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Irgendwann im Mai 1982

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Liebes Tagebuch!

Ich sitze auf einer Schaukel in einem verwahrlosten Hof. Mein Blick ist auf den Sportplatz gerichtet, und ich höre die Schreie und das Lachen der vielen Kinder und Jugendlichen, die dort Fußball spielen. Eigentlich sollte ich mitmachen, Spaß haben, laufen, doch es ist mir so gar nicht danach. Diese Kinder, sie sind nicht meine Welt. Überhaupt ist nichts in meinem Leben so, wie ich es gerne hätte. Ich werde bald dreizehn, bin viel zu dick, habe keine Freunde, und mein Bruder, den ich über alles liebe, wohnt bei seiner Freundin. Er ist ausgezogen, vielmehr nicht mitgezogen mit meiner Mutter, meinem Vater und mir in diesen Albtraum von einer Baracke, in der wir jetzt leben. Eine Einzimmerwohnung in einem völlig verfallenen ebenerdigen Haus aus der Nachkriegszeit. Kein Fließwasser, nur ein Brunnen im Hof, ein Klo am Gang, das wir uns mit Menschen, die ich nicht kenne und vor denen es mir graut, teilen! Ein Plumpsklo, vor dem mir ekelt, wenn ich nur daran denke, es benützen zu müssen. Und dann ist da diese Waschküche. Eine alte, verfallene Scheune, in der sich ein Kessel und eine Badewanne befinden. Das ist mein Bad, und ich benütze es gemeinsam mit all den anderen, die mir so zuwider sind, dass ich es keinem Menschen sagen kann. Dabei bade ich so gern! Wenn ich mir vorstelle, dass die Frau, die uns gegenüberwohnt, in der gleichen Wanne sitzt wie ich, läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken. Sie ist so fett, dass sie bei jedem Schritt keucht. Schütteres, langes, schwarzes Haar, das ihr schlampig ins Gesicht hängt. Ihre Fingernägel schwarz vor Dreck, und sie riecht nach Alkohol und Schweiß. Sie trägt immer ein Strandkleid, das ihr bis zu den Knöcheln reicht, schwarze Gummischlapfen, die Fersen völlig verhornt, mit dicken Rissen. Ich gehe ihr aus dem Weg.

Eigentlich bin ich einmal ein freundliches Mädchen gewesen, habe immer gegrüßt und jeden angelacht. Doch ich kann nicht mehr grüßen und lachen schon gar nicht. Ich empfinde nur Angst, wenn ich in die zahnlosen Gesichter blicke, die den ganzen Tag im Hof sitzen, bei einem Doppler Wein, sich lallend anschreien und den Tag verstreichen lassen, ohne auch nur die geringste Aufgabe zu haben. Sie arbeiten nicht, diese Menschen. Wo doch jeder arbeiten geht! Unsere Baracke ist umringt von wunderschönen Wohnanlagen, alle mit Balkonen, mit Blumen, die in bunten Farben zu mir her lachen. Wie gern würde ich in der einen Wohnung dort im zweiten Stock wohnen! Bestimmt ist sie wunderschön, mit einem hellen Wohnzimmer und einem schönen Bad. Wenn ich dort wohnen könnte, das wäre schön! Nicht so wie in diesem Ghetto, in dem ich jetzt lebe. Es ist wie ein böser Albtraum, ich schäme mich dafür. Wenn ich in die Schule gehe, mache ich immer schnell, um bis zur Hauptstraße zu kommen, denn dort weiß niemand mehr, wo ich herkomme. In meiner unmittelbaren Nachbarschaft grüßt mich keiner mehr, denn ich bin das Kind aus der Baracke. Da vorne aber danken mir die Leute, wenn ich sie grüße. Weil sie es nicht wissen …

Ich vermisse meine beste Freundin Doris, die am anderen Ende der Stadt wohnt. Ihre Eltern fanden den Umgang mit mir nicht mehr so gut und meinten, wir sollten uns mal eine Zeitlang nicht treffen. Ich kann es gut verstehen, weil nicht mal ich das alles hier gut finde. Und ich wünschte, ich könnte davonlaufen, weit weg von diesem Leben, das nur Armut, Verachtung und Alkohol kennt!

Gestern Nachmittag hat mir ein Bursche aus der Nachbarsiedlung Drogen angeboten. Natürlich hab ich sie nicht genommen, weil man so etwas nicht nimmt. Aber wie kommt der überhaupt auf die Idee? Ich bin kein Mädchen, das Drogen nimmt! Was soll ich hier eigentlich?

Ich habe ein Problem: Mein Vater besäuft sich täglich – von morgens bis abends. Und meine Mutter beschimpft ihn den ganzen Tag lang. Warum sie das tut, weiß eigentlich niemand, denn er kriegt doch eh nichts mehr mit.

Er war einmal ein sehr kluger Mensch, der in der Entwicklung von Maschinen tätig war. Ein lieber Vater, den ich sehr gern hatte, aber Mama und er stritten ununterbrochen miteinander, und irgendwann war ihm sein Wein dann lieber als wir. Ich weiß eigentlich gar nicht so genau, wann wir das letzte Mal miteinander gesungen haben. Mein Vater spielte immer mit meinem Bruder Gitarre, und Mama und ich sangen dazu. Damals, als alles noch so halbwegs in Ordnung war. Zumindest hatten wir ein schönes Zuhause und genug zu essen.

Ich hatte auch viele Freunde und einen Hund namens Gigi. Einen schwarz-weißen wunderschönen Spaniel. Ich bekam Gigi zum Geburtstag geschenkt. Wir fuhren zu diesem Bauernhof, wo sie mit ihren Geschwistern im Innenhof herumtollte. Als ich sie sah, war für mich alles klar: Das ist mein Hund!

Wir waren echte Freunde, Gigi und ich. Ich war viel mit ihr unterwegs und lehrte sie lustige Dinge. Sie war mein Ein und Alles.Mein Vater hat sie für eine Flasche Wein verkauft, als wir delogiert wurden. Seit diesem Tag hasse ich meine Eltern. Ich hasse sie dafür, dass sie nichts auf die Reihe bringen. Ich hasse sie, weil mein Bruder nicht mehr bei mir ist, und ich hasse sie, weil wir so leben, wie wir leben, und weil mich kein Mensch grüßt und ich zum Abschaum dieser Stadt gehöre, obwohl ich nichts getan habe!

Auf der anderen Seite: Ich mag meine Eltern, ja, das tue ich, und ich helfe ihnen auch, so gut ich halt kann. Ich mache sauber, gehe einkaufen, mache die Aufgabe, bin artig, aber sie sehen das gar nicht. Sie sind so mit sich selbst beschäftigt, denen würde es gar nicht auffallen, wenn es mich nicht gäbe.

Oma hat mir das letzte Mal, als sie uns besucht hat, gesagt, dass ich jederzeit anrufen könne, wenn ich was brauche. Sie habe mit Opa gesprochen und ich könne bei ihnen wohnen. Ich bräuchte es nur zu sagen, dann würden sie mich zu sich holen. Ich bekäme das Zimmer der Urgroßeltern und dürfte mir die Möbel aussuchen. Ein eigenes Zimmer mit Balkon! Denn mit zwölf dürfe man entscheiden, wo man wohnen möchte. So heißt es im Gesetz. Sie sei beim Jugendamt gewesen und habe sich erkundigt. Und ich werde doch bald dreizehn. Und eins weiß ich genau: Hier möchte ich nicht bleiben! Ich habe immer einen Schilling für die Telefonzelle eingesteckt. Wenn Papa wieder durchdreht, dann ruf ich an. Er sieht weiße Mäuse. Vorgestern hat er mit dem Radiowecker nach mir geworfen, weil er dachte, auf mir sitzt eine. Ich hatte solche Angst!

Heute am Abend kommt mein Bruder wieder. Er kommt mich ab und zu besuchen, um zu schauen, wie es mir geht. Das letzte Mal hat er gesagt, dass er mich vielleicht zu sich holt. Aber ich kann meine Eltern nicht allein lassen. Die brauchen mich ja! Trotzdem: Ich mag nicht mehr hier sein, und ich freu mich schon auf ihn. Er ist mein Beschützer, mein großer Bruder eben. Vielleicht bringt er mir wieder Schokolade mit, so wie das letzte Mal. Er hat ganz leise ans Fenster geklopft, und ich bin zu ihm hinausgeschlichen. Ich hab mich so gefreut, dass er da war. Er hat nicht auf mich vergessen! Warum muss alles so sein?

Warum können wir nicht leben wie die „Waltons“? Die schaffen immer alles. So werde ich einmal leben! Eine kleine Farm, fünf Kinder, einen lieben Mann, mit dem ich mich gut verstehe, und alle sind glücklich. Genauso werde ich einmal leben, das weiß ich. Das schwöre ich hier und heute! Ich werde es besser machen als meine Eltern. Ich werde immer genug zu essen haben, arbeiten gehen und nie mit meinem Mann streiten! Ganz bestimmt nicht!

Was, wenn ich von hier weggehe? Dann brauchen meine Eltern sich nicht mehr um mich zu kümmern. Vielleicht schafft es Mama dann, Arbeit zu finden. Dann muss sie mich auch nicht mit dem Moped zur Schule führen. Sie hat keine Strümpfe, und es ist immer so kalt in der Früh. Na ja. Es wird wohl das Beste sein, wenn ich zu Oma gehe. Dann kann sich Mama von Papa scheiden lassen und woanders hinziehen. Sicher bekommt sie ohne mich schneller eine Wohnung mit Bad und Klo!

Und wenn ich wirklich gehe? Wie soll ich das anstellen? Ich schreibe einen Abschiedsbrief und gehe am Samstag nicht zur Schule, sondern zur Oma. Es ist nicht weit. Aber das gäbe sicher Ärger! Nicht in die Schule gehen, geht gar nicht! Aber wenn Oma mich bei der Lehrerin entschuldigen würde, dann wäre die sicher nicht lange böse auf mich. Die Frau Lechner versteht das bestimmt. Die mag mich. Die legt sicher ein gutes Wort für mich bei meinem Klassenvorstand ein …

Dieser Tag im Mai, an dem ich auf der Schaukel saß, die spielenden Kinder beobachtete und so unendlich traurig war, war zweifelsohne einer der wichtigsten Tage in meinem Leben. Denn an diesem Tag sollte ich eine Entscheidung treffen. Die einzig richtige. Und es war mir im zarten Alter von dreizehn so klar wie heute mit vierundvierzig, dass sich wohl alles ändern würde.

An diesem Abend schrieb ich den Abschiedsbrief, nachdem ich mit meiner Mutter wieder einmal die Diskussion vom Zaun gebrochen hatte, sich doch von meinem Vater scheiden zu lassen. Aber wie schon so oft zuvor verwies sie auf bessere Zeiten, die kommen würden, und meinte, meinen Vater gerade jetzt nicht im Stich lassen zu können. Aber sie würde es tun, irgendwann einmal, ganz bestimmt. Dann würden wir unsere Ruhe haben. Ich schrieb also, dass ich mich entschieden hätte, zu meinen Großeltern zu ziehen. Damit sie es leichter hätte, ihr Leben zu ordnen, Arbeit zu finden, sich von meinem Vater zu trennen. Dass ich ihr alles Gute wünschte und ein braves Kind sein würde.

Ich nahm ihr unseren Streit an diesem Abend so übel, weil ich es einfach nicht verstehen konnte, dass ich ihr nicht mehr wert war als die ständigen Ausflüchte. Ich weiß noch, dass ich mir dachte, dass ich alles tun würde, um meinen Kindern ein ruhiges Leben zu bieten. Auf gar keinen Fall würde ich bei einem Menschen bleiben, der nur Versprechungen machte und keine einzige hielt. Dreizehn Jahre lang. Bei einem Menschen, dem eine Flasche Wein lieber war als seine Familie!

Zwei mit Eins

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