er war dabei, die Kaffeetassen auf den Tisch zu stellen.

„Magst eh ein Butterbrot, Papa?“, fragte sie ihn, und er entgegnete: „Ja bitte, Mama.“ Dann drehte er sich zu mir um: „Butterbröter machen Wangen röter. Ja!“ Und schon musste ich wieder lachen.

Es war ein Miteinander füreinander. Getragen von Achtung und Respekt. „Denn man kann nur miteinander zu was kommen“, darüber waren die beiden sich einig. Und wenn Großmutter manchmal sagte: „Geh, Vati, red doch nicht so dumm daher“, weil ihr eben irgendetwas nicht passte, dann antwortete er: „Was du schon wieder hast, na, ist ja wahr! Oder stimmt’s vielleicht nicht?“ In all ihren Worten lagen Liebe und Wertschätzung voreinander. Das konnte man spüren.

Oft saß ich auf der Truhe unter meinem Fenster und bewunderte den wunderschönen Garten. Der ganze Stolz meiner Großeltern. Ein riesengroßer Gemüsegarten, in dem alles wuchs, was man so zum Leben brauchte. Er war das Herzstück des kleinen Anwesens. Der Vorgarten, der wie ein Willkommensgruß mit einem Potpourri der schönsten und seltensten Rosen bepflanzt war. Ihr Duft betörte die Spaziergänger, die an unserem Haus vorbeigingen. Ein Bächlein, das durch den Garten floss, mündete in einem eigens dafür angelegten Sammelbecken, in dem ein buntes Wasserrad plätscherte. Das kleine Wirtschaftsgebäude, von dem ein Teil als Waschküche, der andere als Hasenstall diente. Und unter dem Dach der wohl kleinste Heuboden der Welt! Also wahrscheinlich der kleinste. Für die Hasen! Es war der Lieblingsplatz von mir und meinem Großvater, wir spielten dort Gitarre, sangen gemeinsam. Nur wir beide! Wenn ich dort oben saß mit ihm, meine Beine ins Leere baumeln ließ und sang, dann war die Welt in Ordnung und alle Sorgen vergessen!

Ja, und der Misthaufen! Der war sehr wichtig, sorgte er doch für den Dünger, mit dem all die Pflanzen im Spätherbst versorgt werden würden. Auf ihn war mein Großvater ganz besonders stolz! Sorgsam wählte er aus, was an Abfall hineinkommen durfte! Und wehe, wenn es das Falsche war! Nicht mal ich, wo ich doch seine Puppe war, durfte da einen Fehler machen.

„Alles biologisch“, verkündete er leidenschaftlich. Hob die Hand und lief mit seinem alten, schäbigen Strohhut, den er sich fest über den Kopf zog, um damit besonders komisch auszusehen, durch den Garten. „Ja! Alles biologisch!“

An diesen geheiligten Misthaufen grenzte der Obstgarten. Unzählige Obstbäume mit allem, was das Herz begehrte. Kirschen, Zwetschgen, Äpfel, Birnen, Nüsse, alles, was gut und saftig war. Natürlich nur erlesenste Sorten! Keine Pressobstbäume! Denn man wähle genau, was man sich in den Garten pflanze, bitte! Im verstecktesten Winkel befand sich die Senkgrube. Und selbst die war zu einem Alpengärtchen umfunktioniert. Sorgsam ausgesuchte, besonders dekorative Steine, mit Edelweiß und Enzian, Schneerosen, Arnika und was weiß ich noch allem Seltenem bepflanzt. Dazwischen Minigartenzwerge und Rehe, alles harmonisch abgestimmt.

Von Mai bis Oktober fand man meine Großeltern nur arbeitend im Garten. Man konnte sie nicht sehen, versteckt zwischen den hoch wuchernden Pflanzen, von denen jede einzelne das Herz eines Gärtners höher schlagen ließ, aber hören konnte man sie.

„Mutti, hast du Durst? Ich bring dir was!“

„Nein danke, Papa, aber machen wir eine Pause?“

Sie besprachen immer alles im Garten, die zwei. Natürlich laut, versteht sich, sodass der übernächste Nachbar auch noch alles verstand, was es da so zu bereden gab. Ob sie nun Fisolen ernteten oder Zucchini, Kraut, Kartoffeln oder Suppengemüse, Kürbisse, Erbsen oder Petersilie, Schnittlauch oder Maggikraut, Ribiseln, Stachelbeeren oder Erdbeeren, all diese Gaumenfreuden fanden sich auf zweitausend Quadratmetern.

Für mich war dieses Fleckchen Erde das Paradies! Und nun durfte ich hier sogar wohnen. Was für ein Glück! Doch immer wieder tauchte die nagende Frage auf: Ob ich es mir wohl erlauben durfte, das alles zu genießen? Aber irgendwann erlaubte ich es mir schließlich – und genoss ihn, meinen Garten Eden!

Die Träume, die mich des Nachts oft verstört aufwachen ließen, hörten auf. Ich hatte kein Verlangen mehr, mich in den Schlaf zu wiegen, denn das übernahm nun die Pendeluhr für mich. Und ja, ich durfte auch meine Großeltern lieben, so wie ich sie immer schon geliebt hatte, ohne eines Verrats an meinen Eltern schuldig zu sein. Dazu kam, dass es für mich immer Arbeit gab, auch das brachte mich auf andere Gedanken. Ob Hasen füttern, mähen, Ribisel pflücken, Schnaps brennen, Arnika ansetzen, Kraut für den Winter schneiden. Arbeit, Arbeit, Arbeit! Und als Belohnung ein toller Ausflug irgendwohin. Eis essen, Fußball spielen auf einer Alm, wandern oder einfach nur bei einer deftigen Jause gemeinsam plaudern und lachen.

Es war diese Harmonie, die die zwei lebten und von der ich nun ein Teil geworden war. Und ich lernte, dass es sie gab, die Liebe. Die in allen Liedern besungen wird. Meine Großeltern lebten sie in einer Schlichtheit, die man nur genießen konnte. Ihr Geheimrezept dafür war Humor. Kein Wunder also, dass ich die ersten schulischen Erfolge zu verzeichnen hatte. Was mich selbst am meisten wunderte. War es dieses ruhige Leben, das den Erfolg mit sich brachte? War ich gar nicht so dumm, wie ich immer gedacht hatte? Den ersten Einser auf eine Mathematikschularbeit konnte ich einfach nicht glauben. Welcher Wandel sich doch in meinem Leben vollzogen hatte! Die Schule, der Ort, an dem man sich ausschläft? Den man halt besucht, weil es so sein muss? Das war einmal.

Ich war die längste Zeit ein Sonderling gewesen. Die Dicke, die keiner mag. Die man verspottet, auslacht und ignoriert. Ich weiß noch, dass ich meine Mitschüler stets verteidigt, freigesprochen hatte, wenn sie mich lächerlich gemacht hatten. Sie wussten ja nicht, wie ich lebte und warum ich so war, wie ich eben war. Komisch. Ich war die Einzelgängerin, die bei schulischen Veranstaltungen, die etwas kosteten, nie dabei war, weil wir das Geld nicht hatten, und plötzlich war alles anders. Ich durfte auf Landschulwoche mitfahren. Die mit Abstand genialsten Tage meines damaligen Lebens. Meine Mitschüler waren richtiggehend irritiert. Da war plötzlich eine Anja, die lachte, Scherze machte. Wir hatten Spaß, und da fiel es mir so richtig auf, wie schön es war dazuzugehören, denn das hatte ich all die Jahre zuvor gar nicht erst angestrebt. Auch die Einstellung meiner Lehrer mir gegenüber änderte sich. Schließlich hatten sie nun auch eine Ansprechperson, die meine Interessen vertrat, die ein gepflegtes Erscheinungsbild hatte und freundlich war – meine Großmutter. Mit der man ein Problem sachlich und in Ruhe besprechen konnte. Das stimmte die Lehrer mir gegenüber verständnisvoller. Mein Klassenvorstand, der mich nicht mochte, musste einlenken und hörte auf, bei meinen mündlichen Prüfungen gelangweilt mit den Fingern auf den Tisch zu trommeln. So als wäre ein Fünfer die einzige Note, die ich verdiente. Was mir enorme Erleichterung verschaffte. Ich besserte mir alle Noten aus.

Meine Großeltern stellten für mich eine Diät zusammen. Kauften mir ein Fahrrad und Laufschuhe. Und von da an wurde gelaufen, Rad gefahren, das Abendessen wurde gestrichen, und schon bald verlor ich meine Schutzhülle. Sechzehn Kilo nahm ich in zwei Jahren ab und fühlte mich besser denn je. Endlich passte ich in modische Kleidung, um auch in diesem Punkt bei meinen Freundinnen keine Probleme mehr zu haben. Wie unglaublich schön, ganz normal zu sein! Einfach nur leben und sich um nichts Existenzielles kümmern müssen. Kein Streit, keine Gewalt, viel Spaß und noch mehr Geborgenheit. Meine Großeltern gaben mir ein richtiges Zuhause, und ich war ihnen dankbar dafür!

Kein einziges Mal kam es vor, dass meine Großeltern, ohne mir eine Nachricht zu hinterlassen, fortgingen. Auf dem Tisch lag immer ein Kärtchen, auf dem stand, wo sie gerade waren. „Hallo, Puppe“, konnte ich dann lesen, und ich wusste, ich gehörte dazu. Alles wäre perfekt gewesen, wären meine Eltern dabei gewesen!

Meine Trauer um sie schlug um in Hass. Damit tat ich mich wesentlich leichter. Ich sah die vielen Unterschiede, die es im Leben meiner Großeltern und dem meiner Eltern gab. Beinahe täglich hörte ich von meinen Großeltern, was meine Eltern nicht alles falsch gemacht hätten. Heute sehe ich vieles mit anderen Augen, zumal ich erst jetzt weiß, dass meine Mutter den Abschiedsbrief nie gelesen hatte und eigentlich alles ein eigennütziges Spiel meiner Großmutter gewesen war. Aber damals tat es mir weh, wenn die beiden schlecht über meine Eltern sprachen, auch wenn ich ihnen insgeheim recht geben musste. Ständig in meiner Gefühlswelt hin und hergerissen, zwang ich mich, alles zu verdrängen. Das ging so weit, dass ich einmal auf die Frage, wo denn meine Eltern seien, antwortete: „Die sind tot, ich bin bei meinen Großeltern aufgewachsen!“ Erst als ich alle sterben ließ, fand ich meinen Frieden. Ja, es war ein schweres Jahr, dieses erste. Aber es war auch ein gutes Jahr. Meine Mutter sah ich nur ein einziges Mal. Sie kam in die Schule. Ich wäre ihr liebend gern um den Hals gefallen und hätte ihr gern freudestrahlend von all den schönen Dingen erzählt. Wie gut es mir ginge und wie sehr ich sie vermisste, aber ich konnte es nicht. Kühl und reserviert stand ich vor ihr, aus Angst, sie könnte mir all das wieder wegnehmen. Aus Furcht, ich müsste zurück in diese furchtbare Welt, aus der ich gegangen war. Sie sagte mir damals, dass sie die Scheidung eingereicht hätte, sich eine Wohnung suchen würde, und dann könnte ich wieder nach Hause kommen. Unfreundlich wies ich sie ab: „Das glaub ich dir nicht. Mach mal, dann werden wir schon sehen.“ Enttäuscht ging sie damals aus meinem Leben. Erst zwei Jahre später sah ich sie wieder. Da hatte sie es geschafft. Stand auf eigenen Beinen. Was mich heute noch freut angesichts all dessen, was sie erlebt hatte! Aber damals hatte es für mich keine Bedeutung mehr.

Zwei mit Eins

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