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Gefühltes Glück

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Das erste Jahr war um, und es ging um die Frage, was ich denn werden wollte. Krankenschwester, das wäre es gewesen. Doch ich dachte noch immer, dass ich zu dumm für eine weiterführende Schule sei. Also wählte ich ohne zu zögern meinen Traumberuf Nummer zwei: Köchin und Kellnerin. Meine Großeltern entschieden, mit mir in eines der besten Restaurants der Umgebung zu fahren, um mich dort vorzustellen. Es war alles so einfach! Keine verstohlenen Blicke, keine Abneigung, aufgeschlossene Menschen, die mir entgegengingen, wo ich auch hinkam. Meine Großeltern waren zwei ausgesprochen gut situierte Leute, die sich gut kleideten, immer einen perfekten ersten Eindruck vermittelten und auch sonst kein nennenswertes Problem hatten. Sie waren wohlhabend, da sie es unter anderem verstanden, am richtigen Platz zu sparen. Ich lernte viel von ihnen. Es waren Welten, die ich da an Veränderung erlebte. Ja, es war wie in einem Zeugenschutzprogramm, in dem einem eine völlig neue Identität gegeben wird. Nichts war mehr so, wie es einmal gewesen war.

Auf der Fahrt zu meinem Vorstellungsgespräch konnte ich mich dem Zauber der unendlich schönen Landschaft nicht entziehen. Entlang eines Flusses führte die Straße bis in ein Tal am Fuß eines mächtigen Berges. Idylle pur. Dort, wo ich arbeiten sollte, war nichts, nur Wiesen, Wälder und eben dieser Berg, der mir in seiner Mächtigkeit und Schönheit entgegengrüßte. Dieses Gefühl, das ich damals hatte, lässt sich als Demut beschreiben. Ergriffenheit vor so viel Schönheit und Größe. Es war mir damals, als wäre ich angekommen in einem neuen Lebensabschnitt. Als Kind war ich mit meinen Großeltern schon öfter an diesem Ort gewesen. Jetzt fuhr ich wieder hin, aber nicht um zu wandern oder Fußball zu spielen, sondern um dort viele Jahre zu bleiben, wenn ich die Lehrstelle bekäme, die im folgenden Jahr frei werden sollte. Das Restaurant lag in einer Mulde versteckt. Ich hatte es zuvor nie wahrgenommen, umso mehr beeindruckte mich dieses Haus, weil es so ein wunderbares Flair ausstrahlte. Der Baustil ließ erahnen, dass es schon sehr alt sein musste. Eine Art Bauernhaus, liebevoll restauriert. Auf der Vorderfront stand in großen, geschwungenen Buchstaben „Klugerhof“. Kleine Holzfässer mit Blumen schmückten den Aufgang. Eine große Tafel begrüßte uns mit den Worten: „Herzlich willkommen!“ Ein Meer von hellrot leuchtenden Blumen, wohin man auch blickte. Als wir die Tür öffneten, schlug mein Herz wie wild. Innen ein liebevoller Landhausstil, die Tische im Farbton des jeweiligen Raumes gedeckt. Blau, beige und rot. Helles Holz und Blumenstoffe. Alles wirkte heimelig. Nichts war dem Zufall überlassen. Die Kellnerinnen trugen alle ein Dirndl, unglaublich adrett. Und diese auffallende Sauberkeit. Alles glänzte und spiegelte. Nobel eben, und da sollte ich arbeiten dürfen.

Erwartungsvoll und aufgeregt suchten wir uns ein Plätzchen im urigen Gastzimmer. Wer wohl diese Klugers waren, die einen so guten Geschmack hatten? Sie ließen nicht lange auf sich warten. Nahmen sich Zeit für uns, wirkten offen und lebensfroh.

In Wahrheit war es Liebe auf den ersten Blick, denn die zwei fackelten nicht lang herum.

„Du willst also bei uns lernen, Anja?“, fragte Frau Kluger, eine zierliche, hübsche Frau mittleren Alters mit einem blonden Pagenkopf. Ihr Gesicht hatte so charismatische weiche Züge, die jedoch unverkennbar signalisierten: Ich weiß, was ich will. Eine taffe Persönlichkeit, an der man nicht vorbeikonnte. Absolut ernst zu nehmen, wie sie da saß und mich anlächelte.

„Ja, hier ist es so schön“, entgegnete ich schüchtern. „Wenn ich mal zur Probe hier arbeiten dürfte, würde ich mich schon sehr freuen.“

Das Ehepaar wechselte einen übereinstimmenden Blick, und sie meinte: „Gut, dann kommst du nächstes Wochenende. Dann sehen wir gleich, ob es dir bei uns gefällt und ob du unseren Vorstellungen entsprichst. Ob dieser Beruf überhaupt das Richtige für dich ist. Ich freu mich!“ Sie streckte uns ihre Hand entgegen, und ehe ich mich versah, war sie weg, diese unglaublich sympathische Frau. Verschwunden in ihrer Küche, da sie viel Arbeit hatte. Ihr Händedruck war weich, aber bestimmt, und ich war glücklich! Überglücklich! Ich hatte eine Chance bekommen, was zu der Zeit, also in den Achtzigern, durchaus keine Selbstverständlichkeit mehr war. Lehrstellen waren rar geworden, da sich das Lehrlingsschutzgesetz geändert hatte. Strengere Auflagen, um das Ausbeuten der Lehrlinge einzudämmen. Ich aber bekam die Möglichkeit zu zeigen, was in mir steckte. Noch dazu in einem so guten Haus. Ich saß nur mehr da und lächelte.

Herr Kluger wirkte einfach nur liebevoll auf mich. So ein knuddeliger, groß gewachsener Teddybär mit einer auffallend großen Nase, die seinerseits das Markenzeichen der Familie war. Die Kluger-Nase eben. Er war ein stattlicher, muskulöser Mann, das genaue Gegenteil seiner Frau, trug ein weißes Trachtenhemd, das nicht eine einzige Falte aufwies, mit einem hübsch bestickten Mascherl. Während er sich mit meinen Großeltern unterhielt, schob er das rote Tischset zurecht, so als müsste es genau im rechten Winkel zur Tischplatte liegen. Die Art, wie er sprach und lachte, war so unglaublich warm und herzlich. Ja, ich mochte ihn auf Anhieb, diesen liebenswerten Menschen. Als wir um die Rechnung baten, lud er uns auf unsere Konsumation ein: „Das arbeitet Anja nächstes Wochenende ab.“ Lachend bedankte er sich für unser Kommen, und als wir das Haus verließen, wusste ich: Hier will ich arbeiten! Unbedingt! Ich würde mein Bestes geben, um zu entsprechen.

Natürlich gab ich am darauf folgenden Wochenende mein Bestes! Ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen, wie weh meine Füße taten, als ich am Sonntagabend nach Hause kam. Völlig fertig. Aber das war nicht wichtig, denn ich durfte das ganze kommende Jahr an den Wochenenden aushelfen und hatte die Zusicherung für die Lehrstelle bekommen. Ich war so unendlich stolz an diesem Sonntagabend.

Als ich am 1. August 1984 zu arbeiten begann, war ich der glücklichste Mensch auf Erden. Doch es hieß Abschied nehmen von meinen Großeltern. Von den zwei Menschen, die so Großartiges geleistet hatten, um mein Leben zu verändern. Nur an meinen freien Tagen würde ich nach Hause kommen können. Was mir aber absolut leichtfiel, da ich gleich eine Freundin fand.

Der Beruf war wie für mich geschaffen. Ich stand vor einem unvorstellbar großen Topf mit Kartoffeln und sang beim Schälen. Vom ersten Tag an fühlte ich mich in diesem Haus geborgen, und ich erinnere mich noch, dass ich die pubertären Revoluzzergedanken meiner Kolleginnen in Bezug auf meine Lehrherren nie teilen konnte. Für mich waren die Klugers immer die zwei, denen ich alles erzählte, weil ich mich so freute, dass sie sich für mich interessierten und mich mochten. Und ich bekam von ihnen viel Anerkennung und Lob. Aber sie lehrten mich auch Ordnung, Pünktlichkeit und einen höflichen Umgangston. Ich lernte, Regeln einzuhalten, musste Gebote und Verbote hinnehmen, eine Struktur eben, die mir Sicherheit gab. Aus mir wurde ein disziplinierter Mensch, der es fortan leicht hatte in der Gesellschaft. Ich war ein Kluger-Mädel, immer eine Viertelstunde vor der Zeit am Bestimmungsort, weil Pünktlichkeit Pflicht, geputzte Schuhe ein Muss und Höflichkeit selbstverständlich sind. Nichts, aber auch wirklich gar nichts erinnerte an meine Kindheit.

Ein Riesenplus war, dass ich nicht allein war. Die vielen Lehrlinge verschafften mir die Pufferzone, die ich brauchte. Spaß ohne Ende, der mich vergessen ließ. Der nötige Abstand zum Alkohol, da dieses Haus nur ausgewählte Gäste beherbergte, die gehobene Gastlichkeit zu schätzen wussten, weit entfernt von dem, was ich zuletzt bei meinen Eltern gesehen hatte. Diese angenehm unkomplizierte Atmosphäre ließ meine Seele langsam genesen. Ich lebte und arbeitete sorgenfrei dahin, in der Gewissheit, dass ich alles erreichen konnte, was ich nur wollte, da es an Fleiß nicht fehlte. Und so wurde aus mir ein großer, schlanker, durchaus beliebter, sportlicher Teenager mit schulterlangen, blond gewellten Haaren und blauen Augen. Meine große Leidenschaft galt der Musik, dem Tanz – und Schuhen. In meiner Art war ich absolut unbeschwert, und nichts war für mich ein Problem. Schwierige Gäste waren für mich eine Herausforderung, der ich mich gern stellte. Ich liebte es, wenn sie unser Haus lächelnd verließen. Als besonders wertvoll erachtete ich die akribische Genauigkeit, wenn es um Sauberkeit ging, und die kompromisslose Exaktheit, mit der die Klugers ihre Gäste auf Händen trugen. Sie waren stets gern gesehen, alles war machbar, und jede Bemühung, um sie zufriedenzustellen, war selbstverständlich. Unser Dank war ihre Wertschätzung.

Ja, ich fühlte mich wohl und liebte das Leben. Bei den Burschen stand ich hoch im Kurs, denn mit der Zeit verstand ich es, meinen Matchwinner, meine großen Augen, einzusetzen. Aber die Kluger-Mädels waren nicht leicht zu kriegen. Dieser Ruf eilte uns voraus. Unser Chef hatte ein gutes Händchen für hübsche Lehrmädchen. Die jungen Männer wähnten sich also im Paradies, wenn sie unser Lokal betraten. Dementsprechend viele scharten sich am Wochenende an der Schank, um uns zu bewundern und uns den Hof zu machen. Wir Mädchen genossen es – und blieben unnahbar. Taktisch genial würde ich meinen! Und so wollte es wohl so sein, dass ich meiner ersten großen Liebe begegnete.

Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich mich an dieser Stelle an einen Psychologen wenden, professionelle Hilfe suchen. Denn aus heutiger Sicht weiß ich, dass mir damals nicht bewusst war, wie viel ich eigentlich noch an mir zu arbeiten gehabt hätte. All die Dinge, die ich erlebt hatte, blieben unausgesprochen. Ich war wie ein Vulkan, der vor sich hin brodelte, um erst Jahre später zum Ausbruch zu kommen. Von psychologischer Bewältigung, wie man es heute als selbstverständlich erachtet, war damals noch keine Rede. Gefühle wurden nicht ausgesprochen. Ich agierte, so gut ich eben konnte. Was einerseits nicht das Schlechteste war, weil es mich vergessen ließ. Aber mit dem Thema Liebe kamen teilweise die Erinnerungen an meine Vergangenheit zurück. Ich war verunsichert. Wie sollte ich meinen Weg gehen in einer Beziehung, in Sachen Liebe? Ich hatte mir noch keine Gedanken darüber gemacht. Auf jeden Fall alles besser machen als meine Eltern, dachte ich und machte dieses Ziel zu meinem Gesetz. Mein Schwur, damals auf der Schaukel, war tief in mir eingebrannt, und so kam ich zu dem Schluss, dass der Mann meiner Träume auf keinen Fall Alkohol trinken dürfe. Das müsste reichen. In meiner Naivität war dieser Vorsatz gut gemeint, erfüllte allerdings nicht einmal annähernd das, was es für ein glückliches und harmonisches Familienleben braucht.

Die Worte Liebe, Achtung, Respekt, Toleranz, Ehrlichkeit, Einfühlungsvermögen und Hilfsbereitschaft blieben mir zur Gänze verborgen. Dass ich als Person auf all das ein Anrecht hatte. Auf all diese wunderbaren Eigenschaften. War ich ja seit jeher anders behandelt worden. Damit hätte ich gar nicht umgehen können. Ich gab – und das von Herzen gern. Aber zurückbekommen – diesen Anspruch stellte ich nicht. Ich vermisste also auch nichts. Mein erster Freund behandelte mich schlecht. Ich jedoch fand alles in Ordnung, denn er trank nicht. Es war für mich nicht tragisch, wenn er mich auslachte, mich verhöhnte. Wird schon werden, dachte ich, wenn wir uns erst einmal näher kennen, dann wird er mich bestimmt schätzen lernen. Und ich verzieh ihm. Für all sein Tun und Handeln, sein schlechtes Benehmen mir gegenüber suchte ich Entschuldigungen. Die Situation ähnelte meinem Schweigen in der Schule, als ich glaubte, dass ich es verdienen würde, ausgelacht zu werden, weil ich ja zu dumm für alles wäre. Seine rüpelhafte Art gab mir wohl zu denken, aber ich suchte die Fehler bei mir und wäre nie im Leben auf die Idee gekommen, dass er sich mir gegenüber gelinde gesagt wie ein Schwein verhielt. Erst als er eng umschlungen mit seiner neuen Flamme, die eigentlich noch gar nicht hätte existieren dürfen, da ich ja noch seine Freundin war, vor mir stand, fiel ich aus allen Wolken. Aber schon mein zweiter Gedanke war: Jetzt hast du wirklich alles verkackt. Die Schuld lag bei mir. Ich zerbrach mir den Kopf, warum es denn so weit hatte kommen können, aber ich fand keine schlüssige Antwort, hatte ich doch immer mein Bestes gegeben. Also erledigte sich die Geschichte mit dem tröstenden Gedanken: Soll halt nicht sein!

Schade, dass ich damals nicht dahintergekommen bin, denn dieses Nichterkennen sollte mir später weit mehr Schaden zufügen. Denn Amors Pfeil traf mich nur ein paar Monate später weit verhängnisvoller, als er es beim ersten Mal getan hatte.

Es war der Mann, der alles veränderte. Der mir die größte Freude meines Lebens machen, mir aber auch die schlechteste Zeit bescheren sollte. Der Mann, mit dem ich eine Familie gründete.

Zwei mit Eins

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