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Kapitel 5 … Tatort Kneipe

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Wir hatten uns direkt an der Tatort-Kneipe verabredet. Um 20 Uhr sollten noch genügend Plätze frei sein, dachte ich. Falsch gedacht! Die einzige Sitzgelegenheit, die im „Zimmer Frei!“ noch vakant war, war Omas altes Chaiselongue. Dass es so etwas noch gab! Es sah aus wie ein verlängerter Stuhl, die Sitzfläche war so lang, dass mindestens drei Menschen sitzend nebeneinander darauf Platz gefunden hätten oder einer liegend. Der zerschlissene Samt hatte schon einige Jahrzehnte überdauert, ließ einen Blick ins Innenleben des alten Möbels zu. Der verschnörkelte Holzrahmen war abgegriffen und leider hatte der „Lang-Stuhl“ nur eine Lehne, und zwar an der kurzen Seite. Paul und ich schauten uns ratlos an. „Nehmen Sie das Ende mit der Lehne, Frau Timoschenko, da können Sie sogar die Füße hochlegen.“ Sah ich aus wie jemand, der die Füße hochlegen musste? Hatte er das bei seiner Mutter beobachtet? Zur Strafe nahm ich wirklich das bequemere Ende des antiquierten Sitzmöbels, streifte die Schuhe ab, zog die Beine auf die Sitzfläche und machte es mir gemütlich. Paul musste den gesamten Abend über ohne Rückenstütze Haltung bewahren. Er bestellte mir einen Rotwein, sich selbst ein Bier. Die junge Kellnerin schaute irritiert auf unser Pärchenlager und fragte mit dem Blick auf mich geheftet: „Kann ich Ihnen noch etwas zum Knabbern bringen?“ Sollte das eine Anspielung auf meinen Begleiter sein? Wollte mir das junge Huhn damit sagen, dass ich lieber an einer trockenen Erdnuss, als an dem jungen Mann in vollem Saft knabbern sollte? Immerhin war ihre Bemerkung aber auch der Beweis dafür, dass ich noch nicht zu den Frauen gehörte, die bereits unsichtbar waren, die ab einem gewissen Alter von niemandem mehr wahrgenommen wurden, an denen Männer und auch Frauen vorbeigingen, als wären sie Raumteiler. Doch was mich am meisten traf, war, dass sie mich gesiezt hatte. Man musste mir mein Alter also deutlich ansehen, selbst schummeriges Kneipenlicht konnte es nicht mehr vertuschen. Ich lehnte das Knabberzeug ab und sah, wie Paul sein Gesicht in den Händen vergrub. Er hatte seine Ellenbogen auf den Knien abgestellt, um die ungesunde Sitzhaltung halbwegs zu ertragen. Er öffnete einen kleinen Spalt zwischen Zeige- und Mittelfinger, sodass ich sein Grinsen dahinter deutlich sehen konnte. Er zog eine Augenbraue hoch und feixte. Ich war beeindruckt, denn er konnte eine Augenbraue unabhängig von der anderen anheben und dazu mit seinem Blick unverschämte Lachblitze verschicken. Ich versuchte gar nicht erst, mir den Anflug eines Lächelns zu verkneifen. Wir verstanden uns, dachten beide dasselbe.

20:15 Uhr, die Show begann. Aber was machte Paul? Er holte einen kleinen linierten Notizblock aus seiner Tasche und begann darin herumzukritzeln. „Was ist das? Was machst du denn, Kleiner?“, zischte ich ihn an. Meine Worte drangen leise, aber gezielt an sein Ohr, damit ich die Tatort-Gucker um uns herum nicht verscheuchte, die wie gebannt auf die erste Szene starrten. Das Verbrechen kommt immer ganz am Anfang. Es auf jeden Fall zu sehen, war wichtig. „Ich will nichts verpassen!“, flüsterte Paul zurück, „Ich beobachte die Leute.“ – „Und dazu brauchst du etwas zu Schreiben?“, hakte ich ungläubig nach. „Pack sofort das Ding weg, sonst platzt unsere Recherche.“ Paul verstand nichts. Inzwischen war die erste Leiche entdeckt und Kommissar Borowski schlich zur Freude der Spurensicherung konzentriert in schmutzigen Straßenschuhen um ein blutverklebtes Bündel herum. „Hast du das auf der Uni gelernt, oder was? Ist das investigative Arbeit? Am besten du trägst noch einen BND-Leder-Schlapphut und einen Trenchcoat, damit auch jeder hier weiß, dass er von dir beobachtet wird.“ Ich zupfte flink den kleinen Block aus seiner Hand und stopfte ihn hinter das Kissen, auf dem ich mich breit gemacht hatte. „Paul, die Leute wollen nicht überwacht werden. Sobald sie merken, dass wir hier unsere Arbeit machen, kannst du gar nichts mehr beobachten. Sie werden auf ihre Fußspitzen starren oder in ihr Bier, sie werden vermeiden den Flachbildschirm ins Visier zu nehmen, weil sie auf keinen Fall beim Tatort-Gucken beobachtet werden wollen. Die Leute sind scheu, die wollen hier in Ruhe ihren Sonntagabend zelebrieren, so privat, wie es in einer Kneipe eben möglich ist. Wir werden sie nicht dabei stören, wir schauen nur zu, beobachten still und merken uns, was wir sehen. Wir schreiben es nicht auf.“ – „Okay, Chefin!“ Die Leute um uns herum waren in Tatort-Stimmung. Erstaunlich, dass es bei Mord und Totschlag zeitweise viel zu Lachen gab für sie. Es wurde applaudiert, gejubelt und gewitzelt. Die Tatort-Community war unter sich und wir saßen mitten drin. „embedded journalism“ hieß das. Das hatte Paul bestimmt schon auf der Uni gehört. Er schaute den Film, vergaß dabei, die Leute um uns herum zu studieren. Ich wollte ihm das nicht vorwerfen, schließlich wollte ich meine Kolumne schreiben, nicht er. Ich wollte wissen, was das für Menschen waren, die in Gemeinschaft nach Verbrechen lechzten. Das waren ganz normale Kneipengänger, wie sie überall in jeder anderen Kneipe ein- und ausgingen. Altstudenten, Professoren, ihre Assistentinnen, ganz normale Leute, die Sonntagabend nichts zu Hause hielt. Sie waren alle um die 40, also in meinem Alter, bis auf Paul und die schnippische Bedienung. Die beiden senkten den Altersdurchschnitt im „Zimmer Frei!“ beträchtlich. Wie viele Biere schaffte ein Tatortgucker in eineinhalb Stunden, ohne aufs Klo zu gehen? Der Fortgang der Handlung erlaubte keine Blasenschwäche. Ich zählte drei bis vier Bier. Und ich stellte fest: Der Rudel-Tatortgucker kam satt zum Film. Keiner bestellte etwas zu Essen. Ob das an der Handlung des Films lag, am Geiz oder an gesundheitsbewusster Ernährung? Keine Kohlehydrate nach 18 Uhr? Der durchschnittliche Tatortgucker war Raucher. Das konnte ich durch den blauen Dunst erkennen. Und er war diszipliniert. Während der spannendsten Phasen des Films wurde nicht gequatscht, maximal ein wissender Blick mit dem Hinweis auf den vermeintlichen Mörder durfte getauscht werden oder eine Handbewegung, die auf ihn hinwies. Stille im „Zimmer Frei!“ Doch am Ende Applaus für Kommissar Borowski, der den Fall ruhig und überlegt gelöst hatte, wie immer! „Und wie kriege ich jetzt raus, wie die Leute den Film fanden?“ – „Darum geht es doch heute gar nicht Paul, aber du kannst sie einfach fragen!“ „Ist mir zu blöd, zu aufdringlich, zu akademisch“, sagte er mürrisch. „Nur ein Wort brauchst du, Paul. Ein Wort, für das du unzählig viele Worte zurückbekommst. Ein sehr lukratives Wortgeschäft!“ Er schaute mich wieder mit einer hochgezogenen Augenbraue an, fragend, ungläubig. „Nur ein Wort? Keine offene Fragestellung?“ – „Nein, wir müssen an Worten sparen. Das kleine Wort heißt: ‚Und‘ immer in Kombination mit einem Fragezeichen!“ Er schaute mich immer noch an, als redete ich in einer fremden Sprache. Vielleicht dachte er auch, der Rotwein habe seine Wirkung bereits getan. „Geh einfach zu dem Typen an der Bar und sag zu ihm: „,Und?‘ Du wirst sehen, er fühlt sich weder interviewt noch ausgehorcht und du kannst in Ruhe deinen Job machen.“ Paul wollte es wissen. Er stand mit einem Ruck vom Chaiselongue auf, sodass ich wippte und den Rest meines Rotweines gerade so daran hindern konnte, das Glas zu verlassen. Paul ging mit seinem lauwarmen Bier zur Bar. Er kam eine halbe Stunde lang nicht zurück. Die „Und?“-Fragetechnik hatte funktioniert. Dann steuerte er mein Lümmelsofa an und strahlte übers ganze Gesicht. „Siehst du Paul, das hat dir dein Uni-Professor nicht verraten, oder?“ – „Und?“, war seine freche Antwort. Er lachte, half mir aus den Polstern heraus und in meinen Sommermantel hinein. Vorsichtig schob er mich aus der Kneipe auf die Straße. „Danke, Timo, für mich hat sich der Abend schon jetzt gelohnt. Dabei kommt unser Nachhauseweg erst noch!“ Was erwartete er? Der Junge sorgte umständlich dafür, dass ich mich bei ihm unterhakte und lief mit mir Richtung CvD-Wohngegend. Woher wusste er, wo ich wohne? Ich fragte nicht nach. Um das herauszufinden, musste man kein Journalist sein. Im Gegenteil, ich war angenehm überrascht. Er hatte sich vorbereitet. Respekt! Vor meiner Haustür bremste er abrupt, machte mich von seinem Arm los und nahm meine Hand. Aus dem von mir erwarteten Händeschütteln wurde ein angedeuteter Handkuss. Danach verneigte er sich vor mir und wünschte mir eine „Schöne Nacht“. Weg war er.

Ich steckte den Haustürschlüssel ins Schloss, lachte in mich hinein, regte mich nicht einmal darüber auf, dass unsere Mitmieter im Haus wieder einmal vergessen hatten abzuschließen und stieg grinsend die dunklen Treppen zu unserem Palazzo Prozzo empor, in dem Spiderman Wache hielt. Ich war zufrieden mit der Feldstudie an den Tatortguckern, mit Paul und am meisten mit mir selbst. Dennoch schrieb ich die Worte „Tatort und Trockenobst“ in meine Wortsammlung. Nun freute ich mich nach dem Wochenende wieder auf meine Kollegen, die ich morgen früh gegen zehn Uhr sehen würde und auf die News an der Freakshowtafel.

„Verwöhne dich mit haptisch-linkualer Finesse, zärtliche Inkarnation.“ Da hatte sich wieder jemand Mühe gegeben! Hatten wir einen Akademiker unter uns? Einen, der sich für eine zu Fleisch gewordene Gottheit hielt? Napoleon? Nein, der wusste ja nichts von unserem Annoncenvergnügen. Ich scannte die Runde, alle waren in ihre Arbeit vertieft, die Wolfsschanzenbewohner standen am Leuchttisch und betrachteten vertieft ihre Werke, keiner grinste in sich hinein, nur ich, denn ich studierte die ersten Reaktionen auf die Fake-Annonce: „Junge, lerne deutsche Rechtschreibung, bevor du dir die Zunge brichst!“, oder „Lieber Gott, schick Hirn vom Himmel!“, gefolgt von „Wie viele Zungen hast du denn? Kannst du damit auch sprechen?“ und „Vergib ihm, denn er wusste nicht was er schrieb!“ Ich freute mich, denn das hatte die „Fleisch gewordene Gottheit“ unserer Redaktion verdient, wer auch immer es war. Und freilich würde er darauf bestehen, dass der Rechtschreibfehler dringend erforderlich war, um den Fake zu betonen. Mein Montag fing gut an. Ich konnte mich ans Schreiben der zweiten Kolumne setzen, ich hatte gestern Abend genug Informationen gesammelt, aus denen ich eine kleine Artentypisierung des Tatortguckers zaubern konnte.

Doch vorher zogen zwei Männer, die ich kannte, meine Aufmerksamkeit auf sich. Der Graue Wolf und Paul Kohl standen inmitten der Wolfsschanze und gestikulierten wild. Sie redeten! Noch nie hatte ich bisher beobachten können, dass mein Freund mehr als zehn Minuten zusammenhängend über ein Thema referierte. Dass er wortkarg war, hatte mir einst gefallen, es machte ihn geheimnisvoll. Und jetzt war er in seinem Redeschwall nicht zu bremsen. Paul kam kaum zu Wort. Der verbog sich, machte komische Bewegungen, spreizte die Arme von sich und beugte sich vorn über und wirbelte um die eigen Achse, hockte sich hin und umschloss seine Beine mit den Armen. Es sah aus wie „Häschen in der Grube“. Dann wälzte er sich in dieser Körperhaltung über den zertretenen Redaktionsteppich. Der Graue Wolf starrte fasziniert auf diese Darbietung. Es sah aus wie eine Trockenübung. Die eingesprungene Kugelpirouette! Paul malte Dreiecke in die Luft und zeigte mehrfach mit der einen Hand von den Fingerspitzen der anderen zu seiner Hüfte. Dabei stelle er sich breitbeinig hin und zeigte auf seine Fußspitzen. Jetzt hatte ich es! Pantomime! Ich saß am anderen Ende des Büroschlauches, konnte also nichts hören, nur beobachten. Am Ende der Darbietung klopften sich die beiden wohlwollend auf die Schulter und winkten zum Abschied. Nur einmal hoben sie die Hand. Männer winken nicht wie Frauen, hin und her fächelnd. Männer winkten eher ab. Paul kam zu mir, um seinen Platz am Doppelschreibtisch einzunehmen. Er war sichtlich erfreut. „Was war da los? Was habt ihr beide miteinander zu schaffen?“, fragte ich erstaunt. „Ihr Mann und ich haben ein ähnliches Hobby. Er ist Fallschirmspringer, ich bin Birdman und Basejumper. Und er meinte, er wolle gern einmal einen Basejump probieren. Von einem Schornstein oder dem Uni-Riesen in Leipzig. Ist zwar verboten, aber nachts im Dunkeln geht das. Und wenn man als Birdman mit dem Flügelanzug aus größeren Höhen springt, dann hat man vor dem Öffnen des Schirms sogar Zeit für eine Fassrolle. Das war meine bizarre Übung, die Sie vermutlich bestaunt haben. Ich muss die Arme dicht um die Beine legen und anpressen, sonst verheddert sich mein Fledermausanzug und die Sache geht schief.“ Mir stockte der Atem. Wurde mein Freund in der Mitte seines Lebens noch größenwahnsinnig? Ich hoffte, er hatte diesen Wunsch nur geäußert, um mit dem Jungen mitzuhalten, ihm in nichts nachzustehen. Fallschirmspringen und Basejumping waren so unterschiedlich wie Äpfel und Birnen, so weit voneinander entfernt wie die echte Timoschenko von Putin! Ich bekam Angst, denn ich wusste, wenn mein Freund sich etwas vornahm, würde er es auch umsetzen, über kurz oder lang, eher über lang. Er war langsam, aber konsequent. Ich hatte Angst.

Und ich hatte Angst vor Napoleon. Ich hatte ihm noch am Freitag meinen Vorschlag für die erste Tatort-Kolumne geschickt. Er hatte also übers Wochenende genügend Zeit, meine netten Zeilen über die „Tatort-Nörgler“ zu prüfen und anschließend zu zerreißen. Mein Blick in sein Aquarium verhieß nichts Gutes. Ich beobachtete wie der Chef im Sessel saß und großzügig „Bois de Portugal“ auftrug. Das war das Parfum, das Bonaparte seiner Zeit wirklich benutzt hatte und das eigens für ihn kreiert wurde. In guten Parfümerien gibt es „Bois de Portugal“ heute noch zu kaufen. Napoleons Hofparfümeur notierte einst, dass der Kaiser innerhalb von drei Monaten 162 Flaschen davon verbraucht hätte. Er beduftete sich zweimal täglich von Kopf bis Fuß damit. In rauen Mengen ließ er sich „Bois de Portugal“ auf seine Schlachtfelder liefern, was darauf hindeutete, dass er sich mit Parfum, statt mit Wasser wusch. Ich hoffte, dass mein Chef es ihm nicht nachtat und ein wenig Maß hielt mit seinem Duft, der ihn in seinem Büro mit einem Weihrauchschleier umhüllte. Nein, nicht umhüllte, sondern eher das gesamte Büro auffüllte. Eine gewaltige Silage für einen kleinen Mann, die noch im Raume stand, wenn Napoleon selbst längst verduftet war. Er brauchte den ausschweifenden Duft, um seinen kurzen Körper olfaktorisch zu verlängern. Nun befürchtete ich, dass der Kleine beim Lesen meiner Tatort-Kolumne und bei dem Gedanken daran, mich fertigzumachen, heftig vorschwitzte. Ich bekam meine Audienz-Einladung wieder per E-Mail und machte mich auf den Weg in Napoleons Hauptquartier. Paul versäumte es nicht mir ein „Alles Gute“, hinterherzuwerfen und ein „Ich bin bei Ihnen, Frau Timo!“ Aus der Wolfsschanze kam nichts, sie war verwaist. Die Bilderfänger waren ausgeschwärmt.

„Sttn s sch, Timo“, ich gehorchte und blickte ihn erwartungsvoll an. Schweigen. Gefühlte drei Minuten lang blickte Napoleon auf den Ausdruck meiner fünfundsechzig Zeilen und drehte sich dabei wie ein gelangweiltes Kind mit seinem Chefsessel hin und her. Endlich, er hatte die Sprache wieder gefunden: „Was haben Sie da bloß gemacht, Timo!“ Er schaute mich ernst an. Mein Herz klopfte, Adrenalin stieg auf. Sollte ich doch noch geköpft werden?

„Das ist gut Timo! So drucken wir das!“ Ich sackte erleichtert auf meinem Stuhl zusammen. Mein Herzschlag setzte wieder ein. Das war der Freibrief für alle weiteren Kolumnen! Der selbst gekrönte Kaiser war zufrieden.

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