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Kapitel 3 … Youngman

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Wie immer, wenn ich am Montagmorgen die Redaktion betrat, morgens hieß in der Berufsgruppe der Zeitungsredakteure gegen zehn Uhr, galt mein erster Blick unserer Freak-Show-Tafel. An dem Schwarzen Brett durfte jeder von uns Absonderliches anpinnen. Es häuften sich peinliche Tippfehler, sinnlose Sätze, Fauxpas, Fotos aus der Wolfsschanze, die einem vor Lachen die Tränen in die Augen trieben. Montags war die Tafel besonders interessant, weil es bereits die ersten Reaktionen auf unsere Fake-Anzeige vom Samstag gab. Die Fake-Anzeige war zu unser aller Erheiterung erfunden worden. Jede Woche durfte ein Kollege auf unserer Kontaktanzeigenseite die letzten verfügbaren Zeilen nutzen, um eine irrsinnige, aberwitzige Anzeige zu schalten, auf Kosten des Hauses und ohne Napoleons Segen versteht sich. Die Annonce musste so absurd sein, dass die Leserschaft sie einfach nicht ernst nehmen konnte. Natürlich tat sie es trotzdem und beschenkte uns unfreiwillig mit den witzigsten Reaktionen. Freilich pinnten wir die Antworten darauf unter anderen Namen an die Freak-Show-Tafel, schließlich wollten wir niemanden vorführen. So viel Menschenwürde musste sein. Es hätte ja sein können, dass des einen oder anderen Partner oder Freunde und Bekannte auf den Blödsinn antworteten. Die aktuelle Fake-Anzeige musste von einem Kollegen aus der Wolfsschanze stammen. „Junger Fotograf sucht Fotomodelle mit extrem asymmetrischen Brüsten (von Natur aus), selbst betroffen.“

Nun ja, die Reaktionen waren in diesem Falle verhalten, denn wer konnte sich schon vorstellen, dass der Fotograf selbst vom Schrägwuchs betroffen war. Spätestens an dieser Stelle wäre ich als Anzeigenleserin darauf gestoßen, dass der Brustknipser nicht ganz echt sein konnte. ‚Danke liebe Leserinnen, dieser Fake war unter eurem Niveau und auch irgendwie etwas geschmacklos‘, dachte ich und steuerte weiter in Richtung Schreibtisch, sammelte unterwegs ein paar Glückwünsche und Schulterklopfer für meine neue Aufgabe ein. Nur mein neues Schreibtischgegenüber äußerte sich nicht, wie auch, er hatte heute seinen ersten Tag und konnte nicht wissen, worum es ging. Mir gegenüber saß ab heute Paul. Paul, 26, einen Meter neunzig groß, dunkelblond, schlank, lässig gekleidet, frisch von der Uni. Der Chef hatte ihn angekündigt und dabei besonders hervorgehoben, dass Klein-Paul gerade sein Journalismusstudium mit Bravour absolviert hatte. Ein Seitenhieb für die meisten von uns, denn in der Redaktion arbeitete kaum jemand, der sein Handwerk wirklich gelernt oder studiert hatte. Zwei Drittel von uns waren Seiteneinsteiger, das heißt Lehrer, Studienabbrecher, Mathematiker, Juristen, Weinwissenschaftler, sogar einen Agraringenieur hatten wir unter uns. Das sollte sich nicht negativ auf unsere Zeitung auswirken, denn damit gab es für jedes Fachgebiet einen Spezialisten. Mein Fachgebiet hieß „ZBV“ – zur besonderen Verwendung. Nun sollte ich dem mit meiner Tatort-Kolumne alle Ehre machen. Zum Glück war erst Montag. Ich hatte Zeit und die Nase voll.

Denn meinen Schreibtisch umgab eine Wolke aus Herrenparfum. Ich konnte es förmlich schmecken, seifig auf meiner Zunge. Es hatte einen zimtigen Abgang und schien sich mit seinen umherwabernden Duftpartikeln an jedem Atom in der Luft, die mich umgab, angedockt zu haben. Die chloroformierte Luft begann zu schwingen, denn er erhob sich von seinem Bürostuhl, kam zu mir herüber und stellte sich vor. „Angenehm, Paul Kohl, ich bin der Neue.“ Aha, alte Schule, dachte ich mir, der Junge hat noch Manieren. Er reichte mir seine riesige Hand. Es war keineswegs selbstverständlich, dass sich neue Mitarbeiter persönlich bei uns älteren Kollegen vorstellten. Das führte dazu, dass wir uns ihre Namen nicht merkten, auch weil sie ohnehin nur auf der Durchreise unsere Redaktion passierten. Wir nannten unser Büro daher „Durchlauferhitzer“. Die Neuen scheiterten an uns, an ihren Aufgaben oder an Napoleons Schlachtplänen, der heute in seinem Aquarium saß und ein Gesicht machte, als hätte er gerade seinen Russland-Feldzug verloren. Er hatte wohl ein unangenehmes Wochenende.

„Ich heiße Lena Aust. Alle nennen mich Timoschenko, das darfst du auch.“ Ich kam gar nicht auf die Idee, den Youngster zu siezen. Er nahm es mir nicht übel, schaute mir freundlich in die Augen und verzog sich wieder auf seinen Stuhl. „Hey, Youngman, wie heißt dein Parfüm?“, warf unsere Putzperle im Vorbeiflug auf unseren Doppelschreibtisch. „Schmeckt nicht!“, schob sie noch hinterher. Paul grinste, wühlte in seiner Tasche und stellte einen Flacon auf den Tisch. Interessiert machte unsere Reinigungsfachkraft kehrt und richtete ihre kurzsichtigen Augen auf die Flasche mit der bräunlichen Flüssigkeit. „Allure Sport“, entzifferte sie, „Das wird wohl unser neuer Raumduft.“ Sie grinste und verzog sich. Paul fühlte sich nicht angegriffen, nein, er legte sogar noch nach, indem er neu auflegte. Wäre mir das Atmen möglich gewesen, hätte ich darüber gelacht. Ich würde ihm irgendwann nahe legen müssen, einen Artikel über Homöopathie zu schreiben, in der Hoffnung, dass er diesen Wink mit dem Zaunpfahl verstand und in Zukunft davon absah, seine Duftmarke in so unhomöopathischen Dosen zu setzen.

Ich öffnete das Fenster ein wenig und konzentrierte mich auf meine neue Aufgabe, die Tatort-Kolumne. Mein erstes Problem war der Redaktionsschluss. Der Sonntags-Tatort lief immer bis um 21.45 Uhr. Zwei Stunden und fünfzehn Minuten später musste der Text fertig sein. Wenn mir sofort etwas einfiele, dann wäre das machbar, aber bei den ersten Folgen wollte Napoleon persönlich über mich richten und die Kolumne begutachten und der Chef verweigerte Nachtschichten. Ich musste also erst einmal einen Weg finden, die Kolumne vor der Ausstrahlung des Films zu schreiben. „Kalt schreiben“, nannten wird das. Ich musste mir die Pressetexte und Inhaltsangaben für den Film vorab schicken lassen, mir den Film in Gedanken zusammenreimen und dann aus dem Blut und dem Sperma, was ich noch nicht einmal gesehen hatte, etwas Nettes machen. Verdammt, vielleicht sollte ich erst einmal anders beginnen.

„Youngman? Darf ich das auch sagen?“ – „Klar, Frau Timoschenko, gerne“, antwortete Paul belustigt. „Was würdest du über einen Tatort schreiben, ohne ihn gesehen zu haben?“ – „Ich würde Zeugen befragen, die am Tatort waren“, reagierte er prompt. Okay, ich hätte ihm mehr Input geben sollen, aber so abwegig war seine Idee gar nicht. Ich machte mich zunächst auf die Suche nach Tatort-Guckern. Wer waren diese Menschen, die jeden Sonntag mit Chips und Bier oder mit gerösteten Erdnüssen und Rotwein auf dem Sofa lümmelten und nach Sex and Crime auf der Mattscheibe gierten? Wer erlag dem Zauber des Verbrechens, wer mochte Gewalt nach 20.15 Uhr, wer fieberte mit den Ermittlern auf der Jagd nach Vergewaltigern, Mördern und Kinderschändern? Für mich gab es nur eine Möglichkeit das herauszufinden, ich musste Feldstudien betreiben. Das hieß: Am Sonntagabend eine von den Tatort-Kult-Kneipen aufsuchen und Menschen beim „Rudel-Gucken“ beobachten. Ganz sicher fiele mir dann etwas „Nettes“ ein, was ich dann über diese Menschen texten konnte. Aber die Idee musste ich mir für später aufheben, jetzt musste ich mit meiner Arbeit zunächst den Arbeitszeiten von Napoleon gerecht werden. Ich tippte „Tatort-Nörgler“ in die Suchfunktion unserer Suchmaschine ein und erntete 12.657 Hinweise und im selben Moment einen Anruf auf meinem Privathandy. Ich erkannte sofort, wer der Anrufer war. Spiderman warf auf meinem Display seine klebrigen Spinnweben aus.

„Ich bin in der Notaufnahme im St. Georg“, flüsterte mein Freund. Ich war schockiert, mein Herz sackte auf einen Schlag einen halben Meter nach unten. Was hatte er sich an seinem freien Tag angetan? Ich schwieg, wartete auf weitere Informationen von ihm, immerhin konnte er selbst sprechen. Das beruhigte mich. Dennoch überlegte ich, ob ich sofort losfahren sollte, um ihn abzuholen. „Ich bin beim Joggen gestürzt“, sagte er langsam. „Was heißt das? Jetzt lass dir nicht alles aus der Nase ziehen!“, ich wurde ungeduldig. „Ich bin an der Costa Cospuda über einen Rasenkantenstein gestolpert.“ Okay, wie immer war der Graue Wolf um den Cospudener See getrabt. Ich tippte auf einen Bänderriss, einen verstauchten Knöchel oder auf einen kleinen Splitterbruch im Fußgelenk. Ich hatte Zeit darüber nachzudenken, weil mein Freund am anderen Ende der Telefonleitung eine Schweigeminute für sich eingelegt hatte. „Jetzt sag endlich, was du hast, soll ich dich abholen?“ Mir riss der Geduldsfaden. „Ich habe mir am Rasenkantenstein den linken Ringfinger ausgekugelt.“ Ich dachte er scherzte, „Der Finger stand waagerecht in die falsche Richtung ab, mir wurde nicht vom Schmerz schlecht, sondern von dem Anblick. Zwei Frauen kamen vorbei. Sie waren mit ihrem Hund unterwegs. Sie hatten ein Handy dabei und holten einen Krankenwagen für mich. Die Ärztin in der Notaufnahme hat quasi im Vorbeigehen meinen Finger wieder eingerenkt. Danach wurde mir übel.“ Ich musste grinsen. Zum einen war ich glücklich darüber, dass er sich nichts Schlimmeres zugezogen hatte, zum anderen war ich ob der Absurdität des Vorfalls amüsiert. Wie konnte sich mein Freund beim Joggen ausgerechnet den Finger auskugeln? Alles war bei einem Laufunfall möglich, aber nicht das! Ich griente in mich hinein. „Nimm dir am besten ein Taxi und lass dich nach Hause fahren, Spiderchen. Deinen Krankenschein nehme ich morgen mit zu Napoleon. Und lass Bärbel und Tarzan in Ruhe!“ Das konnte ich mir nicht verkneifen.

Jetzt war ich wach und in der richtigen Stimmung, um etwas Nettes über „Tatort Nörgler“ aufzusetzen. Die Informationen, die ich über die Nörgler fand, verwunderten mich. Jeder zweite Tatort-Zuschauer ärgerte sich darüber, dass die Fälle sich ähnelten, ein Drittel klagte über sich wiederholende unrealistische Handlungen. Die Hälfte der weiblichen Zuschauer ärgerte sich über zu viel Gewalt am Sonntagabend. Was hatten diese Damen erwartet? Mit einem Brötchen-Diebstahl konnte man sie schließlich auch nicht hinter dem Ofen hervorlocken. Zu guter Letzt musste ich erfahren, dass dreißig Prozent der Gucker fanden, dass zu viele Ermittler im Einsatz waren. Ich fragte mich, warum die Zuschauer, wenn sie doch so viel zu nörgeln hatten, überhaupt jeden Sonntag die Fernbedienung drückten und die Große Eins anschalteten. Das war mein Aufhänger für meine erste Tatort-Kolumne. Warum gucken Menschen den Tatort, wenn er ihnen doch gar nicht gefiel? Daraus ließ sich etwas Brauchbares stricken. Ich machte mich an die Arbeit.

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