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General – veni, vedi, vici

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von Angelika Lanz


»Was soll man über einen gut erzogenen, klugen, alten Schäferhund sagen? Seine graue Schnauze und seine ein wenig trüben Augen haben wohl alles erschnüffelt und gesehen, was in einem langen Hundeleben so passieren kann. Er ist freundlich und hat die Weisheit und Liebenswürdigkeit eines Opas. Wir würden ihm sehr wünschen, dass sich noch ein Platz für ihn finden lässt, an dem er Treue und Liebe zu seinem Menschen einbringen kann.«

Die Beschreibung des Tierheims und das dazugehörende Bild eines alten, traurigen Schäferhundes mit hängenden Ohren gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Nach einigen Tagen war mir klar, dass ich diesem Hund ein Zuhause geben wollte. Ich rief im Tierheim an und erfuhr, dass man schon zweimal versucht hatte, General – so hieß der Rüde – in eine Pflegestelle zu geben. Er hätte sich aber jedes Mal geweigert, das Tierheim zu verlassen. Seine Gassi-Geherin meinte jedoch, sie könne sich gut vorstellen, dass General zu uns passen würde. Um ihm unnötigen Stress zu ersparen, war sie sogar bereit, ihn an ihrem freien Wochenende die gut 60 Kilometer zu uns zu bringen und für den Fall, dass er nicht bei uns bleiben wollte, auch wieder mitzunehmen. Über seine Vorgeschichte wusste sie nur, dass General ursprünglich ein italienischer Militärhund gewesen war. Ob desertiert oder abgeschoben – war er irgendwann in einem italienischen Tierheim gelandet, von wo aus er zwei Jahre später nach Deutschland kam. Insgesamt hatte General nun schon acht Jahre Tierheimaufenthalt hinter sich. Er war eine Seele von Hund, aber niemand hatte ihn gewollt!

Am 2. Februar 2003 war es endlich so weit; General wurde zu mir gebracht. Als ich den Hund sah, hätte ich losheulen können. Er hatte schiefe Hüften, schiefe Schultern, einen Riesenbrustkorb, aber sonst nur Knochen und Sehnen und kaum noch Muskeln an den Hinterläufen, der Kopf war eingefallen. Außerdem humpelte er stark. Aber er schaffte es mit eisernem Willen, die Treppe zu meiner Wohnung hinaufzukommen, obwohl das sehr mühsam für ihn war. Als die Damen vom Tierheim gingen, blieb General anstandslos bei mir. Zugegeben – wir hatten ihm beim Spaziergang mit einem Stückchen Leberwurst ein homöopathisches Mittel gegen Heimweh verabreicht, aber dennoch: General schaute seinen Betreuerinnen nach, drehte sich um und stakste zurück in den Garten. Er war zu Hause. Mein Schäferhund Bär guckte irritiert, als die Damen ohne General abfuhren, nahm ihn dann jedoch distanziert, aber freundlich auf. Meine Hündin Cooper zeigte sich erst sehr interessiert, immerhin war nun ein neuer Rüde im Haus. Als General sich aber hinlegte und anfing zu schnarchen, ergriff Cooper die Flucht. Es dauerte beinahe vier Wochen, bis sie ihre Angst vor diesem eindrucksvollen Geräusch überwunden hatte.

Die erste Nacht verbrachte General selig schlummernd auf dem dicken Teppich im Kinderzimmer. Ich dagegen lag wach und machte mir Sorgen, ob ich den Hund überhaupt durch die ersten Tage bringen würde. Am nächsten Morgen wirkte er sehr verstört, als meine Tochter zur Schule ging. Ich hatte mir für seine Eingewöhnung zwei Tage Urlaub genommen und rief ihn zu mir. General kam schwerfällig angetapst, rang sich dabei jeden Schritt ab, schaute mich an und in diesem Augenblick war es geschehen: 5000 Jahre Hundeweisheit schauten mir direkt in die Seele. Es kam mir vor, als würde ich diesen Hund schon ganz lange kennen; er war der Hund, von dem ich bereits als Kind träumte. Zwar sah er ganz anders aus, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Er war nicht strahlend, jung oder fit, nicht einmal schön, aber er war es! Ganz tief in dieser gequälten Hundeseele war das Band der Treue und Liebe zu erkennen, das er schon so viele Jahre seinem Menschen hatte schenken wollen. General schaute mich immer noch an, kam dann zu meinem Knie und rieb seinen Kopf daran als Zeichen tiefster Zuneigung, da er aufgrund seiner kaputten Hüfte nicht mit dem Schwanz wedeln konnte. Von diesem Moment an wich Genny, wie ich ihn fortan liebevoll nannte, nicht mehr von meiner Seite. An meinem ersten Arbeitstag büchste er sogar von zu Hause aus und nahm die Spur meines Autos auf. Es war ein bitterkalter Tag mit Schneestürmen, aber Genny war – obwohl er große Schwierigkeiten mit dem Laufen hatte – unterwegs, um mich zu suchen. Erst nach über vier Stunden konnte ihn die Polizei aufgreifen; sechs Kilometer von zu Hause entfernt, total erschöpft und unterkühlt. Meine Mutter und meine Tochter mussten ihn fortan immer anleinen, wenn ich arbeiten war und sie das Grundstück verließen. Er hätte sonst versucht, zu mir zu gelangen.

Genny konnte nicht sehr weit laufen. Bei Spaziergängen mit meiner Mutter oder meiner Tochter Chelsea zeigte er es, wenn er keine Kraft mehr hatte. War ich mit allen Hunden unterwegs, marschierte er unermüdlich und gnadenlos gegen sich selbst. Deshalb ging ich entweder mit ihm alleine oder wir richteten es so ein, dass wir uns unterwegs beim Spaziergang trafen. Bär und Cooper waren dann bereits mit mir eine große Runde bis zum vereinbarten Treffpunkt gelaufen und gingen anschließend gemeinsam mit meiner Mutter oder Chelsea und Genny nach Hause. Dabei blieb Genny dicht an meinem Knie. Obwohl Cooper und Bär dabei waren, wollte er lieber bei mir laufen.

Im Tierheim hatte er gerne gebuddelt, bei mir tat er das nie. Dort fraß er auch gerne Abfall, Papier oder Holzspäne. Als er am ersten Abend bei mir Papier fressen wollte, bat ich ihn, das nicht zu tun. Seitdem zeigte er keinerlei Interesse mehr daran. Genny hat mein Leben komplett umgekrempelt: Schon jahrelang hatte ich vorgehabt, die Treppe mit Stufenmatten auszulegen, es aus finanziellen Gründen aber sein lassen. Gleich am ersten Tag nach Gennys Einzug lief ich los, kaufte diese Matten und machte das Treppensteigen damit für ihn einfacher. Auch mein Wohnzimmer hatte ich bereits seit geraumer Zeit vom ausgebauten Dachstuhl hinunter in meine Küchen- und Schlafzimmerebene verlegen wollen. Da Genny die Steiltreppe zum Wohnzimmer hinauf nicht laufen konnte, tauschte ich innerhalb von zwei Wochen das Kinderzimmer mit dem Wohnzimmer, strich beide Räume und stattete sie mit neuen Möbeln aus. Ich war es bisher gewohnt zu rennen, wenn meine Mutter oder meine Tochter mich riefen. Nun mussten die zwei sich bewegen, wenn sie etwas von mir wollten. Da Genny sowohl mit dem Treppensteigen und als auch beim Aufstehen große Schwierigkeiten hatte, blieb ich künftig sitzen, wo ich bzw. Genny war – egal, wer nach mir schrie!

Genny bellte nur, wenn ihm etwas nicht passte oder wenn er raus musste. Auf sein bestimmtes, tiefes »Wuff« erwartete er dann natürlich auch, dass sofort etwas passierte. Hatten wir Besuch und ich saß so, dass er nicht direkt an meiner Seite liegen konnte, forderte das »Wuff« die sofortige Umgruppierung der Sitzordnung ein. Saß ich dann endlich bei ihm, gab er Ruhe. Waren die Türen zum Garten nicht offen, signalisierte ein lautes »Wuff« meiner Mutter – sie wohnt unten und hat Gartenzugang –, dass sie nun genau zehn Sekunden Zeit hatte, ihm eine Tür aufzumachen. Schaffte sie das nicht, erledigte er sein Geschäft in ihrer Wohnung. Musste er nachts raus, turnte er – ob ich wach war oder schlief – ebenfalls zu meiner Mutter runter, die wiederum zehn Sekunden hatte, um sich Pantoffeln und Bademantel anzuziehen. Meine Mutter erkennt heute noch an, dass Genny ihre Reaktionszeit wesentlich verbessert hat.

Von Anfang an gab ich Genny ein homöopathisches Mittel für seine Knochen. Sein Zustand besserte sich sehr schnell. Die Hinterläufe wurden muskulöser, das Fell begann zu glänzen. So konnten wir unsere Spaziergänge schrittweise verlängern. Am 6. März 2003 kamen seine Betreuerinnen aus dem Tierheim zu Besuch. Genny war selig. Alle Menschen, die er liebte, waren auf einem Platz zusammen. Den ganzen Nachmittag über lag er entspannt und glücklich zwischen uns. Seine Betreuerinnen waren begeistert, wie toll sich ihr Sorgenkind entwickelt hatte. Als sie gehen wollten, weigerte Genny sich plötzlich, mit zur Treppe zu kommen, um sie zu verabschieden. Runter zur Haustür, raus in den Garten – all das tat er nur auf mehrmalige Befehle hin, obwohl er sonst jeden Schritt ohne Kommando mit mir machte. Als die Betreuerinnen zum Auto gingen, drehte er sich auf dem Absatz um, ging ins Haus und erbrach sich dort vor Aufregung.

Bär war auch diesmal wieder ziemlich irritiert, dass die Tierheim-Damen ohne Genny abreisten. Er hatte wohl gemeint, Gennys Erholungsurlaub sei beendet. Während er anfangs recht freundlich zu Genny gewesen war, hatte er nach einigen Tagen jedoch damit begonnen, ihn auch mal anzuknurren oder anzufletschen. Genny nahm das alles mit stoischer Ruhe hin. Nachdem die Damen vom Tierheim nun ohne ihn weggefahren waren, änderte Bär sein Verhalten schlagartig. Auf einmal war Genny anscheinend auch für ihn in die Familie aufgenommen worden und er entwickelte sich zu seinem großen Kumpel. Es wurde gemeinsam geschnüffelt, gefressen und geruht. Oft lagen Bär und Genny zusammen auf einer alten Rheumadecke vor der Haustür und warteten, bis ich von der Arbeit kam. Aus »Ich kann dich nicht ab!« war ohne mein Zutun ein »Ich kann nicht ohne dich!« geworden. Cooper registrierte verständnislos, dass sich die zwei Rüden so gut verstanden und sie meist links liegen ließen.

Ende März fing Genny an, immer mal wieder Galle zu erbrechen. Am 3. April 2003 wollte er nicht mehr fressen. Daraufhin ging ich mit ihm zur Tierärztin. Sie untersuchte ihn, gab ihm eine Spritze gegen die Übelkeit und nahm ihm Blut ab. Zwei Tage später waren die Blutergebnisse da. Die Werte waren wunderbar, für einen so alten Hund sogar ausgezeichnet. Da es ihm aber immer schlechter ging, wurde Genny noch geröntgt. Es war mir aufgefallen, dass er öfter hart schluckte, und ich dachte, er hätte vielleicht einen Polypen im Hals. Die Tierärztin wollte bei dieser Gelegenheit auch seine Zähne reinigen. Ich stimmte zu unter der Bedingung, dass die Zahnbehandlung nur vorgenommen wurde, wenn das Röntgenbild ohne Befund und sicher davon auszugehen war, dass Gennys Kau- und Schluckbeschwerden durch Probleme an den Zähnen verursacht wurden. Wäre er unheilbar krank, sollte er erlöst werden. Ich wollte nicht, dass er litt.

Genny lebte noch, als ich ihn von der Tierärztin abholte. Er hatte während der Narkose eine Infusion zur Stärkung bekommen. Sein Röntgenbild zeigte, dass seine Wirbelsäule altersbedingt verhärtet war und die Halswirbel dadurch die Speiseröhre zusammendrückten. Ich sollte versuchen, Genny in Zukunft mit Brei zu ernähren. Alles hätte ich getan, um ihn am Leben zu erhalten, aber am darauf folgenden Tag konnte er nicht einmal mehr trinken. Deshalb bekam er erneut eine Infusion. Aufgrund starker Zahnschmerzen – die Tierärztin hatte ihm die Zähne zu intensiv gereinigt – hätte Genny außerdem Antibiotika gebraucht, aber er ließ es nicht zu, dass wir sein Maul öffneten, um ihm das Mittel einzuflößen. Es ging ihm sehr, sehr schlecht. Ich war hin- und hergerissen und wusste nicht, ob ich ihn nur noch quälte oder ob er wirklich noch eine Chance hatte. Jeden Abend telefonierte ich mit seiner Betreuerin im Tierheim. Wir hofften zusammen, wir bangten zusammen, wir weinten zusammen. Bär lag Tag und Nacht an Gennys Seite. Nur zum Spaziergang, den Genny nicht mehr mitmachen konnte, stand er auf.

Am Donnerstag, dem 10. April 2003, erhob sich Genny abends und wollte mit spazieren gehen. Er machte offensichtlich eine Metamorphose durch. Sein Fell wurde seidig, sein Blick klar; er lief aufrecht, ohne zu humpeln, aber er weigerte sich nach wie vor zu fressen oder zu trinken. Ich wusste, was das bedeutete. Natürlich ging ich wieder mit ihm alleine. Auf diesem Spaziergang zeigte Genny mir, was für ein Hund er einmal gewesen war. Neben mir war ein beinahe junger Rüde zu sehen, mit stolzem Gang direkt an meinem Knie, die Ohren gespitzt und aufmerksam. Ich sprach mit ihm die ganze Zeit, lobte ihn und unterdrückte meine Tränen. Das war unsere Abschiedsrunde. Zurück zu Hause, legte Genny sich ins Wohnzimmer auf seinen Lieblingsplatz. Von da an verfiel er. Zusehends wurde er schwächer und abwesender. Unsere Perserdame Dixie, die Genny vom ersten Tag an heiß und innig geliebt hatte, kam, schleckte ihm die Ohren aus und stupste mit ihrer breiten Nase sein Maul an, aber Genny reagierte nicht mehr. Ich hielt ihn bis morgens um vier Uhr in den Armen, dann wollte er in den Garten und schob mich weg. In dieser Nacht ließen wir ihn raus, obwohl wir ihm normalerweise wegen der Kälte nicht erlaubten, nachts im Garten zu liegen.

Am nächsten Tag war es so weit. Genny wollte nicht aufstehen und auch nicht angefasst werden, aber er kam sofort zu mir, als ich ihm sagte: »Genny, es wird Zeit.« Er lief an meiner Seite zum Auto, schleckte mir beim Einsteigen ausgiebig die Hand und schaute mir noch ein allerletztes Mal tief in die Seele. Genny hat die meiste Zeit seines Lebens in Tierheimen verbracht; niemand hatte diesen klugen, folgsamen, liebenswerten und weisen Hund gewollt. Ich durfte nur 68 Tage mit ihm verbringen, 68 erfüllte, wunderbare Tage. Bei der Bezahlung der Endrechnung sagte mir die Tierärztin, es sei ihr schon bei der Untersuchung klar gewesen, dass der Hund nicht überleben würde. Sie hätte mir aber noch Zeit zum Verabschieden geben wollen. Durch diese Entscheidung musste Genny sieben Tage unnötig leiden. Es gibt leider immer wieder Tierärzte, denen das Geld wichtiger ist als das Tier.

Anders – aber trotzdem glücklich

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