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Gestohlene Kindheit

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Lang lag ich in dieser Nacht noch wach, geplagt von meinem schlechten Gewissen. Es war nicht in Ordnung, dass ich meine Eltern im Stich lassen wollte. Aber es sollte ja nicht für ewig sein. Es war einfach unerträglich für mich, mit all diesen angsteinflößenden Menschen Tür an Tür zu wohnen. Und es war auch nicht mehr zu leugnen, dass wir es als Familie in der Form nicht mehr schaffen konnten. In den Augen meiner Mutter sah ich nur mehr Verzweiflung, Hilflosigkeit. Sie hatte sich selbst aufgegeben. Sie kam aus gutem Hause. Ihre Eltern waren wichtige Mitglieder der Gesellschaft, wohlhabend und einflussreich. Bildung hatte einen hohen Stellenwert in der Familie. Sie sprach mehrere Sprachen, nur die ihres neuen Landes nicht, und so fand sie keinen Anschluss, und ihr großes Potenzial blieb ungenützt. Niemals hätte Mutter ihren Eltern die ganze Wahrheit über ihr trauriges Leben erzählt, geschweige denn um Hilfe gebeten, aus Scham und falschem Stolz. War sie doch mit meinem Vater in dieses fremde Land gegangen, das um so vieles besser war als ihr Heimatland – um es zu schaffen. Mit den besten Absichten, sich hinaufzuarbeiten, um im gleichen Wohlstand wie ihre Eltern zu leben. In einem Land, das ihnen alle Möglichkeiten bot, um ihren Traum zu verwirklichen.

Mutter hatte die Rechnung ohne Vater gemacht, der alles anders sah. Er war ein Mensch, dem es an Selbstdisziplin mangelte. Wohl war er anfangs guter Dinge, durchaus gewillt, sein Bestes zu geben, aber er konnte das, was er sich vornahm, nie verwirklichen. Zu groß war die Verführung, dem lockeren Leben zu unterliegen. Sorglos und fahrlässig frönte er all den schönen Dingen, die das Leben zu bieten hatte. Aber es war ein Drahtseilakt ohne Sicherungsseil. Er war davon überzeugt, dass seine Intelligenz ausreichte, um das lose Treiben, das er bei seiner Arbeit und in der Freizeit an den Tag legte, zu kaschieren. Langsam, aber sicher wurde er zum Alkoholiker. Trotz vieler Verwarnungen trank er am Arbeitsplatz und posaunte immer wieder hinaus, dass seine Firma ohne sein Hirn nicht überleben könnte. Wer sonst als er sollte die Maschinen entwickeln, die nach seinen Plänen gebaut wurden!

Als ihm seine Überheblichkeit und Dummheit, die nur auf der Annahme basierte, dass wohl seine Eltern, die ebenfalls sehr angesehene Mitarbeiter dieser Firma waren, ohnedies alles richten würden, den Absturz bescherten, riss er uns mit in die Tiefe. Ich glaube nicht, dass er sich dessen bewusst war. Wie tief Menschen sinken können und vor allem wie schnell! Als ihm die bittere Realität die Augen öffnete, ihm zeigte, dass auch Arbeitgeber nicht unbegrenzt mit sich spielen lassen, verfiel er in einen Zustand der Starre. Noch mehr als vorher ertränkte er sein mahnendes Gewissen in Schnaps und Wein, nun aber nicht mehr in lustiger Gesellschaft, sondern als Abhängiger, einsam, allein, zu Hause. Zu diesem Zeitpunkt hätten sich meine Eltern noch leicht aus der Schlinge, die sich um ihren Hals gelegt hatte, befreien können. Aber es fehlte ihnen die Kraft. Der Mut, sich die Fehler einzugestehen und gemeinsam einen neuen, besseren Weg zu suchen.

Für mich war die Lösung all dieser Probleme einfach und klar: aufhören zu trinken, aufhören zu streiten, arbeiten gehen, sparen und gut leben. Ich konnte einfach nicht verstehen, dass die beiden das nicht sahen, wo ich es doch so genau wusste. Und ich war ein Kind. Sie dagegen waren erwachsen!

Unverzüglich mussten wir damals die Firmenwohnung räumen, und das zog meinen Eltern den Boden unter den Füßen weg. Es war wie eine Lawine, die sie unter sich begrub und ihnen die Luft zum Atmen nahm. Im Nichts gelandet, verbrachten mein Bruder und ich die erste Woche bei meinen Großeltern, bis meine Eltern eine Bleibe für uns vier gefunden hatten. Aber ohne Geld lässt sich nun mal nichts Ordentliches auftreiben, und so mieteten sie sich im Sommerhaus eines höchst dubiosen Ehepaars ein. Zahlten eine horrende Miete, die im Gegenzug nichts zu bieten hatte, denn das Haus hatte keine Heizung. Nur vorübergehend sollte es sein. Eine Notlösung eben. Rasch wollten sie sich wieder Arbeit suchen – und ein schönes Zuhause! Aber der Winter zog ins Land, und es war der kälteste seit Jahren mit Temperaturen bis zu minus dreißig Grad. Die Eiskristalle glitzerten auf den Wänden. Wir schliefen in Schianzügen. Baden oder Duschen war nicht möglich. Wir wuschen uns in der Küche, aber auch nur so lange, bis die Wasserleitung eingefroren war. Dann musste das Wasser in Kübeln herangeschafft werden, für das der Vermieter auch noch extra verlangte. Das Geld reichte nicht aus. Nudeln, ein bisschen aufgepeppt, waren schon ein Festtagsmenü. Dabei war meine Mutter eine gute Köchin, aber was ließ sich aus nichts schon zaubern? Die Not brachte meine Eltern zum Schweigen. Hatten sie sich zuvor um alles Mögliche gestritten und geschlagen, so schwiegen sie sich nun an. Was blieb, war der unausgesprochene Vorwurf: Du bist an allem schuld!

Ich war damals zehn Jahre alt. Es machte mir nichts aus, zu hungern, nein, ich wäre sogar arbeiten gegangen, wenn ich es gekonnt hätte. Ich war meinen Eltern nicht böse. Auch dann nicht, wenn sie sich das Leben zur Hölle machten. Weil ich dachte, es läge wohl auch an mir.

In der Schule war ich nie gut gewesen. Sie war für mich einfach nicht wichtig, die Schule. Nur ein Ort, an dem man sich ausschlief und Zeit verbrachte, weil es eben so sein musste. Ja, ich bemühte mich zu lernen, aber ich konnte mir einfach nichts merken. Zu sehr war ich von Beginn an mit meinen Eltern beschäftigt: Was wohl wieder sein wird, wenn ich nach der Schule nach Hause komme? Worum sie sich wohl heute Nacht wieder streiten werden? Ich hatte Angst! Und die Schule war für mich eine Qual. Meine Eltern stritten sich deswegen, weil für meine Mutter Bildung so wichtig war.

„Sie kann ja nicht lernen, weil in diesem Haus keine Ruhe ist!“, schrie sie.

Wie die Katze, die sich in den eigenen Schwanz beißt, drehte sich dieser Kreisel aus Vorwürfen, Erniedrigungen und Hass. Trieb meine Eltern dazu, neue Gründe für einen neuen Streit zu suchen – und zu finden.

Mein Bruder dagegen war ein guter Schüler. Er hatte einen ruhigen Start gehabt, war er doch um fünf Jahre älter als ich, und zu seiner Einschulungszeit hatte es zwischen meinen Eltern noch keine so heftigen Reibereien gegeben. Von diesem Grundstock konnte er zehren. Wohl fiel es ihm genauso schwer, mit den Eskapaden meiner Eltern zurechtzukommen, die ein stetiges Auf und Ab von Versöhnung und Streit bedeuteten, doch es gelang ihm besser als mir. Er genoss die Gunst meiner Mutter: weil er doch ein so guter Schüler und Musiker war. Während ich kläglich an den Klavierstunden scheiterte, entpuppte er sich als ein Genie. Er spielte auf seinem Bass und auf allem Möglichen, sein Talent war schier unerschöpflich. Ja, er war ein Genie, und ich liebte es, ihm zuzuhören. Aber manchmal beneidete ich ihn auch um die Aufmerksamkeit, obwohl ich spürte, dass das von mir nicht richtig war. Gönn ihm doch das Lob, er hat es sich ja verdient, dachte ich dann. Er übte und übte und bekam von allen Anerkennung. Nur von dem, der ihm wichtig war, von meinem Vater, bekam er sie nicht.

Unser Familienlager splittete sich in zwei Hälften. Da war ich. Die Kleine, die dem Druck nicht standhielt und offensichtlich daran scheiterte. Ich wurde zu Papas Liebling, der mich stets verteidigte, sah ich ja aus wie er, lachte wie er und überhaupt – ganz der Vater!

„Die Lehrer sind unfähig!“, brüllte er meine Mutter an. „Geh in die Schule, sprich mit ihnen, sie ist nicht dumm.“ Und meine Mutter begann, die Lehrer zu beschimpfen, was mir endgültig den Strick drehte. Meinen Bruder dagegen beachtete Vater kaum, da der sich zu unserer Mutter hingezogen fühlte. Verständlich, benützte sie ihn doch auch als ihren Beschützer und um ihn gegen den Vater auszuspielen.

Wir waren also eine in sich zerrissene Familie, und doch waren mein Bruder und ich in Zeiten der Not immer füreinander da. Nachts, wenn wir nicht schlafen konnten, flüsterte er: „Fürchtest du dich?“

„Ja“, entgegnete ich verstört.

„Versteck dich unter der Decke, das hilft!“

Und ich zog mir die Decke über den Kopf. Und tatsächlich – es wirkte. Ich hatte das Gefühl, ich wäre in einer Art Höhle, die mir Schutz bot.

Wenn ihm meine Mutter Schokolade kaufte, teilte er sie mit mir, denn ich ging immer leer aus. Ich fiel ihm auf die Nerven, wie es halt so ist bei Geschwistern, die fünf Jahre auseinander sind, aber er brachte es nicht fertig, sich abzugrenzen, denn in Wahrheit waren wir allein und hatten nur uns. Er zeigte mir, wie ich mich beruhigen konnte, wenn mich die Angst des Nachts frieren ließ. Er drehte sich im Liegen hin und her. Unablässig. Das beruhigte ihn und wiegte ihn in den Schlaf. Ich dagegen kniete mich im Bett hin, presste die Stirn auf die Matratze, schaukelte vor und zurück. Unsere Betten quietschten im Duett, was unseren Eltern mehr als deutlich zu verstehen gab, dass wir unter ihren Streitereien litten. Aber es war nur ein neuer Grund, um aufeinander loszugehen, wie die Hähne im Ring. Mein Bruder und ich bemühten uns auszugleichen, was so schief stand, aber natürlich konnte uns das nicht gelingen.

Ich war oft krank. Das Problem waren meine Ohren, sie wollten wohl den Streit nicht mehr hören. Die meiste Zeit des Jahres litt ich an Mittelohrentzündungen und konnte natürlich nicht in die Schule gehen. Ja, meine Rolle war die des schwarzen Schafes, das einen dicken Pelz aus Schuldgefühlen mit sich herumtrug. Wenn ich nur besser lernen würde!

Nur beim Essen erhielt ich Lob, weil ich doch so eine brave Esserin war. Also aß ich, um meiner Mutter Freude zu machen, um ihre Anerkennung zu gewinnen. Doch das machte mich dick. Unansehnlich fett. Und so trug ich neben dem Pelz aus Schuldgefühlen auch noch einen dicken Bauch mit mir herum, der meine Schulkollegen veranlasste, mich auszuspotten. Ich wurde zur Außenseiterin und verharrte still und beharrlich in dieser Rolle, die mir wie auf den Leib geschrieben schien. Ich verdiente es ja, ausgelacht und beschimpft zu werden, weil ich doch zu dumm zum Lernen und Klavierspielen war.

Aber ich mampfte nicht nur, wenn ich Hunger hatte oder gefallen wollte, sondern es machte mich auch ruhiger – immer wenn ich Angst hatte.

„Na, isst die Dicke schon wieder?“, hänselte mich mein Bruder.

„Lass mich in Ruhe, du Idiot“, pöbelte ich zurück.

Idiot war noch das lieblichste Wort, das uns über die Lippen kam, meinem Bruder und mir, hörten wir doch tagein, tagaus nur die schlimmsten Schimpfwörter, die sich meine Eltern an den Kopf warfen.

Die Wutausbrüche meines Vaters wurden im Laufe der Jahre immer heftiger. Längst schon wussten alle Nachbarn, wie es bei uns ablief. War ja nicht zu überhören. Als der Staubsauger dann beim Fenster rausflog, auch nicht mehr zu übersehen.

Ich schämte mich, denn langsam nahm ich wahr, was wir eigentlich waren: Wilde, die keine Manieren hatten, mit denen man besser nichts zu tun haben wollte. Nur nicht anstreifen. Rein optisch waren wir noch eine hübsche Familie, adrett gekleidet, aber der Rest war dem Zerfall geweiht! Das machte mich unendlich traurig. Trotzdem liebte ich meine Eltern. Ich hätte alles getan, um sie versöhnt zu sehen. Ich kam drauf, dass es nicht gut war, sorglos Essen ins Klo zu schütten, das zuvor teuer eingekauft worden war. Und ich sah, dass es nicht gut war, ständig neuen Alkohol für meinen Vater zu besorgen, der ihn dann wieder ausrasten ließ. Aber ich ging und holte ihm welchen. Er schickte mich zum Kaufmann, um Bier und Zigaretten zu holen. Ich war sicher noch keine sieben Jahre alt. Ich folgte und brachte ihm das Teufelszeug, um seinen Unmut nicht zu schüren. Wenn ich zurückkam, küsste er mich, und ich durfte mich auf seinen Schoß setzen, war ich doch sein Ein und Alles. Seine Einzige, sein Mausi! Was für ein elender Teufelskreis! Noch hatte mein Vater, jung und kräftig, die Energie, den wilden Mann zu spielen. Aber seine Wahrnehmung litt zusehends unter all dem. Die ersten Spuren von Krankheit begannen sich zu manifestieren, und als er eines Nachts alles kurz und klein schlug, da war für uns drei die Zeit gekommen zu flüchten. Zu Fuß rannten wir durch die Dunkelheit, gehetzt von der Angst, Vater könnte uns folgen. Wir suchten Schutz bei unseren Großeltern, die uns sofort bei sich aufnahmen. Ohne großartig viele Fragen zu stellen. Trotz ihres Unmuts über so viel Unvernunft schwiegen sie. Als wir wieder nach Hause zurückkehrten, luden sie uns nun öfters zu sich ein. Jeden Monat ein oder zwei Tage, nicht nur in den Ferien. Sie konnten uns nicht wirklich helfen, aber sie machten uns die Zeit, die wir bei ihnen verbringen durften, unvergesslich schön. Und mein Bruder und ich sahen, dass es möglich war, eine gute und liebevolle Ehe zu führen. Sie wurden zu unseren Vorbildern. Oft wünschte ich mir insgeheim, dass sie es unseren Eltern verbieten würden, so miteinander umzugehen. Aber das konnten sie natürlich nicht.

Damals begann unsere Mutter, über unsere Situation nachzudenken. Ich bin der Meinung, dass ihr in dieser Nacht bewusst wurde, dass es wohl besser wäre, das Weite zu suchen, bevor etwas Schlimmeres passieren würde. Aber wie immer folgte die große Versöhnung. Das Zerschlagene wurde wieder gekittet. Und es sollte noch eine Zeit lang dauern, bis sich die Ängste meiner Mutter bewahrheiteten. Das Unvermeidliche trat ein.

Es war eine Nacht wie viele, und doch war es nicht irgendeine Nacht! Es war kalt, Schnee bedeckte die Straßen und Gassen, dicke Flocken vollführten lustige Schattenspiele im Licht der Laternen. Ruhiger, schöner Schneefall. Ich liebte Schnee! Aber wir konnten ihn nicht genießen, mein Bruder und ich, denn der Streit meiner Eltern war anders als sonst. Lauter, heftiger, impulsiver. Nagender! Unser Gefühl mahnte uns, vorsichtig zu sein, aufzupassen.

„Dreh das Licht ab“, sagte er mit strenger Stimme. „Damit er nicht sieht, dass wir noch wach sind. Vielleicht beruhigt er sich wieder.“

Ich gehorchte und schaltete das Licht aus. Da war es wieder, dieses Herzklopfen, das ich so hasste. Die Angst, die sich wie ein Feind in meine Glieder schlich, um mich zu mahnen: Sei auf der Hut, du bist zu klein und kannst dich nicht wehren, lauf weg, wenn es sein muss! Er ist unberechenbar! Schweigend saßen wir in unseren Betten und lauschten angespannt – vor und zurück wippend. Einfach nur so dazusitzen im Finsteren, war das Schlimmste. Eingehüllt in böse Vorahnungen, auf das Unabwendbare wartend. Das laute Kreischen meiner Mutter verhieß nichts Gutes. Sie provozierte ihn. Es war kaum zu ertragen, diese Angst und das Wissen, nichts tun zu können, wenn er auf sie losginge. Wir brauchten nicht im selben Raum wie unsere Eltern zu sein, um zu sehen, was da passierte. Unsere kindliche Phantasie trug die Bilder für uns zusammen.

„Was meinst du, wird er ihr wehtun?“, flüsterte ich mit zittriger Stimme.

„Ich weiß es nicht, sei still“, entgegnete mein Bruder flüsternd. „Und hör auf zu weinen.“ Das Licht der Straßenlampe verriet ihm die Tränen in meinen Augen. „Wir müssen Mama helfen, wenn sie uns braucht. Wir haben keine Zeit für dein Geheule. Reiß dich zusammen!“, ermahnte er mich.

Aber meine Tränen ließen sich nicht aufhalten. Mein Inneres schrie: Lauf weg! Lauf einfach weg! Wie ich meinen Vater in diesen Momenten hasste! Und meine Mutter erst, weil sie einfach nie den Mund halten konnte. Immer legte sie noch eins drauf, und noch eins.

Ein dumpfer Schlag, dann hörten wir sie schreien. Mein Bruder sprang auf.

„Nicht! Lass mich! Du tust mir weh!“, schrie sie.

Mein Bruder lief rastlos im Zimmer auf und ab, seine Fäuste geballt vor Zorn. Er war gerade mal elf Jahre alt, auf mich aber wirkte er wie ein Mann!

„Ich hab es satt“, zischte er zornig. „Dieses Schwein! Komm, wir holen Hilfe!“

„Wie denn?“, weinte ich leise.

„Komm, wir klettern aus dem Fenster. Wir laufen zur Telefonzelle und rufen die Polizei! Die werden es dem Schwein schon zeigen!“

Hastig zog er sich seinen Pullover über den Kopf. Mein Herz schlug noch lauter. War es denn so ernst?

Oh mein Gott, dachte ich, anziehen, ich muss auch was anziehen! Noch bevor ich diesen Gedanken fertigdenken konnte, hörten wir wieder Schreie. Wir wussten, es galt, keine Zeit zu verlieren, sonst würde was Schlimmes geschehen. Panik zeichnete unsere Gesichter. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, öffnete mein Bruder das Fenster und sprang ins Freie.

„Komm schon, na mach!“, hörte ich ihn rufen. „Komm, trau dich, wir müssen schnell machen. Spring, ich fang dich auf.“

Ich war auf das Fenster geklettert.

„Ich trau mich nicht, es ist so hoch!“, flehte ich meinen Bruder an.

„Doch, du musst!“, befahl er.

Also überwand ich mich und ließ mich langsam hinab, an der Hausmauer entlang, um sicher in seine Arme zu gleiten. Der feste Boden unter den Füßen gab uns die Gewissheit, laufen zu können. Wir rannten, so schnell uns unsere Beine trugen. Angetrieben von Panik und Verzweiflung.

„Schneller“, keuchte mein Bruder und streckte mir seine Hand entgegen, um mich zu ziehen, weil ich nicht so schnell laufen konnte wie er. Meine Füße schmerzten. Erst als ich runtersah, wurde mir klar, dass wir keine Schuhe anhatten. Barfuß hetzten wir durch die menschenleeren, mit Schnee bedeckten Straßen, über den Bahnübergang, hinunter zu der Seitengasse, an deren Ende die Telefonzelle stand, die unserer Mutter das Leben retten würde.

Ist es nicht schon zu spät, schossen mir die Gedanken durch den Kopf.

„Lieber Gott, mach, dass wir es schaffen“, hörte ich mich plötzlich beten.

Mein Bruder hatte einen Schilling aus der Hosentasche gezogen, ihn in den Automaten geworfen und gewählt.

„Helfen Sie uns, schnell“, schrie er nach Luft ringend, als sich die Polizei am anderen Ende der Leitung meldete.

„Er bringt sie sicher um! Bitte kommen Sie und helfen Sie meiner Mutter!“ Zügig erklärte er, wo wir zu Hause waren, um kurz darauf erleichtert den Hörer einzuhängen.

„Komm, wir müssen zurück, die Polizei kommt gleich!“

Während wir wieder durch die Nacht liefen, barfuß durch den Schnee, alleingelassen mit unserer Angst, wussten wir, dass es richtig gewesen war, Hilfe zu holen. Endlos weit schien der Weg, den wir zurücklegen mussten. Ob wir schnell genug gewesen waren? Und wenn ja: Ob sich nun wohl was ändern würde?

In dieser Nacht wurde unser Vater zum ersten Mal in ein Krankenhaus eingeliefert. Ich werde diesen Anblick nie vergessen. Die Angst, die ich um ihn hatte, als ihn die uniformierten Männer mit Gewalt aus der Wohnung zerrten. Warum hatte ich Angst um ihn? Ich war doch froh, dass sie uns halfen, die Polizisten. Wenn ich ihn aber doch so lieb hatte!

Lautstark schrie er um sein Recht: „Das können Sie nicht mit mir machen, ich werde Sie verklagen!“ Er drehte sich um, und ich sah in diese hasserfüllten, drohenden Augen. Wie ein wildes Tier versuchte er, um sich zu schlagen.

Außer sich vor Wut schrie er meine Mutter an: „Ich bring dich um, du Schlampe! Ich bring dich um!“

Als meine Mutter, gezeichnet von dem Erlebten, die Eingangstür schloss, war es, als hätten wir den Dämon vertrieben. Leiser wurden die Schreie, bis sie schließlich verstummten. Er war weg. Gott sei Dank!

Stille Betroffenheit legte sich über unsere Familie. Wohl war es für uns schrecklich zu wissen, dass unser Vater nun im Krankenhaus war, aber wir spürten auch Erleichterung und Hoffnung. Nun, da die Öffentlichkeit eingeschaltet worden war, musste sich doch was ändern. Und es sah tatsächlich so aus, als könnten sich meine Eltern für einen Neuanfang erwärmen. Mein Vater entschuldigte sich bei uns, meinem Bruder und mir, und versprach, sich zu ändern. Er werde sich bemühen, uns ein guter Vater zu sein. Was in dieser Nacht passiert sei, würde nie mehr geschehen. Die Scheidung, die meine Mutter unverzüglich eingereicht hatte, wurde nicht vollzogen. Eigentlich froh, aber auch ein wenig enttäuscht, weil wir unser Vertrauen verloren hatten, mein Bruder und ich, wollten wir Taten sehen. Keine Worte. Aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt, und so gaben auch wir unser Bestes.

Doch es sollte sich nichts ändern. Die Jahre vergingen, ließen uns hoffen, dann wieder verzweifeln, und sie lehrten uns, alles geduldig zu ertragen, bis wir so groß wären, um es uns selbst richten zu können. Aber wann käme diese Zeit, und würde ich es dann auch wissen, wenn es so weit wäre? Die Zeit, diesem Wahnsinn ein Ende zu setzen.

Wir liebten unsere Eltern, weil sie unsere Eltern waren, aber wir hassten sie auch, weil sie uns unserer Kindheit beraubten. Wir waren Meister im Schweigen und Verdrängen, im Beruhigen Beschwichtigen und Beschützen. Wir kannten Armut, Hunger, Gewalt und Vorwände. Jede Menge Vorwände, die für unsere Eltern der Grund waren, sich nicht zu trennen. Wir waren auffällig: mein Bruder zu laut und aggressiv, ich zu leise und schüchtern. Er vorlaut und hartnäckig, ich ängstlich und träge. Er räusperte sich unentwegt, ich nässte ein und war ständig krank. So schoben wir uns durch die Jahre der Einsamkeit, gefangen in einer Kindheit, in der wir nicht sein wollten, aber aus der es kein Entfliehen gab. Uns gegenüber hob unser Vater nicht ein einziges Mal seine Hand. Körperlich hatten wir von ihm nichts zu befürchten, aber war das besser?

Als mein Bruder schließlich die erste Chance sah, die sich ihm bot, um diese Hölle zu verlassen, war er weg. Das Elternhaus seiner Freundin. Er war sechzehn Jahre alt, als er seine Freiheit erlangte. Ich war überglücklich. Endlich hatte er seinen Frieden gefunden. Aber nun war ich allein. Mein großer Bruder war weg. Ja, er hatte mich ausgelacht, wenn ich ins Bett gemacht hatte, und ich hasste ihn dafür, ab er war auch immer derjenige gewesen, der da gewesen war, wenn ich Angst gehabt hatte. Wer war nun da?

Eine Fügung zum Guten war für mich, dass wir in diese Baracke gezogen waren. Denn diese grässlichen, jämmerlichen Menschen jagten mir eine solche Angst ein, wenn sie streitend und grölend im Hof saßen, um sich den Alkohol mit meinem Vater zu teilen, dass ich mutig wurde. In mir bäumte sich Widerwille auf. Täglich stellte ich mein Leben infrage. Es war wie eine Rebellion, die da in mir angezettelt wurde: Mach es wie dein Bruder. Er hat es auch geschafft. Ich dachte an die schönen Tage, die wir bei unseren Großeltern verbracht hatten, an meine Großmutter, die mir ihre Hilfe angeboten hatte. Ich stellte es mir so herrlich vor, gemütlich an ihrem Tisch zu sitzen und mit den beiden zu lachen und zu plaudern.

War es mir zu verübeln, dass ich es ein für alle Mal satt hatte, vertröstet zu werden, um weiterhin Zeugin dieser kranken Verbindung zu sein? Stille Leidende in einem Drama. Wie tief konnten wir noch fallen? War es nicht schon genug? Was konnte noch kommen?

Ich war es müde, ständig helfen zu wollen, wo es keinen Sinn machte. Und während ich in dieser Nacht so dalag, nachdem ich diesen Abschiedsbrief an meine Mutter verfasst hatte, entschied ich, all meinen Mut zusammenzunehmen und zu gehen. Die Bilder vor Augen, die mein bisheriges Leben geprägt hatten. Und irgendwie war da diese Hoffnung, so wie damals in dieser Nacht, als wir durch die Kälte liefen. Vielleicht wird jetzt alles gut? Ich gehe am Samstag zu Großmutter und Großvater, ja, am Samstag. Dann wird alles gut!

Zwei mit Eins

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