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Fridolin – eine Lebensphilosophie

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von Heike Hertger


Ich schreibe diese Geschichte mit sehr viel Trauer und aus Liebe zu unserem Fridolin, geboren am 2. November 2000 als Vierter von insgesamt elf Briard-Welpen mit einem Geburtsgewicht von nur 270 Gramm. Im Vergleich: Der dickste Welpe wog 570 Gramm.

Fridolin war von Anbeginn etwas Besonderes, er hat sich immer von den anderen Welpen ferngehalten und sein eigenes »Ding« gemacht. In seiner dritten oder vierten Lebenswoche wurde auffällig, dass er auch anders reagierte als die anderen. Er stieß gegen seinen Fressnapf und versuchte anschließend, unter diesem hindurchzukommen. Seinem aufmerksamen und liebevollen Züchter blieb dieses Verhalten nicht verborgen, sodass er Fridolin einem Tierarzt vorstellte. Der erste Verdacht, dass der Hund blind sein könne, bestätigte sich sodann im Rahmen einer Untersuchung beim Fachtierarzt für Augenheilkunde.

Für den Züchter kam ein Einschläfern des agilen und so offenkundig lebensfrohen Welpen keinesfalls infrage. Und so entschied er, für Fridolin Menschen zu suchen, die ihn trotz seiner Behinderung nehmen wollten. Bis dahin sollte der Kleine bei ihm bleiben. Einige Tage später entdeckten wir Fridolins Bild auf der Homepage für blinde Hunde und es war um uns geschehen. Es dauerte nicht lange, bis feststand, dass dieser Hund zu uns kommen würde. Am Freitag, dem 29. Dezember 2000, fuhren wir gemeinsam mit unserer Hündin Nala vom Niederrhein zum Bodensee. Weder Schnee noch Glatteis hinderten uns daran, Fridolin zu besuchen. Zwei Tage später traten wir die Heimreise an und feierten Sylvester 2000 gemeinsam mit beiden Hunden.

Nala erkannte sehr schnell Fridolins Defizite. Sie kümmerte sich wunderbar um ihn, leckte ihm – bis zum Schluss – jeden Abend die Augen aus, ließ aber auch die gebotene Konsequenz in der Erziehung nicht zu kurz kommen. In dieser Hinsicht war sie auch uns eine gute Lehrerin. Nach den ersten zaghaften Versuchen, den Garten zu erkunden, dauerte es nicht lange, bis Fridolin selbstständig dort herumlief und alles genau inspizierte, ohne dass ihm irgendein Hindernis Probleme bereitete. Nicht einmal lief er gegen einen Baum. Er liebte seine französische Basttasche, in der ich ihn die ersten Wochen herumtrug, weil er bei unseren Spaziergängen nicht so schnell wie Nala mitkam und außerdem auf unbekanntem Terrain unsicher war. Schien ihm im Garten etwas nicht geheuer, lief er schnurstracks zu dieser Tasche und kletterte hinein, was sich mit der Zeit und bei seinem Wachstum jedoch immer schwieriger gestaltete.

Wir haben sehr früh angefangen, die notwendigen Kommandos wie z. B. »Vorsicht« zu trainieren, und zu diesem Zweck einen Acker mit Furchen ausgesucht. Wie wir das machten, mag sich zwar gemein anhören, es war aber äußerst zweckmäßig und erfolgreich. Fridolin missachtete das für ihn unbekannte Kommando natürlich zunächst und fiel, weil er noch so klein war, in die Ackerfurche. Selbstverständlich hat er das Training völlig schadlos überstanden, aber der Schreck, den er davongetragen hat, garantierte einen schnellen Lernerfolg. Später lernte er auch die Kommandos »rechts« und »links« kennen.

Nachdem Fridolin bereits einige Wochen bei uns war, entschlossen wir uns – rein vorsorglich und da uns die Ursache seiner Blindheit nicht bekannt war –, eine Computertomografie machen zu lassen, um von Vornherein einen Tumor oder Ähnliches auszuschließen. Die CT verlief Gott sei Dank ohne Befund und wir atmeten auf. Mit der Zeit stellte sich heraus, dass Fridolins Blindheit nicht seine einzige Beeinträchtigung war. Da er regelmäßig im Garten herumtollte und als glücklicher, aber genauso dreckiger Hund von dort zurückkam, gehörte es zu den wöchentlichen Gepflogenheiten, ihm ein Bad in der Badewanne zu gönnen. Dabei fielen mir sehr schnell Ekzeme auf, die sich trotz der regelmäßigen Fellreinigung im gesamten Bauchbereich bildeten. Ich kontrollierte Fridolin daraufhin ständig und fand heraus, dass er inkontinent war. Er war zwar sehr schnell stubenrein geworden, immerhin mit zwölf Wochen, verlor aber hier und da mal ein paar Tröpfchen, die offensichtlich an den Oberschenkeln und am Bauch eine ständige Feuchtigkeit verursachten. Ich reinigte diese Körperpartien morgens, mittags und abends mit Wasser und einer Calendula-Essenz und bekam damit das Problem in den Griff. Fridolin liebte seine täglichen Waschungen und bestand darauf, dass diese strikt eingehalten wurden. Er lief dazu jedes Mal ins Badezimmer und legte sich erwartungsvoll auf den Rücken.

Im Weiteren wurde deutlich, dass Fridolin auch motorische Störungen hatte, die nicht mit einer etwaigen Unsicherheit – als Folge der Blindheit – zusammenhingen. Unsicher war er nämlich auf keinen Fall. Er rannte munter durch den Garten, die Wohnung und das Büro, sodass ich regelmäßig Fremden gegenüber geradezu beteuern musste, dass er wirklich blind sei und nichts sehen könne. Er knickte auch nicht etwa ein; es war nur so, dass er bei dem Versuch, sein Beinchen zu heben, einfach umfiel. Schlauerweise ließ er das Beinheben dann auch für immer sein. Die Treppen hinaufzulaufen, hatte er gelernt, war aber nicht in der Lage, seine vier Beine so zu koordinieren, dass er auch wieder herunterlaufen konnte. Dabei musste ich ihm helfen, indem ich ihn regelmäßig trug. Bei seinem zarten Endgewicht von »nur« 50 Kilo ersparte ich mir auf diese Weise den Besuch eines Bodybuilding-Studios.

Da ich Wert darauf legte, dass Fridolin unabhängig von seiner Rudelführerin Nala ein Selbstbewusstsein entwickelte, besuchte er die Welpenschule und weilte dort fast bis zu seinem zwölften Lebensmonat, obwohl das Welpenalter nur bis zum Ende der sechzehnten Woche dauert. Wir hatten jedoch eine Hundeschule gefunden, die geradezu »Gold« für uns war, und einen mehr als verständnisvollen Trainer. Dieser scheute auch nicht davor zurück, den angesichts von Fridolins Größe erschrockenen »Neuzugängen« unter den Welpenhaltern zu erklären, dass Fridolin zwar sehr groß, aber immer noch mit dem Gemüt eines Welpen ausgestattet sei und keinesfalls die seinem Alter entsprechenden rüpelhaften Junghundmanieren habe. Fridolin entpuppte sich als wichtige soziale Komponente im Welpengetümmel und schlichtete die regelmäßig aufkommenden Streitigkeiten zwischen den Welpen, indem er sich mit der ihm eigenen Gelassenheit einfach zwischen die keifenden Kleinen stellte, und schon war Ruhe. Er hatte auch ein Gefühl dafür, wann es Zeit war, die »Welpenpolizei«, wie er fortan liebevoll von allen genannt wurde, zu spielen.

In der Welpengruppe lernte Fridolin ebenfalls, dass ein Stadtbummel nichts Gefährliches war. Nachdem er mit den anderen Hunden einen Ausflug in die Stadt gemacht hatte, war es auch für uns kein Problem mehr, ihn dorthin mitzunehmen. Im Gegenteil: Er ließ sich ohne Weiteres und zur Verwunderung aller Verkäuferinnen im Laden neben der Tür ablegen, interessierte sich in keiner Weise für andere Kunden und verließ ganz selbstverständlich gemeinsam mit mir wieder das Geschäft. Auch die Aufmerksamkeit, die ihm die Kunden entgegenbrachten, nahm Fridolin mit der ihm eigenen stoischen Gelassenheit in seiner liegenden Position entgegen. Ich erntete regelmäßig Bewunderung für einen solch gut erzogenen Hund. Spaziergänge mit Fridolin gestalteten sich äußerst angenehm, da er nahezu immer ohne Leine lief und auch keine Leine benötigte, es sei denn in der Nähe von Straßen. Er blieb immer nahe bei mir und hörte auf den ersten Zuruf. Die Besucher meines Büros begleitete er zur Tür hinaus, lief dann zu seinem Stammplatz draußen und kam sofort wieder zurück, nachdem er mal eben seine Duftmarke gesetzt hatte.

Irgendwann ließ sich jedoch der Wechsel von der Welpen- in die Junghundgruppe nicht mehr aufhalten und ich sah dem ersten Besuch mit Schrecken entgegen. Ich hatte Angst, dass Fridolin den anderen typischen »Rüpeln« nicht gewachsen sein würde, zumal er ja auch bei einem Stoß sofort umfiel. Aber weit gefehlt: Fridolin kam, sah und siegte! Er wurde zu meiner und auch zur Verwunderung unseres Hundetrainers von den anderen sofort und, ohne dass er irgendetwas dazu beisteuern musste, als Chef anerkannt. Wenn Fridolin erschien, legte jeder noch so lebhafte Junghund sofort den Kopf zur Seite und beschwichtigte. Er war nie an irgendwelchen Rangeleien beteiligt und seine Stellung wurde niemals angezweifelt. Der Hundetrainer und ich haben oft darüber nachgedacht, was die Ursache für Fridolins Stellung als »King der Rüpelbande« gewesen sein könnte. Eine Vermutung war, dass der Hund in Folge seiner Inkontinenz einen so starken Geruch verströmte, dass es keiner wagte, sich mit ihm anzulegen. Herausgefunden haben wir es nie.

Seinen Garten liebte Fridolin immer mehr und insbesondere den Teich, in dem er mit großer Freude herumplanschte. Er lernte es auch, mit einem Ball zu spielen. Wir hatten einen gelben Plastikball, den er oft sorgfältig und ganz vorsichtig durch den Garten zum Wasser trug und dort schwimmen ließ. Wenn ich den Ball hart auf den Boden warf, sodass es ein »Plöpp« gab, orientierte sich Fridolin am Geräusch, fand den Ball und brachte ihn stets voller Freude zurück. Er schaffte es sogar, sich gegenüber seiner sehenden Rudelführerin Nala beim Ballspielen Vorteile zu verschaffen. Nala beobachtete mich und schoss in eine Richtung los, die nach ihrer Wahrnehmung der Flugrichtung des Balles entsprach, lief dann aber ins Leere, wenn der Ball durch ein Hindernis eine andere Richtung nahm. Fridolin hingegen, der aufmerksam auf die Geräusche achtete und den Aufprall abwartete, lief sofort in die richtige Richtung und kam Nala auf diese Weise so manches Mal zuvor.

Da wir unsere Hunde regelmäßig mitnehmen, standen natürlich auch Restaurantbesuche auf dem Trainingsplan. Für Fridolin war das zunächst eine neue, ihm unbekannte Umgebung, sodass er einen »Trick« anwandte, der darin bestand, sich vor dem »Hindernis« hinzulegen und nicht weiterzugehen. Infolge meines täglichen Trainings – ich musste ihn ja stets beim Treppensteigen tragen – hatte ich mit diesem Verhalten kein Problem. Ich klemmte mir meinen Fridolin unter den Arm und trug ihn ins Lokal, wobei dem einen oder anderen Besucher die Gabel im Mund stecken blieb. An unserem Tisch angekommen, legte ich den Hund ab, bis er mit uns zusammen – diesmal auf seinen eigenen vier Beinen – das Restaurant wieder verließ. Nach zwei Besuchen kannte er die neue Umgebung und lief von selbst in das Gasthaus, als wäre es nie anders gewesen.

Auch wenn wir uns entschlossen hatten, der Ursache für Fridolins Blindheit nicht weiter nachzugehen, da er ohne Zweifel ein glücklicher und ausgeglichener Hund war, so besuchte ich doch mit ihm einen Fachtierarzt für Augenheilkunde. Dieser teilte mir nach einigen Untersuchungen mit, dass Fridolins Augen völlig in Ordnung seien, aber sein Gehirn die Bilder nicht umsetze. Er habe offensichtlich bei der Geburt einen Sauerstoffmangel gehabt und infolgedessen sei das Gehirn nicht richtig durchblutet worden, was natürlich die motorischen Ausfälle und die Inkontinenz, die übrigens mehr und mehr nachließ, erklärte.

Weil wir eine unkastrierte Hündin haben, machten wir uns irgendwann zwangsläufig Gedanken über die Notwendigkeit einer Kastration bei Fridolin. Wir warteten die erste Läufigkeit der Hündin ab und erst dann wollten wir eine Entscheidung treffen. Fridolin hatte bis zu dem Zeitpunkt noch keinerlei Anzeichen einer aufkeimenden »Männlichkeit« gezeigt und eine Kastration bleibt schließlich nicht immer ohne Folgen. Wir fürchteten zum einen das Risiko der Narkose und zum anderen die hormonelle Umstellung und deren Auswirkungen auf seine geistige Behinderung. Nachdem die erste Läufigkeit unserer Hündin eingetreten war, erkannten wir, dass es eine weise Entscheidung gewesen war, nicht vorschnell gehandelt zu haben, da Fridolin offensichtlich keine Geschlechtsreife besaß und sich überhaupt nicht für Nalas »besonderen Zustand« interessierte.

Im Mai des Jahres 2003 bekam das Rudel Zuwachs durch einen kleinen rumänischen Flüchtling. Quatrelle, wie wir ihn nannten, war zunächst ein Pflegehund, blieb aber selbstverständlich, nachdem wir festgestellt hatten, dass er und Fridolin unzertrennliche Freunde wurden. Quatrelle war etwa vier bis fünf Monate alt, als er zu uns kam. Er liebte es, in Fridolins Fell zu kuscheln und sich auf der Couch auf ihn zu legen. Die beiden spielten und tobten im Garten umher und Quatrelle brachte Fridolin bei, wie spannend es ist, auf Karnickeljagd zu gehen, sodass sie gemeinsam mit Tempo hinter den Kaninchen herjagten. Unser Garten mit einem Ausmaß von 4000 Quadratmetern gab ihnen dazu genug Freiraum. Die Hunde liefen um die Wette und spielten oft mit Stöcken, indem der eine an der einen Seite zerrte, der andere an der anderen. Zuweilen teilten sie sich auch die Schlafstelle.

Leider wurde Fridolins Leidenschaft sein Verhängnis. Fridolin verschluckte ganze Socken, Textiltaschentücher, Kinderunterwäsche und Lappen. Es war unmöglich, alles vor ihm sicherzustellen, und so mussten wir manches Mal beherzt zugreifen und die Dinge aus seinem Darmausgang ziehen, wenn er wieder mit gekrümmtem Rücken dasaß und versuchte das, was er gefressen hatte, loszuwerden. Im Dezember des Jahres 2003 erwischte er, ohne dass ich es bemerkte, einen Putzlappen, den er in gewohnter Manier hinunterschluckte. Leider führte dies zu einem Darmverschluss und in der daraufhin notwenigen Operation gab sein Herz auf. Er ist in unserem Garten begraben und ich besuche ihn regelmäßig.

Ich habe sehr unter dem Verlust meines geliebten Hundes gelitten und vermisse heute noch sein tiefes »Wuff«, das er ausstieß, wenn er mir liebevoll seine Pranke auf das Bein legte als Hinweis darauf, nun sei Schmusen angesagt. Er war für mich ein absolutes Unikat und – was noch viel wichtiger ist – ein glücklicher und ausgeglichener Hund, der sein Leben in vollen Zügen genoss und für den es keine Behinderung gab. Quatrelle hat ihn ebenfalls sehr vermisst. Noch wochenlang nach seinem Tod klaute er Socken aus meiner Schublade, die er eigenständig aufmachen kann, und legte diese auf Fridolins Decke. Der Anblick hat mir regelmäßig das Herz zerrissen.

Fridolin war etwas ganz Besonderes für mich. Er war der »Philosoph« der Familie und bewies mit seinem Verhalten und seiner Ausdrucksweise so viel Weisheit, dass man von ihm eine Menge lernen konnte. Manchmal habe ich das Gefühl, er ist immer noch bei mir. Seine Internetseite besuche ich oft. Nachdem Fridolins Schicksal bekannt geworden war, brach eine Diskussion über seine Lebensqualität aus, und der Züchter wurde dabei von Angriffen nicht verschont. Ohne Fridolin überhaupt zu kennen, fällten etliche Menschen das Todesurteil über den Hund; die Argumente waren immer gleich. All diesen Menschen sei versichert, dass unser Fridolin jeden einzelnen Tag aufs Neue genossen hat und nur so strotzte vor Lebensfreude. Er liebte es, den Wind in seinem Fell zu spüren, mit seinen dicken Pfoten im Teich zu plantschen, und am meisten genoss er es, sich in den Bachlauf zu legen und vom Wasser berieseln zu lassen. All die Kleinigkeiten des täglichen Lebens, die man so oft übersieht, bereiteten ihm einen Höllenspaß.

Anders – aber trotzdem glücklich

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