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Kapitel 4 … Spiderman allein zu Haus

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Das Stadtviertel, in dem wir in Leipzig wohnten, nannten wir unsere „CvD-Wohngegend“. Das hieß, dass es sich nur Menschen mit der Gehaltsgruppe eines CvDs leisten konnten, in der schönen Bebelstraße zu wohnen. CvD hieß „Chef vom Dienst“ und war der Redakteur, der jedem Artikel, bevor er gedruckt wurde, seinen Segen gab. Der Chef vom Dienst hatte also die Verantwortung für alles, was am Ende beim Leser landete. Diese Verantwortung hatte ihren Preis. Unser Palazzo Prozzo, wie wir unsere Altbauwohnung im ersten Obergeschoss nannten, war wunderschön und mit einem Balkon zur Straße hin ausgestattet. Die Wohnung konnten wir uns leisten, obwohl weder Spiderman noch ich den verantwortungsvollen CvD-Posten innehatten. In unserem Fall war das anders. Unser Wohlstand kam durch das Sammeln von Dienstjahren zustande. Mein Freund gehörte mit zwanzig Jahren als Fotograf bei unserer Zeitung zur Gruppe der aussterbenden Gattung der Festangestellten. Die Entwicklung in der Zeitungsbranche führte dazu, dass es kaum noch Festangestellte bei uns gab, außer Napoleon und unsere beiden Fossilien, wie wir die letzten Mitarbeiter mit festem Arbeitsvertrag nannten. Kurzum, wir konnten deshalb in Würde wohnen. Ich schaute liebevoll von Weitem auf unsere Etage und stellte fest, dass heute irgendetwas anders war. Ich konnte es nicht einordnen, irgendwie wirkte das Wohnzimmer von außen betrachtet heller als gewohnt. Als ich eintrat, strahlte es mich förmlich an. Die Sonne war aufgegangen. Der gesamte knapp zwanzig Quadratmeter große Raum war knallgelb, ausgelegt mit einer Stoffplane. Wirre Schnüre lagen herum und unter der Plane bewegte sich etwas. Für Tarzan und Bärbel war der Körperabdruck eindeutig zu groß. Es konnte also nur Spiderman sein, der mit seinem ausgekugelten Finger unter seinem Fallschirm herumkrabbelte. Ganz entgegen seiner beschaulichen Natur pflegte mein Freund ein gefährliches, schnelles Hobby. Er war Fallschirmspringer. Auf diese Weise konnte er schneller sein als jeder andere Mensch mit einem gewöhnlichen Hobby, der sonst so gemütliche Spider rauschte regelmäßig mit sechs Metern pro Sekunde Fallgeschwindigkeit vom Himmel. „Was machst du da?“, fragte ich gegen die gelbe Plane. „Ich will meinen Schirm neu packen, frisch zusammenlegen, damit er beim nächsten Sprung aufgeht, ich meine, richtig aufgeht“, tönte es unter der Plane hervor. Ich wurde wütend! Normalerweise tut man so etwas draußen auf der grünen Wiese, direkt nach der geglückten Landung. Doch bei seinem letzten Training war Spiderman nass geworden, es hatte geregnet, er konnte seinen Schirm nicht zusammenpacken. Nun sollte er auf unserem Eichenparkett trocknen. Grashalme, Erdreste und Spinnen hatte er auf diese Weise ins Wohnzimmer geschleppt. „Mach sofort, das Wohnzimmer frei. Kannst du nicht gelegentlich nachdenken, bevor du die Wohnung versaust?“, spießerte ich. Spiderman robbte unter der Plane umher, kam direkt vor meinen Füßen zum Vorschein, kniete vor mir und sagte mit erhobenem verbundenem Ringfinger: „Ich bin ein Mann, also denke ich grundsätzlich wenig, und weil ich dein Mann bin, denke ich besonders wenig, weil du immer so schön für mich mitdenkst.“ Ich starrte erst ihn an, dann auf die weit geöffnete Balkontür: „Wo sind Bärbel und Tarzan?“

Der Balkon war verwaist. Ich schäumte vor Wut. Ich brauchte keinen, der sich auf mich als Mit- und Vordenkerin verließ. „Die Katzen sind im Bad“, stöhnte mein Freund und verdrehte dabei die Augen. Er hatte sie weggesperrt. Bärbel und Tarzan hätten Spaß daran gehabt, ihn beim Entknoten der meterlangen Fangleinen des Fallschirms zu unterstützen. Die beiden hockten zwischen dem Katzenklo und einem riesengroßen Blumenstrauß wie Katzenstatuen aus Porzellan. Der Strauß steckte in einer Bodenvase, eine Überraschung für mich! Spiderman hatte also doch mitgedacht, vielmehr daran gedacht, mich durch den Blumenstrauß milde zu stimmen, mir das Leben mit Spinnen und Grashalmen im Wohnzimmer zu erleichtern. Was er nicht bedacht hatte, war, dass ich Chrysanthemen hasste. Friedhofsblumen konnten in meinen Augen nur das allerletzte Geschenk sein.

Sein ausgekugelter Finger hatte Spiderman eine ganze Woche Krankschreibung eingebracht. Ich trabte jeden Morgen in die Redaktion – er blieb allein zu Haus. Da er sich seit Jahren weigerte mitzudenken, weil ich das ja für ihn tat, stand er nun als Hausmann vor einer besonderen Herausforderung. Er musste meinen Job machen. Mein Freund war 49 Jahre alt. Er hatte noch nie allein gelebt. Folglich fielen ihm selbstständiges Handeln, eigenmächtiges Entscheiden und bereits erwähntes Mitdenken schwer. Ich will das an dieser Stelle gar nicht anprangern, es gehören meistens zwei dazu, die so viel Unselbstständigkeit befördern. Einer, der sich doof stellt und eine, die das zulässt und ihm jede Aufgabe bereitwillig abnimmt, um Schlimmeres zu verhindern.

Um optimale Erfolge bei seiner neuen Aufgabe zu erzielen, hatte ich in unserer Küche eine kleine Schiefertafel angebracht. Darauf schrieb ich mit weißer Kreide, was zu tun wäre. Wäsche Waschen und Einkaufen stand heute für Spiderman auf der „To-Do-Tafel“, zwei Aufgaben zu viel, wie sich herausstellen sollte. Der erste Anruf von ihm ereilte mich um kurz nach zehn. Ich hatte es mir gerade an meinen Schreibtisch gemütlich gemacht. Mein Freund war bereits im Supermarkt angekommen. Auf seinem Einkaufszettel war der Einkauf für die ganze Woche verzeichnet. Standards: Milch, Kaffee, Käse, Schinken, Obst, Gemüse, nichts, was man nicht im Regal mit detektivischem Spürsinn hätte entdecken können. Für Spiderman aber war das eine Tagesaufgabe. „Welche Sorte Schinken soll ich nehmen?“, fragte es aus dem Telefonhörer. „Hier sind mindestens dreißig verschiedene. Und nun?“ Ich war noch entspannt, sagte ihm freundlich, dass er einfach kaufen solle, was ihm gefalle, was für seine Begriffe schön aussah oder schmecken könnte. Ich hatte sieben Minuten bis zum nächsten Anruf: „Elfie? Ich finde deinen Ziegenjoghurt nicht.“ Okay, Ziegenjoghurt zu finden war eine Aufgabe mit besonderem Anspruch. Paul am Schreibtisch gegenüber grinste auf seinen Monitor. „Du gehst ins Kühlregal, neben dem normalen Joghurt stehen ganz oben rechts Ziege und Schaf. Links neben Soja. Und wenn du nicht weiter weißt, fragst du einfach eine Verkäuferin.“ – „Das habe ich bereits getan, als ich die Avocados suchte. Die Verkäuferin starrte irritiert in meinen Korb und meinte, ich hätte schon zwei davon eingepackt.“ Peng. Ich legte auf. Paul sah mir mit einem breiten Grinsen ins Gesicht. Keine zehn Minuten später sah ich schon wieder, wie Spiderman seine Klebfäden auf meinem Handydisplay auswarf. Mein Geduldsfaden riss. Ich wartete gar nicht ab, was mein Freund mich zu fragen gedachte, zischte ihn giftig an: „Du bist fast 50, also bitte, kauf alleine ein!“ – „Timo, soll ich Ihnen einen Kaffe machen?“, fragte Paul. „Bring mir einen Grünen Tee mit, und was Süßes. Ich bin unterzuckert, und ich bin böse.“ Paul sprang auf und machte sich auf den Weg in die Büroküche. ‚Danke Herr, für diesen aufmerksamen jungen Mann!‘

Er kam mit Tee und Walnussplätzchen wieder. Woher wusste der Junge, dass ich Walnussplätzchen liebte? Ich freute mich über so viel Aufmerksamkeit. „Mit wem haben Sie eigentlich telefoniert, Frau Timoschenko? Ihr Sohn?“ Autsch! Das tat weh, er traute mir offenbar einen halbwüchsigen Sohn zu, der das Einkaufen erlernte. Gut, ich war 44, es war also durchaus möglich, dass ich mich bereits fortgepflanzt hatte, sogar mehrfach wäre das drin gewesen. Ich konnte ihm das nicht übel nehmen, aber was sollte ich ihm sagen? Dass der Graue Wolf noch nie alleine im Supermarkt war? Ja, ich entschied mich für die Wahrheit. „Nein, Youngman, das war mein Freund. Du kennst ihn, der Graue aus der Wolfsschanze.“ Paul sah mich an, dieses Mal lächelte er nicht. „Schade, Frau Timoschenko, und ich dachte, wir könnten heiraten.“ Gleichzeitig prusteten wir beide los. Ich gebe zu, dass mein Gesicht unerwartet Farbe annahm. „Da musst du noch ein wenig auf die Weide gehen, Kleiner!“, frohlockte ich. Paul langte über seinen Schreibtisch auf meinen, schnappte sich genüsslich eines meiner Walnussplätzchen und biss hinein. Er war mein Lichtblick für heute. Seine Aufmerksamkeit schmeichelte mir und er genoss das sichtlich.

Spiderman blitze auf meinem Handy auf. Gehe ich ran oder nicht, sollte mein Freund endlich lernen, alleine zu laufen oder nicht? Ich entschloss mich dazu, ein letztes Mal ranzugehen für heute. Fast war ich versucht den Lautsprecher einzuschalten, um mich mit Paul gemeinsam zu amüsieren. Aber das wäre nicht loyal gewesen. Spiderman hatte bereits den Weg nach Hause gefunden, nun scheiterte er an der Waschmaschine. Hatte er noch nie eine Waschmaschine gefüllt und angeschaltet? Ich erklärte ihm, welcher Knopf auf welche Position zu drehen, wo der Wasserzufluss zu aktivieren war und welche Wäsche er hineinstopfen sollte Danach ließ ich mich resigniert in meinen Bürosessel fallen.

Ich war bedient, dachte an einen kleinen Denkzettel für Spiderman. „Was machst du am Sonntagabend, Paul? Der Graue Wolf ist krank geschrieben. Er sollte sich nicht draußen blicken lassen, schon gar nicht in einer Kneipe. Willst du mit zur Vor-Ort-Recherche in Sachen Tatort-Publikum?“ – „Sie meinen, wir haben ein Date?“ – „Nein, wir gehen arbeiten. Hopp oder Topp?“ Ich reichte ihm meine Hand über den Schreibtisch, er schlug ein.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, hatte mein Freund bereits den Frühstückstisch gedeckt. Sofort bereute ich mein geplantes Tatort-Date mit dem jungen Kollegen. Spiderman hatte also erkannt, dass es nicht normal war für einen Mann in der zweiten Halbzeit seines Lebens, nicht in der Lage zu sein, ohne fremde Hilfe einzukaufen. Seine kleinen Gesten verrieten mir das, denn sie waren unüblich. Wir saßen in der Küche, es gab Standardfrühstück, wohlgemerkt nicht, ohne die Frage zu diskutieren, wie lange ein Ei kochen musste, damit das Eigelb flüssig und das Eiweiß fest war. Er wusste, dass ich es hasste, wenn das Eiweiß noch flüssig war oder erst kurz vor dem Erstarren. Die halb gare, schnodderige Konsistenz sorgte bei mir für Brechreiz, schon der Gedanke daran.

„Haben wir noch Butter?“, ich scannte automatisch den gedeckten Tisch ab. „Nein, sieht nicht so aus, ich sehe keine.“ Mein Gegenüber schwieg, erwartete offenbar irgendetwas.

Nein, das konnte nicht wahr sein! Das war keine Frage, sondern eine Aufforderung an mich, die Butter zu suchen! Nicht mit mir! „Am besten, du stehst jetzt auf, machst die Knie gerade, gehst zum Kühlschrank, knickst die Knie ein, öffnest die Tür und schaust, ob die Butter darin steht. Dabei gehst du am besten in die Hocke.“ Ich kochte schon wieder. Wie konnte er nur glauben, dass ich …?

„Ich dachte, du machst das. Der Kühlschrank ist so weit unten, ich wollte mich nicht bücken“, sagte der Mann, mit dem ich seit fünfzehn Jahren gemeinsam frühstückte. Kaum hatte er das Unsägliche ausgesprochen, zuckte es um seine Mundwinkel. Mein Freund musste selber lachen über diese Parodie eines Epper-Witzes. Ich stimmte ein, es war einfach zu skurril. Diese Realsatire machte mir aber auch Angst, sie hallte noch lange in mir nach.

Die Woche mit „Spiderman allein zu Haus“ verlief ohne weitere erschütternde Vorkommnisse für mich und meinen Freund. Und als der Tatort-Sonntag herannahte, machte ich ihn darauf aufmerksam, dass ein Kneipenbesuch sicher nicht zu seiner Genesung beitragen würde und dass der kleine Paul mitkäme, damit er etwas lernen konnte. Es gab keine Widerworte.

In mein „Wort des Tages“-Heft schrieb ich heute „Butter & Allure Sport“. Ich würde mich beim Nachlesen später immer an Spidermans ungeplanten Küchenwitz und an Pauls „Heiratsantrag“ erinnern.

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