Читать книгу Das Erwachen der Raben - Anke Schmidt - Страница 10

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Die Morgenpost fiel durch den Türschlitz und Johanna, die gerade ihren Rucksack festzurrte, beobachtete, wie ein schwarz umrandeter Umschlag auf den Boden fiel. Keine Zeit für schlechte Nachrichten, dachte sie, rührte sich aber nicht von der Stelle, denn sie kannte die Handschrift, diese gestochen scharfen Buchstaben. Sie starrte auf ihren Mädchennamen, den sie seit Jahren nicht mehr trug. Was bedeutete das? Als sie den Brief aufhob, schmeckte sie das Frühstück, das aus einem Schinkenbrot und Orangensaft bestanden hatte. Sie schluckte, doch die Übelkeit kroch weiter in ihr hoch. Rasch ließ sie den Brief in ihrer Jackentasche verschwinden und gab dem Brechreiz nach. Im Bad würgte und spuckte sie und murmelte ein paar Flüche. Dann drückte sie den Spülknopf und setzte sich auf den Toilettendeckel.

Johanna rieb sich die Schläfen. Sie war eine Frau mit Lebenserfahrung, Intelligenz und einer Familie, für die sie die Verantwortung trug. Sie hatte eine Entscheidung zu treffen, sie allein. Was sollte sie tun? Vielleicht wäre ein Baby ein Neuanfang. Noch nie hatte Johanna ein Kind geboren, noch nie hatte sie den Wunsch dazu verspürt, noch nicht einmal Gedanken hatte sie daran verschwendet. Und nun, regte sich da eine Sehnsucht in ihr?

Johanna drehte den Wasserhahn auf, trank den bitteren Geschmack hinunter und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Du betrügst dich selbst, Johanna. Du hast zwei Stiefkinder, einen kranken Mann und einen Job. Sara würde dir nie verzeihen, willst du Sara verlieren? Und du warst ein schreckliches Kind. Keine guten Voraussetzungen.

Johanna holte den Brief hervor. War es eine Botschaft, eine Erinnerung oder warum hatte Katja den Mädchennamen mit angeführt? Das hatte sie noch nie getan. Johanna riss den Umschlag auf.

Ihre Augen weiteten sich, das konnte doch nicht wahr sein, aber es war schwarz auf weiß geschrieben. Katja lebte nicht mehr. Katja, die einmal im Jahr Johanna in Berlin besucht hatte. Ein Zwischenstopp im Bahnhofscafé auf dem Weg nach Potsdam. Die üblichen Fragen, wie geht’s, was machen die Kinder und die Ehemänner, Tschüss, alles Gute, bis nächstes Jahr. Aber niemals wurde über die gemeinsame Verstrickung, die gemeinsame Schuld gesprochen. Genau dieses Schweigen war es gewesen, das Johanna an das jährliche Ritual gebunden hatte, gewürzt mit einer Prise Mitleid.

Nun las Johanna das Bibelzitat auf der Karte und ein Gefühl von Wut stieg in ihr auf. Unverkennbar musste Katja es vor ihrem Tod selbst ausgewählt haben. Der Satz war dumm, aber eindeutig: „Der Lohn der Sünde ist der Tod, die Gabe Gottes aber ist das ewige Leben in Christus Jesus, unserem Herrn.“

Katja war eine Frau gewesen, deren Erwachsenleben nach Plan verlaufen war, nach den von ihr vorgesehenen Zeiten, Ereignissen und Orten. Eine Frau, die sich nie entspannt zurücklehnte, nie ihr Gegenüber aus den Augen ließ. Eine Stütze der Kirchengemeinde. Eine Gotteskriecherin. Für Johanna war es stets ein Rätsel geblieben, was Katja von ihr gewollt hatte, verständlicher wäre es gewesen, wenn sie jeden Kontakt gemieden hätte. Nur einmal, und sie war sich nicht sicher, ob sie sich nicht getäuscht hatte, hatte sie hinter die Fassade geblickt.

Katja hatte bereits im Café gewartet und hoch zur Uhr geschaut, die Stirn in Falten gelegt. Als ihr Blick abwärts über die Fensterscheibe glitt, musterte sie ihr Spiegelbild. Johanna wollte sich durch ein Hallo bemerkbar machen, doch sie senkte die Hand wieder. Das war das Gesicht einer Fremden und sie hatte das Gefühl bei einer intimen Begegnung zu stören. Einer Begegnung im kalten Zorn.

Es waren einmal sieben Mädchen gewesen, damals, als Johanna in den Sommerferien in die Verbannung zum Großvater aufs Land, nach Eichenstövel, geschickt worden war. Johanna verzog wehmütig die Lippen; der alte Mann, der nichts mit der Enkelin anfangen konnte, sich aber bemühte, der sanfte, alte Mann mit seinen rissigen Händen, seinen traurigen, langsamen Bewegungen, er war der Letzte auf dem Hof seiner Väter.

Jetzt war wieder eine von ihnen gestorben, mit zweiundvierzig Jahren, das war eindeutig zu früh, genau wie bei Karola, Katjas Zwillingsschwester.

Sechs waren Zeuginnen gewesen und mit den Jahren wandelten sich die Bilder und Johanna fragte sich, sind das noch die Originale? Wie dieses Bild, auf dem sie Katja auf den Boden drückte, ihr das Knie auf die Schulter presste und drohte: „Wenn du ein Sterbenswörtchen erzählst, passiert dir das Gleiche wie deiner Schwester.“ Johanna hatte sich nicht anders zu helfen gewusst, war überrascht, schockiert gewesen, als Katja hinter dem Gebüsch hervorgesprungen war und sie angeschrien hatte. Sie war von einer Angst gepackt worden; der Angst, ihre Mutter würde sie für immer weggeben, wenn sie wüsste, was ihre Tochter getan hatte. In ihren Ohren hallte Katjas schrille Stimme: „Mörderin!“

Es war der Sommer, in dem sie zwölf Jahre alt geworden war und in dem sie ihren ersten Kuss erhalten hatte. Es war der Sommer, in dem sie ihren Großvater zum letzten Mal sehen sollte. Aber nie hatten sie und Katja über den Sommer gesprochen, in dem der Zwilling umkam, starb, weil sie sich einen Streich erlaubt hatten. Nein, stattdessen schickte Katja jedes Jahr eine Weihnachtskarte und begrüßte sie jedes Jahr im Café. Doch jetzt war es damit vorbei.

Johanna sah auf die Armbanduhr, sie musste los zum Sender. Da sie es eilig hatte, nahm sie ein Taxi. Während der Fahrt konzentrierte sich Johanna auf Daten, Argumente, Fragen, die sie heute mit ihren Studiogästen besprechen wollte, trotzdem schweiften ihre Gedanken immer wieder ab.

Als sie durch die Tür des Funkhauses schritt, kam ihr Ulf, ihr Assistent, entgegen. Sie konnte seine Nervosität an seinem Gesicht ablesen. Die Gäste waren bereits im Studio. Johanna gab allen die Hand, entschuldigte sich für ihre Verspätung mit einem bissigen Kommentar über Berlins Taxifahrer, grüßte Frank, den Tontechniker, durch die Scheibe mit einem Nicken, dankte der Pädagogin nochmals für den Literaturtipp und der Ärztin für ihr kurzfristiges Einspringen und erklärte den Ablauf der Sendung.

Sie setzten sich und stülpten sich Kopfhörer über. Wie üblich strahlte Johanna Ruhe und Kompetenz aus, sie war ein Profi. Sie fand noch ein paar aufmunternde Worte für den Vertreter der Krankenkasse und legte Karteikärtchen vor sich ab. Plötzlich spürte sie den Impuls hinauszurennen, es war nur eine Sekunde, dann leuchtete die rote Lampe auf und Johanna begrüßte die Zuhörerinnen und Zuhörer zur Diskussionsrunde. Alle Gedanken waren beim Thema, bei den Gästen. Sie war in ihrem Element. Als nach einer Stunde die grüne Lampe aufleuchtete, verabschiedete sie sich und bevor Ulf Einspruch erheben konnte, sagte sie etwas von Kranksein und ging, sie wollte nach Hause zu Sammy. Doch Ulf holte sie auf dem Flur ein.

„Ist es vorbei?“, fragte er, wobei er sich über den Nacken strich, ein Zeichen von Anspannung. Johanna musste überlegen, bevor sie wusste, was er meinte.

„Dir brauche ich doch nicht zu erzählen, wie viel ich zu tun habe. Ich würde es dir sagen, wenn es so wäre“, sagte sie und schaute zum Fahrstuhl. Eine Aussprache über den Stand der Beziehung, wer sich von wem missverstanden, vernachlässigt oder sonst was fühlte, konnte sie jetzt nicht gebrauchen. Auf diesem Feld wies sie Defizite auf. „Außerdem dachte ich, du hättest genug mit der Köchin aus der Kantine zu tun.“

Erstaunlich, wie sehr ihm das Essen dort auf einmal geschmeckt hatte und was er sich alles hatte einfallen lassen, damit die Angebetete einer Verabredung zustimmte. Sogar die Peinlichkeit, ein Gedicht vorzutragen, hatte er nicht ausgelassen, was die Holde zunächst nicht beeindruckt hatte. Johanna hatte nicht gewusst, wen sie mehr bedauern sollte, Ulf, der tapfer seinen Erstling vortrug, oder die Köchin, deren Kolleginnen nur mit Mühe ein Gelächter unterdrücken konnten. Männer, ein seltsam Völklein.

Ulf tippte Johanna an die Hand, umschloss vorsichtig ihre Finger und lächelte dieses Lausbubenlächeln. Sie liebte es. Sie liebte es, wie seine Augen strahlten, wenn er sich freute, und seine Segelohren frech mitzugrinsen schienen. Würde die kleine Kaulquappe in ihrem Bauch es von ihm, dem Erzeuger, erben? Johanna wünschte sich einen Raum herbei, indem sie Ulf Stück für Stück ausziehen, ihn mit Küssen bedecken konnte. Sex tat ihr immer gut und die Schwangerschaft schien das reinste Aphrodisiakum zu sein. Gab es hier denn keine Besenkammer oder wie wäre es mit dem Fahrstuhl? Ruhig Blut Johanna, wenn das mit deiner Libido so weiter geht, ist bald nichts mehr vor dir sicher.

„Ich mag die Köchin, aber ich mag auch meine Chefin.“ Ulf trat näher an sie ran. Sie roch sein Rasierwasser, Sandelholz, Zimt, Wacholder. „Ich mag dich sogar sehr, sehr gern.“ Das Zittern in seiner Stimme machte ihr bewusst, dass er fürchtete, sie zu verlieren. Treffer. Mitten in ihr Herz. Johanna gab der Versuchung nach und führte ihn hinauf zur Dachterrasse.

Zurück fuhr Johanna mit der U-Bahn. Noch einmal holte sie den Brief hervor und versuchte, sich darüber klar zu werden, ob sie Trauer empfand, schließlich war ein Mensch gestorben, den sie zwar nicht mochte, den sie aber seit Kindheitstagen kannte. Katjas Botschaft war klar, aber sollte sie auf eine Beerdigung gehen, auf der sie wahrscheinlich die Frauen traf, die sie seit dreißig Jahren nicht mehr gesehen hatte? Nur Katja hatte nie locker gelassen, hatte zu jeder aus der Rabenclique den Kontakt gehalten. Sicherlich hatte sie keiner der früheren Freundinnen von einer Krankheit erzählt. Johanna biss sich auf die Unterlippe, vielleicht war es Selbstmord gewesen. Müsste Katja dann in der Hölle schmoren oder schwebte ihrem Gott eine andere Folter vor? Quatsch, sie würde nie ihr Leben beenden. Verdammt, Katja, was ging in deinem Kopf vor?

Das monotone Rollen der U-Bahn verleitete Johanna dazu, die Augen zu schließen. In letzter Zeit fühlte sie sich oftmals wie unter Betäubung. Hoffentlich kündigte sich keine Erkältung an.

Der erste Sommer beim Großvater war ihre Trotzphase gewesen. Sie fühlte sich abgeschoben, abgestraft, denn ihre Mutter hatte sie, nachdem sie sich standhaft geweigert hatte, der Generalswitwe von gegenüber einen Krankenbesuch abzustatten, ins Auto gepackt und sie in diesem Dorf zurückgelassen, wo sie niemanden kannte. Dabei mochte sie doch nur nicht diese Villa mit den ausgestopften Tieren und dem Geruch nach alten Möbeln. Doch ihre Mutter hatte gemeint, genug von ihrer ewigen Bockigkeit zu haben. Johanna hatte vom ersten Augenblick an nur zurück nach Frankfurt gewollt, musste aber stattdessen irgendwie die Zeit im Dorf totschlagen. Bei einem Großvater, den sie nie zuvor gesehen hatte. Also fütterte sie die Ziege Sieglinde und den grauen Friedrich, das Kutschpferd, mit Leckereien. Ansonsten gab es nur noch Hühner auf dem Hof. Oder sie stöberte durch Haus und Scheune. Meistens lag sie im Heu und träumte vor sich hin, sah sich als Prinzessin in einem Ballkleid auf einem Apfelschimmel reiten oder als Zauberin böse Menschen in Warzenschweine verwandeln.

Nach einer Woche Lustlosigkeit schickte der Großvater sie Tabak und Schokolade einkaufen. In dem Lädchen war die Verkäuferin in ein Gespräch vertieft und so sah sich Johanna um, beobachtete ein Mädchen, das mit dem Rücken zu ihr vor einem Regal stand. Es hatte einen dicken Zopf, der geflochten war und ihm bis zum Po hing. Das Haar schimmerte in Gold, bestimmt würde es sich wie Seide anfühlen. Ein Papiermobile am Schaufenster reflektierte das Sonnenlicht, sodass der Zopf grüne und rote Farbpunkte aufwies. Johanna streckte die Hand aus, strich über einen der Punkte.

Sofort bereute sie es, denn das Mädchen wirbelte herum und fauchte: „Fass mich nicht an, Froschgesicht.“

Johanna wich zurück. Die Verkäuferin hinter der Ladentheke schnalzte mit der Zunge. Woraufhin das Mädchen mit den Schultern zuckte und hinausschritt. Das war eine Prinzessin, dachte Johanna, nicht du, du bist eher, was hatte die Schöne gesagt, ein Frosch. Einen Augenblick lang stand sie da mit gesenktem Kopf, doch da fragte die Verkäuferin, was Johanna wolle. Schnell wiederholte sie, was der Großvater ihr aufgetragen hatte. Die Frau, die zuvor mit der Verkäuferin geplaudert hatte, kniff ihr in die Backe und erkundigte sich nach der Mutter. Johanna merkte, wie ihr Körper ganz steif wurde. Ohne eine Antwort zu geben, legte sie das Geld auf die Theke und stürmte mit den Einkäufen hinaus.

Auf dem Heimweg spürte sie jemanden hinter sich und drehte sich um.

„Ist was?“, sagte die Schöne mit gerümpfter Nase. Johanna wollte keinen Streit und ging weiter. „Wenn wir dahinten auf den Feldweg sind, reiß ich dir das Gestrüpp von deinem Kopf.“

Nun blieb Johanna stehen. „Ich bin größer als du.“ Egal, wo Johanna war, sie war immer das größte Kind, aber dies schien nicht die gehoffte Wirkung auf die Schöne zu haben.

„So ein gerupftes Huhn werden nicht einmal deine Eltern wiedererkennen.“

„Ich habe keine Eltern und brauche auch keine.“ Johanna wusste nicht, warum sie so antwortete. Mit solch einer Gans sollte sie nicht reden. Erst später erfuhr Johanna, dass die Feindschaft zwischen ihr und der Schönen schon viel früher gesät worden war. Eine Familiengeschichte war der Grund dafür gewesen, warum ihre Mutter das Dorf hatte verlassen müssen. Die Schöne und Johanna waren durch Blutsbande miteinander verbunden. Nun standen sich die beiden gegenüber und es war nicht klar, was als Nächstes geschehen würde.

„Claudia“, rief ein Mädchen von den Stufen des Friseurladens, „lass die Bohnenstange in Ruhe. Sie kann nichts dafür.“

„Dein Glückstag“, schnaubte die Schöne. Sie warf einen Blick auf das Mädchen, lächelte es an und schritt davon. So ein Lächeln hätte Johanna gern auch mal bekommen. Aber die Mutter freute sich nie, sie zu sehen.

„Du bist die Johanna vom Künkelbauer, du hast Eltern“, sagte das Mädchen und schob ihre Sonnenbrille zurück auf die Nase.

Ja, sie hatte gelogen und war ertappt worden, doch was ging das diese Brillenschlange an.

„Wenn man keine Eltern braucht, können sie genauso gut tot sein“, sagte Johanna.

Die Brillenschlange nickte. „Ich bin Astrid. Wir können Freundinnen werden.“

Johanna wollte keine Freunde in diesem blöden Dorf haben, aber andererseits, wenn die Schöne auf diese Astrid hörte, war es vielleicht gut, sie nicht zu verärgern. „Mal sehen“, sagte sie deshalb vorsichtig, „könnte klappen, aber ich weiß nicht, ob ich viel mit anderen reden will.“

„Das ist in Ordnung. Soll ich dir was Tolles zeigen?“

Johanna rieb sich die Nase, wirklich Lust hatte sie nicht, aber wenn es hier was Tolles zu sehen gab, dann könnte sie ausnahmsweise mitgehen.

Sie folgte Astrid über die Dorfstraße an der Sparkasse und der Bushaltestelle mit der wuchtigen Kastanie vorbei in eine Seitenstraße, bis sie in eine mit Unkraut überwucherte Einfahrt abbog und vor einem Abbruchhaus stehen blieb. Johanna schaute sich um, toll war hier nichts, doch da zeigte Astrid mit dem Finger auf den Boden. An der Mauer hockte ein Spatz.

„Sein Flügel ist gebrochen“, erklärte Astrid, „kannst den ruhig anfassen, der fliegt nicht weg.“

Johanna ging vor dem Winzling in die Hocke. Er tat ihr leid. Behutsam nahm sie ihn in die Hand. Ein Tierarzt müsste dem Kleinen helfen können und sie würde ihn pflegen bis er wieder fliegen könnte.

Astrid trat neben sie, nahm die Sonnenbrille ab und musterte Johanna, die sich auf einmal selbst klein vorkam. „Der Vogel wird nicht wieder.“ Es war kein Bedauern in der Stimme. Sie tippte dem Spatz auf den Kopf und nahm ihn Johanna ab. Sie besah sich ihn von mehreren Seiten und plötzlich holte sie mit dem Arm aus und warf ihn mit voller Wucht gegen die Wand.

Johanna glaubte nicht, was sie sah, starrte mit offenem Mund den toten Vogel an.

Astrid verzog die Mundwinkel nach unten. „Ich habe dir gesagt, der schafft es nicht mehr.“ Sie blickte Johanna an, die noch immer starrte. „Ich habe dir nichts vorher gesagt, weil Leute aus der Stadt zimperlich sind, aber ich zeige dir was anderes Tolles.“

Johanna wollte nur noch nach Hause, doch Astrid packte sie an den Arm. „Stell dich nicht so an. Ich musste es tun. Er hatte Schmerzen.“

Johanna nickte, vielleicht hatte Astrid Recht, bestimmt hatte sie Recht, warum hätte sie es sonst tun sollen? Aber bei Astrid, das lernte Johanna schnell, konnte man nie sicher sein, warum sie etwas tat. Das war ihre erste Lektion gewesen. Damals vor dreißig Jahren.

Fast hätte Johanna ihre Haltestelle verpasst, war jedoch im letzten Moment aufgesprungen und hinausgeeilt. Der folgende Fußmarsch lockerte ihre Muskeln und sie fühlte sich schon besser, als sie zu Hause ankam. Johanna steckte den Hausschlüssel in die Tür. Nadja, ihre Lieblingshilfe, lugte hinter der Küchentür hervor.

„So früh habe ich Sie gar nicht erwartet“, ertönte es fröhlich.

Johanna lächelte zurück. Nadjas Anblick war immer eine Freude. Ihr Struwwelkopf verschwand wieder hinter der Tür und sie begann leise, bei der Arbeit zu pfeifen. Johanna lehnte sich an die Garderobe. Die Schuhe auszuziehen, verursachte ihr auf einmal Schwindel und sie verspürte den Wunsch, allein zu sein, allein mit Sammy. Vielleicht brütete sie tatsächlich etwas aus, in der Stadt schwirrten überall Bazillen herum, jeder Nieser ein Treffer. Nein, das tat sie nicht, sie war einfach nur schwanger.

„Nadja, wenn es Ihnen nichts ausmacht, können Sie heute ein paar Überstunden abfeiern.“

Aus der Küche kam ein „Super!“ Johanna schmunzelte, diese Nadja, eine Frohnatur, von der sie sich ein Stück abschneiden konnte. Nadja kam in den Flur, schlüpfte in ihre Jacke.

„Das dumme Ding macht nur Probleme“, sagte sie, während sie vergeblich am Reißverschluss fingerte.

Johanna zwinkerte ihr zu, zog den Reißverschluss mit einem Ratsch hoch. Das veranlasste Nadja zu einem Jauchzer und sie umarmte Johanna. Für eine Sekunde genoss Johanna die Wärme und den Duft von Vanille auf Nadjas Haut.

Pudding in den Geschmacksrichtungen Vanille, Schokolade, Erdbeere und Karamell. Pudding stand für das Gefühl, bei Freunden zu sein, willkommen zu sein. Auch diese Art von Gefühlen war mit dem Dorf verbunden.

Bei ihrem ersten Besuch war Johanna durchs Dorf geschlendert und hatte Quietschmusik aus einem der Häuser gehört. Sie kam nicht vom Plattenspieler oder aus dem Radio, es war ein Instrument, sie vermutete eine Geige. Dem wollte sie nachgehen und näherte sich einem der offen stehenden Fenster.

Die Fensterbank war niedrig und sie konnte problemlos die Unterarme aufstützen und hineinspähen. Da saß ein sommersprossiges Mädchen auf einem Stuhl und zwischen ihren Knien war eine riesige Geige eingeklemmt. Johanna hörte bis zum letzten Ton zu.

„Gefällt es dir?“, fragte das Mädchen und eine Zahnlücke kam zum Vorschein.

Es legte den Bogen auf den Tisch und stellte das Instrument auf der Seite ab, kam zu Johanna, neigte den Kopf, bis er fast die Schulter berührte und verharrte wie ein Standbild.

„Was ist das für ein Instrument?“, stotterte Johanna angesichts dieses Verhaltens. Sogleich wurde sie rot, wie hörte sich das denn an, sie war doch keine Bekloppte.

„Wenn ich groß bin, werde ich Weltbestencellistin. Und du?“

Mit was sollte sie Weltbeste werden? Sie zuckte nur mit den Achseln, jetzt würde das Cellomädchen bestimmt nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen.

Es sagte auch sogleich, es müsse weiterüben. Da öffnete sich die Zimmertür.

„Beatrice“, brummte ein Zweimetermann im Overall, „du hockst mir nicht den ganzen Tag in der Stube, ab nach draußen.“ Schwupp ging die Tür wieder zu.

Das Mädchen namens Beatrice verdrehte die Augen. „Wenn meine Mutter hier wäre, könnte ich weiterspielen.“ Sie runzelte die Stirn und schaute rüber zu ihrem Cello, kletterte dann jedoch aus dem Fenster. „Meine Mutter“, sagte sie, „hat mir versprochen, wenn ich gut bin, bekomme ich Stunden bei einer Musiklehrerin und nicht, wie jetzt, bei Fräulein Otto.“

Johanna konnte sich nicht vorstellen, was daran toll sein sollte, drinnen sitzen und den ganzen Tag üben zu müssen. Auf einmal schien Beatrice durch sie hindurchzublicken. Sie setzte sich im Schneidersitz auf den Boden und begann langsam im Takt mit dem Oberkörper zu wippen. Johanna wusste nicht, was sie tun sollte, warten oder gehen.

Vielleicht war diese Beatrice nicht richtig im Kopf. Johanna erinnerte sich, wie ihre Mutter gesagt hatte, die Leute aus dem Dorf seien alle Idioten. Außerdem was für ein Name. Klang nach Kneifzange. Wenn Eltern ihr Kind liebten, würden sie es Isabella oder Arabella, aber sicherlich nicht Beatrice nennen. Nein, sie würde nicht Beatrice genannt werden wollen, aber ihren Namen mochte sie auch nicht. Sie wollte nicht wie eine Tote heißen, das war unheimlich. Schuld daran war ihr Vater, denn seine Schwester, die nur zwei Jahre alt geworden war, war eine Johanna gewesen und wenn Johanna ein Junge geworden wäre, dann hätte sie den Namen Franz Josef, von ihrem Großonkel, bekommen. Glücklicherweise war sie ein Mädchen.

Wieso jemand Astrid hieß, grübelte Johanna weiter, verstand sie auch nicht. Früher in der roten Kindergartengruppe gab es eine Astrid, die immer mit Arschtritt gehänselt worden war. Die Brillenschlange würde niemand Arschtritt rufen, das würde keiner wagen, da war sich Johanna sicher. In der Gruppe, fiel ihr ein, hatte es auch eine Mercedes gegeben, über die keiner gelacht hatte, was Johanna verwundert hatte, bis sie erfuhr, dass das Mädchen nicht nach einem Auto benannt worden war, sondern der Name schon vor dem Auto existierte. Gut, dass sie nicht gelacht hatte, dann hätte sie als Dumme dagestanden.

Plötzlich wurde sie durch ein Poltern aus ihren Gedanken gerissen. Da stand der Zweimetermann und blickte mit zusammengeschobenen Augenbrauen zu ihnen hinüber. Sofort zog Beatrice sie mit sich: „Lass uns zu meiner Freundin Maria gehen.“

Nach kurzer Zeit war bei Maria der Teufel los. Es gab zwei Sofas, dazwischen einen Eichentisch und auf denen hüpften nun Johanna und Maria unter Kriegsgeheul hin und her. Die Sofas besaßen eine gute Federung und die Kissen waren ideale Wurfgeschosse. Beatrice wollte nicht mitmachen, aber sie sammelte die Kissen wieder ein und sorgte somit für Nachschub. Maria war flink wie ein Wiesel und konnte kräftige Schläge mit dem Kissen austeilen.

„He, du, magst du Schokoladenpudding?“, schrie sie.

Johanna musste erst einmal einen Lachanfall überstehen, bevor sie antworten konnte.

„Regenwürmer, die esse ich lieber. Und du?“

Maria kicherte. „Regenwürmer“, sagte sie, „mag ich, aber nur in Schokoladenpudding“, worauf sie mit einem Kissen umgehauen wurde, alle Viere von sich streckte und losprustete, „und Spinnen am liebsten in Vanillepudding.“

Johanna sprang auf den Boden und rieb sich über den Bauch, „lecker, und Kröten in Erdbeerpudding.“

Das war das Startzeichen für Maria und die drei machten sich ans Werk. Vanillepudding wurde gekocht.

Ein paar Minuten später kamen Zwillinge in die Küche. Es war unmöglich sie zu unterscheiden. Das gleiche Haar, die gleiche Kleidung. Johanna versuchte trotzdem, einen Punkt in ihren Gesichtern auszumachen, an dem sie einen Unterschied fand. Ein Zwilling, das war eine feine Sache. Gern hätte Johanna auch einen gehabt. Die Zwillinge tuschelten miteinander, neckten sich und machten sich einen Spaß daraus, Johanna zu fragen, wer Katja und wer Karola war. Ein lustiges Paar.

Kaum war der Pudding in die Schüssel geschüttet und in feierlicher Prozession ins Wohnzimmer getragen worden, tauchte Claudia auf. Johanna erwartete Stunk, doch Claudia benahm sich als wäre Johanna Luft, damit war Johanna einverstanden.

Doch als sie draußen Himmel und Hölle spielten, flüsterte Claudia ihr zu: „Niemand will dich Vogelscheuche hier haben.“

Claudia hatte nie ihre Meinung geändert, und Johanna war sich sicher, dass dies auch in hundert Jahren nicht geschehen würde.

Johanna ging hinaus auf die Terrasse. Sie legte ihrem Mann zur Begrüßung die Arme um die Taille und küsste ihn auf den Hals. Sammys Körper beruhigte sie immer, ließ sie zur Ruhe kommen. Er schaute in den Garten, das konnte er stundenlang. Die Vögel, das Rascheln der Blätter, das Eichhörnchen, das Summen der Bienen, die Farben der Blumen konnten seine Aufmerksamkeit erheischen. Er schien zufrieden, egal, ob sie da war oder nicht. Glücklicher Sammy. Verfluchter Tauchunfall. Er konnte sich seitdem nur noch eingeschränkt bewegen und Gesichter schienen für ihn keine Bedeutung zu haben. Er lebte in seiner Welt. Dazu gehörte, dass sie das Esszimmer zu seinem Zimmer umgebaut hatte, da es so für alle leichter war. Seufzend richtete sie sich auf, sie würde das Mittagessen kochen müssen. Die Kinder würden bald aus der Schule kommen.

Johanna kramte in dem Wandschrank nach Puddingpulver, fand jedoch keins. Also sollte es wenigstens Kartoffelpüree mit Spinat und Fischstäbchen geben, dazu Spiegeleier. Ihr Leibgericht als Kind. Aus dem Keller holte sie einen Eimer Kartoffeln und begann zu schälen. Es war befriedigend zu sehen, wie leicht das Schälmesser über die Kartoffeln glitt und ein Stück nach dem anderen wegschnippte. David konnte Berge an Essen verputzen. Johanna verstand nicht, wo er das alles ließ, er war rank und schlank. Manchmal bestellte er sich noch spät abends eine Pizza. Vor ihm war kein Vorrat im Haus sicher und in seinem Zimmer stapelten sich leere Chipstüten, Schokoladenpapier und anderes Zeug. Sara dagegen war die Disziplin in Person. Für ihren Körper kamen nur ausgewählte Zutaten auf den Teller. Alles war dem Ziel einer Ballettkarriere untergeordnet. Johanna musste schmunzeln, Sara wusste genau, was sie wollte.

Sie sah Sara noch als kleines Mädchen vor sich, wie sie ihren Bruder an der Hand gehalten hatte. Sara, so ernst mit ihren großen Augen und den aufeinander gepressten Lippen, wie sie Johanna kommen sah, die Frau, die ihr Vater ein paar Mal mit nach Hause gebracht hatte. David, der vor sich hin träumte und Johanna erst bemerkte, als seine Schwester ihn anschubste. Sammy hatte angerufen, Johanna gebeten, seine Kinder vom Kindergarten abzuholen, da er es nicht mehr rechtzeitig aus dem Stau schaffen würde. Er wollte nicht, dass die Kinder auf ihn warten mussten, wie damals bei ihrer Mutter, die nie ankam, weil ein angetrunkener Autofahrer ihr die Vorfahrt genommen hatte. Das waren feste Bilder in Johannas Kopf.

Auch an Saras ersten Schultag erinnerte sich Johanna. Der orangefarbene Tornister, die grüne Zuckertüte, das Karokleidchen und Saras Schwanken zwischen Freude und Furcht. Sammy hatte gemeint, David solle auch eine Tüte bekommen, damit er nicht leer ausgehe, doch Johanna fand, das sei keine gute Idee. Der liebe Sammy, immer darauf bedacht jeden zu umsorgen. Nein, das war Saras großer Tag. Sie sollte im Mittelpunkt stehen und sicherlich würde sie ihrem Bruder auch von ihren Süßigkeiten abgeben. David würde seinen großen Tag im nächsten Schuljahr haben. Dann die Fahrt mit dem Auto. Sara schwieg. Sammy versuchte, sie mit Scherzen aufzumuntern. Und als sie ausstiegen, auf diesem Parkplatz standen, nahm sie Sammys und Johannas Hand. Sie blickte hoch zu Johanna und sagte: „Mama, du kommst doch mit?“

Für Johanna war es in Ordnung gewesen, dass die Kinder sie bisher mit ihrem Vornamen angeredet hatten. Die Kinder waren ein Teil von Sammy und somit hatte sie die Kinder als einen Teil ihres Lebens akzeptiert. Ohne es sofort zu bemerken, hatte sie sich in die Kinder verliebt und da vor der Schule hatte Sara sie zum ersten Mal Mama genannt.

Dagegen hielt Johanna es für unwahrscheinlich, dass ihre Eltern sie liebten. Das war keine große Erkenntnis, kein großer Schmerz. Es hatte Kämpfe gegeben, aber die waren lange her. Sie waren ausgefochten, die Positionen klar.

Am leichtesten war es mit ihrem Vater gewesen, der selten in Erscheinung trat. Er hatte seine Arbeit als Chefredakteur und er hatte zu Hause sein Arbeitszimmer, in das er sich nach dem Essen zurückzog, um ein Buch zu lesen und einen Rotwein zu genießen. Bei Tisch, dort wo sie ihn am häufigsten sah, durfte nicht geredet werden.

Ein einziges Mal hatte er seine Tochter in sein Reich gebeten. Johanna wollte die Schule verlassen und eine Ausbildung als Goldschmiedin beginnen. Endlich würde sie weg können, ihr eigenes Leben genießen in einer kleinen Wohnung. So ihre Hoffnungen. Sie hatte heimlich Bewerbungen verschickt, doch dann hatte ihre Mutter es herausgefunden und gepetzt.

Der Vater redete, sie hörte zu. Seine Tochter würde Abitur machen und studieren. Was, das könnte sie selbst entscheiden. Ende des Gesprächs. Er verlangte nicht viel von seiner Familie, nur ein vorzeigbares Bild von Ehefrau und Tochter. Ein Bild, das seiner Position und seinem Selbstverständnis entsprach. Widerspruch duldete er nicht und war ihn auch nicht gewohnt. Also war ihr Fluchtversuch gescheitert, ihr Mut hatte nicht ausgereicht.

Ihr Vater war ein schöner Mann, ein kluger Mann, auf den sie als Kind stolz gewesen war. Sie erinnerte sich immer gern daran, wie sie ihn gebeten hatte, zum Elternsprechabend zu gehen. Überraschenderweise tat er ihr den Gefallen. Ihr schöner Vater in dem gestärkten Hemd und dem Maßanzug, als wäre er einem Katalog entsprungen, ging zu dieser schrecklichen Lehrerin, die Johanna das Leben schwer machte, sie an der Tafel vorführte, sie mit ihrem Blick hypnotisierte. Die Rechnung ging auf. Seit diesem Abend hatte die Lehrerin sie nicht mehr malträtiert, sogar Nachsicht gezeigt, wenn sie eine Erklärung nicht verstand. Als Kind hatte Johanna schnell begriffen, dass Frauen sich in der Nähe ihres Vaters auffällig benahmen. Ihre Stimmen wurden höher oder weicher, sie zupften an Haar und Kleidung herum oder hingen an seinen Lippen und ständig lächelten sie. Rudi, ein Nachbarsjunge, den sie nur doof fand, pflegte für solche Fälle immer die flache Hand auf seine Faust zu klopfen und „ficke, ficke Kuchen“ zu johlen. Am liebsten hätte sie ihm dafür eine gescheuert, aber das hätte nur Ärger gegeben. Natürlich hatte sie gewusst, was damit gemeint war, sie war kein dummes Kind gewesen.

Ihre Mutter dagegen war immer und überall da gewesen, nicht, dass sie sich Zeit für Johanna genommen hätte, dafür gab es genug im Haushalt und im Garten zu tun, aber morgens mäkelte sie bereits an Johannas Haar herum, das ihr nicht gekämmt erschien, mittags beschwerte sie sich, dass Johanna undankbar sei, weil ihr das Essen nicht schmeckte, nachmittags störte sie Johanna bei den Hausaufgaben, um im Kinderzimmer zu putzen und abends kontrollierte sie Zähne und Ohren. Oft hatte sich Johanna gewünscht, ihre Mutter würde irgendwo arbeiten gehen, so wie bei Claudia. Glückliche Claudia.

Johanna hatte immer gespürt, dass sie nicht die Tochter war, die ihre Mutter sich gewünscht hatte. Nie war sie mit ihr zufrieden gewesen. Im Supermarkt hatte sie einer Frau von einem Missgeschick ihrer Tochter erzählt. Sie fanden das lustig und dann hatte die Mutter noch gemeint, „unsere Johanna ist ein Sturkopf“, und hatte amüsiert den Kopf geschüttelt, „dabei habe ich mir immer ein Schmusekind gewünscht.“ Johanna hatte einen Klumpen im Magen gefühlt. Ja, die Mutter wollte ein Kind mit blondem, langem Haar, in das sie Schleifen binden, und dem sie schöne Kleidchen anziehen konnte. Johanna ließ die Eier aus dem Karton auf den Boden plumpsen. Sie wusste, wie sie die Nerven ihrer Mutter reizen konnte.

Genauso hasste ihre Mutter es, wenn sie mit ihren dreckigen Gummistiefeln über den Parkettboden lief. Ein Abdruck nach dem anderen, gekonnt gesetzt. Die Mutter schlug sie nie mehr als einmal, aber dafür war es stets ein Schlag mit voller Kraft. Er schien aus heiterem Himmel zu kommen, obwohl sie wusste, dass er kommen würde, wie ein Fallbeil. Bei einem Schlag flog sie sogar gegen den Türgriff, was eine Riesenbeule hervorrief. Ihre Mutter wendete sich dann ab, ging irgendeiner Beschäftigung nach, als sei nichts geschehen. Neben dem Schmerz, der Demütigung fühlte Johanna Überlegenheit. Ihre Mutter verlor die Kontrolle, wenn ihre Tochter es darauf anlegte, dabei war sie nur ein Kind.

Und ihre Mutter musste den Vater fragen, wenn sie neben dem Haushaltsgeld Ausgaben plante. Johanna dagegen bekam ein großzügiges Taschengeld von ihrem Vater. Reitunterricht und Hockey oder was immer Johanna gerade ausprobierte, zahlte er. Der Vater war der Meinung, Johanna könne gut mit Geld umgehen, denn sie investierte nicht alles in Süßigkeiten oder Spielzeug. Das war die einzige Anerkennung, die ihr Vater jemals geäußert hatte. Umso mehr hasste Johanna es, wenn ihre Mutter sie zum Vater schickte, damit sie ihn anlog und nach Geld für sich fragte, das die Mutter dann nahm. Wenn möglich, tat Johanna nur so, als habe sie den Vater gefragt und gab der Mutter ihr Erspartes, das sie für diese Fälle ansammelte. Auf diese Weise hatte Johanna den Umgang mit Geld gelernt.

Das Mittagessen war rechtzeitig fertig, als David in die Küche kam, seiner Mutter zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange gab und sich gleich einen Berg von Püree, Spinat und Fischstäbchen auf den Teller häufte. Sara grummelte nur ein Hallo, schaute in die Töpfe und verkündete, sie wolle erst später essen. Schon war sie auf ihrem Zimmer verschwunden. David dagegen verschlang sein Essen mit Appetit. Johanna setzte sich zu ihm und hörte ihm zu, wie er mit Glanz in den Augen von seiner Bandprobe erzählte. Zu seinem Geburtstag hatte ihm Johanna, wie gewünscht, eine Gitarre geschenkt und kaum konnte der Junge drei Griffe, hatte er mit seinen Schulfreunden eine Band gegründet und wollte auf dem nächsten Schulfest spielen. An Selbstbewusstsein mangelte es ihm nicht. Johanna schüttete ihm sein Glas nach. Sammy und sie hatten einen tollen Jungen großgezogen. Einen Jungen, dem es mit Fünfzehn nicht peinlich war, seine Mutter zu umarmen oder zu küssen, selbst nicht vor anderen Leuten. Natürlich war er auch ein Schlawiner, der wusste, wie er von seiner Mutter das bekam, was er wollte, aber er kannte seine Grenzen.

Und sie würde dem neuen Kind ebenfalls eine gute Mutter sein. Wie um sich selbst zu bestärken, reckte sie das Kinn vor. David würde sich über einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester freuen. Sie sah es schon vor sich, wie David mit dem Hosenscheißer Bauklötze aufeinandertürmte oder einem Ball nachjagte. David würde die Rolle als großer Bruder gefallen. Sara dagegen, oh je, an Sara durfte sie nicht denken. Seit zwei Jahren stritten sie über jede Kleinigkeit und das lag nicht an der Pubertät. Angefangen hatten die Schwierigkeiten damit, dass Johanna eine Traumreise in die Karibik für Sammy und sich organisiert hatte. Ja, sie hatte Sammy zum Tauchen in den Korallenriffs überredet. Und in Saras Augen trug sie damit die Schuld an dem Unfall, an allem was folgte. Sara kannte keine Gnade, nur zeitweiligen Waffenstillstand.

Nachdem David ebenfalls auf sein Zimmer gegangen war, setzte sich Johanna noch eine Weile zu Sammy. Wenn sie bei ihm war, nahm sie seine Hand. Da hockten sie dann wie ein altes Ehepaar. Johanna gefiel die Vorstellung; sie und Sammy mit grauem Haar, auf der Haut Spuren der Zeit und dankbar, dass sie sich noch immer hatten.

„Sammy“, sagte sie, „würde es dir gefallen, einen süßen Fratz auf deinem Schoß sitzen zu haben, einen, der sich an dein Bein klammert und seine ersten Schritte versucht?“

Johanna küsste seine Fingerknöchel, einen nach dem anderen. Sie vermisste es, von ihm in den Arm genommen zu werden, wie er ihren Namen aussprach, sein Strahlen, wenn er sich über einen Erfolg freute, seinen tadelnden Blick, wenn sie sich in etwas verrannt hatte. Sie vermisste ihn. Wenn sie könnte, sie würde immer an seiner Seite bleiben, alles andere vergessen. Nur sie beide, Körper an Körper, für alle Zeit. Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter und begann, ein Lied zu summen. Als David sich noch vor Monstern unter seinem Bett gefürchtet hatte, hatte sie es ihm vorgesungen bis er eingeschlafen war. Sammy liebte ihre Stimme.

Sie nahm sich eine der Zeitschriften vom Gartentisch zur Hand und las ihm vor, was, das war egal. Früher mochte er Historienromane und Reiseberichte. Früher war er auch ein leidenschaftlicher Koch gewesen, der die Küche als sein Experimentierfeld ansah, jetzt aß er nur Frikadellen oder Knackwürstchen mit Käse überbacken, trank statt Cognac lieber Malzbier. Johanna würde ihm gleich das von Nadja vorbereitete Mittagessen in die Mikrowelle stellen.

In der Zeitschrift begutachtete Johanna ein paar Frisuren. Eine Hochsteckfrisur fand sie pfiffig. Das wäre eine Gelegenheit, mal wieder etwas mit Sara zu unternehmen, überlegte Johanna. Sie streifte ihre Ohrclips ab und massierte ihr Ohrläppchen. An die Geschichte, die ihr daraufhin in den Sinn schoss, hatte sie seit Ewigkeiten nicht mehr gedacht. Katjas Tod spülte einiges an Erinnerungen aus ihrem Gedächtnis hervor. Ihre Opfergabe für die Rabenclique.

Anfangs hatte Johanna nicht mit der Clique auf Streifzüge durch Wald und Wiesen gehen oder am See baden können. Nur auf den Puddingpartys bei Maria tolerierte Claudia sie. Daher verbrachte Johanna die meiste Zeit mit Astrid und manchmal spielte sie auch mit Maria. In den zweiten Sommerferien änderte sich dies jedoch.

Astrid nahm sie mit zum Knusperhäuschen, wo laut Astrid die älteste Frau der Welt, älter als jede Schildkröte, lebte. In der Tat war Tante Heide hundert Jahre alt, was Johanna zunächst gar nicht glauben wollte. Eine so alte Frau hatte sie sich krumm und buckelig vorgestellt, mit Falten so tief wie Gräben, doch die Tante sah aus wie eine Oma aus den Märchen mit weißem Haar und rundlicher Figur. Höchstens achtzig, hatte sie Astrid später zugeflüstert. Johanna fand es schön, dass die Leute aus dem Dorf sich um die alte Frau kümmerten. Sie brachten ihr jede Woche die Einkäufe nach Hause, putzten die Fenster, reparierten das Dach, hackten das Holz, holten sie an Weihnachten und Ostern mit der Pferdekutsche zur Kirche ab und schauten überhaupt nach, ob es ihr gut ging. Tante Heide war früher die Hebamme im Dorf gewesen. Sie hatte sogar Claudias Großmutter, die Frau Bürgermeister, auf die Welt geholt und da war sie auch schon alt gewesen, hatte Claudia herablassend Johanna erklärt.

Mit dieser Aussage von Claudia fühlte Johanna sich gewarnt, denn bei allem was ihre verstorbene Großmutter betraf, verstand Claudia keinen Spaß. Immerhin beleidigte oder schubste sie Johanna nicht bei Tante Heide; wieder ein Platz mehr, an dem Claudia sie nun duldete, was Johanna Astrid zu verdanken hatte, denn sie war nicht von ihrer Seite gewichen, bis Claudia mit Johanna gesprochen hatte.

In Anwesenheit von Erwachsenen benutzte Claudia nie Kraftausdrücke, prügelte sich nie, schließlich war sie die Enkelin des Bürgermeisters und ein ungebührliches Benehmen hätte ihre Mutter nicht geduldet. Wenn sie jedoch unter sich waren, kannte Claudia keine Hemmungen. Nicht, dass sie jemals ein Mädchen aus ihrer Bande geschlagen hätte, aber wer nicht dazu gehörte, durfte keine Gnade erwarten. Johanna kannte die Geschichten von Kindern und was ihnen geschehen war, wenn sie Claudias Zorn heraufbeschworen hatten. Die Strafe für die Kinder, wenn etwa Beatrice wegen ihrer komischen Bewegungen geärgert wurde, folgte stets auf dem Fuß, sodass es im Dorf keine mehr gab, die es sich mit Claudia verscherzen wollten. Einzig und allein sie, Johanna, wurde von Claudia gehasst und nichts, was sie tat oder sagte, keines ihrer Friedensangebote, schien daran etwas ändern zu können.

An diesem Tag wollten die Mädchen Tante Heide einen Apfelkuchen backen. Das hatte Claudia vorgeschlagen, die sogleich das Zepter in die Hand nahm, schließlich war es ein Rezept ihrer Großmutter. Äpfel mussten geschält, Mehl gesiebt, Eier getrennt werden. Die Zwillinge kneteten den Teig und wurden von Claudia ermahnt, nicht alles vorher aufzulecken. Es war ein geschäftiges Treiben in der Küche und Claudia suchte alle Schränke nach Cognac ab, weil die Apfelstücke und die Rosinen unbedingt damit beträufelt werden mussten.

Das Gelächter, Geplapper und Geschepper drang durch die offen stehende Tür nach draußen, wo Johanna mit Tante Heide auf der Holzbank saß. Claudias Blick bei Johannas Versuch, beim Backen zu helfen, hatte Johanna abgeschreckt und daher leistete sie lieber der alten Frau Gesellschaft.

Johanna hatte die Tante auf Anhieb gemocht, die sich gefreut hatte, Johanna kennenzulernen, ihr über die Wange gestrichen hatte und sich nun mit ihr auf der Bank unterhielt, sie nach ihrer Mutter fragte und sagte wie schön es sei, dass Johanna wieder daheim in Eichenstövel sei. Das Dorf war ganz und gar nicht ihr Zuhause. Nun, alte Menschen waren manchmal sonderbar, aber das war nicht schlimm.

Warum wusste Johanna auch nicht, aber plötzlich fing sie an, ein Lied zu summen, worauf die Augen der Tante aufblitzten. Sie wirkten auf einmal wie die Augen eines Mädchens, das seine Geburtstagsgeschenke betrachtet.

„Wo Menschen Lieder singen, gibt es keine bösen Menschen“, sagte sie verschmitzt, „das wurde in meiner Familie immer gesagt.“

Johanna konnte nicht anders, als die Tante anzulächeln und zu singen: „Der Kuckuck und der Esel, die hatten einen Streit.“

Die Tante klatschte in die Hände, dann fiel sie mit ein.

„Was für eine schöne Stimme du hast, mein Kind“, sagte sie zum Schluss. Nun kicherte sie auch noch wie ein junges Mädchen.

Johanna fühlte ihre Brust vor Stolz anschwellen und sogleich stimmte sie das nächste Lied an. Nach und nach kamen die anderen zu ihnen, Maria, Beatrice, Astrid, die Zwillinge und schließlich auch Claudia und alle sangen mit, bis der Duft des Apfelkuchens ihnen das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ und sie sich endlich über ihn hermachen konnten. Riesenportionen Sahne gab es dazu und Claudia war mit ihrem Werk zufrieden, was sie milde stimmte. Nach dem Gelage, zu dem es auch Kakao gegeben hatte, lagen sie mit ihren vollen Bäuchen überall verteilt herum wie die Kätzchen bei einem Mittagsschlaf; die Zwillinge zusammen in dem Ohrensessel, Beatrice unter dem Tisch auf dem Wollteppich, Astrid und Claudia unter dem Birnenbaum, Maria in dem Autoreifen auf dem Rasen und Johanna auf der Bank neben der Tante, die in der Sonne döste und ab und zu blinzte, um zu schauen, ob all ihre Kätzlein da waren.

Als sie sich dann alle auf den Weg machen wollten, fragte die Tante, was sie denn heute am Johannestag noch vorhätten. Die Mädchen schauten sich an, keine wusste, mit diesem Tag etwas anzufangen.

Die Tante hob ihren Zeigefinger an den Mund, „na so was, wisst ihr denn nicht, dass der heilige Johannes an diesem Tag enthauptet wurde?“

Die Mädchen schüttelten die Köpfe, schon wieder einer dieser Heiligen. Die Armen mussten immer so leiden, wurden mit Pfeilen durchbohrt, von Löwen gefressen oder bei lebendigem Leibe gegrillt und das Gruselige war dabei, dass sie dennoch guckten, als würden sie es erdulden wollen.

„Dann wisst ihr auch nicht“, sagte die Tante weiter, „dass man an diesem Tag Kräuter sammelt und über Türen und ans Fenster hängt, damit das Haus geschützt ist?“

Nein, davon hatten sie auch noch nie was gehört.

„Welche Kräuter denn?“, fragte Claudia.

Die Tante überlegte: „Kamille, Thymian, Bärlapp, Beifuß, Arnika, Ringelblume und Johanniskraut, an die erinnere ich mich.“ Sie rieb ihr Kinn, dann fuhr sie fort zu sprechen. „Wir tanzten um das Feuer, wunderbar, und sprangen über die Flammen.“ Ihre Augen bekamen wieder diesen Glanz. „So waren wir das Jahr über vor Unheil und Krankheit geschützt. Kinder, ihr müsst immer auf eure Gesundheit achten.“

Auf dem Weg ins Dorf verkündete Claudia, sie müssten auch so ein Feuer machen. Die Zwillinge waren wie immer von Claudias Ideen begeistert und begannen laut durcheinanderzuplappern, doch sofort gebot Claudia Einhalt. Sie könnten erst dann weiter darüber reden, wenn Johanna nicht mehr dabei sei, schließlich gehöre sie nicht zum Clan der Raben. Johanna versetzte es einen Stich, so sehr hatte sie gehofft, dazu zu gehören, hatte geglaubt, Claudia würde sie nach dem heutigen Tag nicht mehr ausschließen. Schweigen herrschte, doch dann hörte sie Astrids Stimme.

„Wir sollten abstimmen, ob wir Johanna aufnehmen.“

Außer Claudia nickten alle, aber sie beugte sich der Mehrheit. „Also gut“, sagte sie, „wer ist dagegen?“ Claudia streckte die Hand in die Luft, die Zwillinge schlossen sich ihr wie gewohnt an. „Das ist ein Unentschieden und damit kann sie nicht bei uns mitmachen.“ Sie zuckte die Achseln, als ließe sich daran nun mal leider nichts ändern, aber Astrid gab nicht auf, sie wollte für ihre Freundin einstehen.

„Die Zwillinge gelten nur als eine Stimme“, entgegnete Astrid. Der eine Zwilling schaute Claudia an, der andere erhob sogleich Protest, den Astrid mit einer Handbewegung wegwischte. „Sie waren mal ein Mensch, kriegen also auch nur eine Stimme.“ Astrid verschränkte ihre Arme vor die Brust.

Claudia musterte Astrid: „Gut, aber sie muss ein Opfer bringen.“

Damit erklärte sich Astrid einverstanden. Alle schienen zufrieden, nur Johanna wurde mulmig zumute, was für ein Opfer? Als sie mit Astrid allein war, fragte sie nach.

„Mach dir nicht in die Hosen. Sie wird dir schon nicht den Kopf abhauen.“ Jetzt wurde Johanna richtig nervös. Der heilige Johannes wurde enthauptet und heute war das Johannisfest. Nun gut, Claudia würde ihr nicht den ganzen Kopf abhacken, das wäre Mord, aber vielleicht würde sie ein bisschen daran herumschnippeln, das wäre ein Opfer. Johanna wurde übel, sie traute Claudia nicht, nein, sie würde am Abend nicht auf der Wiese wie verabredet erscheinen. Astrid sah ihr die Ängstlichkeit an.

„Wenn du nicht kommst, werde ich nie wieder deine Freundin sein“, sagte sie verärgert. „Schisshasen kann ich nicht leiden.“

Was sollte sie tun, sie wollte Astrids Freundin bleiben. Ihr blieb also keine Wahl.

Im Dämmerlicht wirkte die Sommerwiese als wäre sie mit Magie überzogen. Die Rabenkinder hatten bereits Holz gestapelt, duftende Kräuter drüber gestreut und Steine angeordnet. Auf dem Boden lag ein Teppich aus Blütenblättern. Jedes Mädchen hatte sich Blumen ins Haar geflochten. Claudia sah in ihrem weißen Kleid aus wie eine Elfenkönigin, nur steckte in ihrer Blumenkrone eine Rabenfeder. Sie nahm Johanna bei der Hand und führte sie zum Steinkreis. Dort sprach sie Worte aus, die wie Zauberworte klangen, fremd und geheimnisvoll. Johanna bekam eine Gänsehaut. Sie sagte sich, dass alles nur ein Spiel sei. Johanna, stell dich nicht bescheuert an, mach mit, das sind deine Freundinnen. Es ist ein Abenteuer und du darfst dabei sein.

Rasch brach die Dunkelheit herein. Astrid und ein Zwilling zündeten das Feuer an. Es sah schön aus, das Orange und das Blau und das Gelb. Claudia legte ihr die Hände auf die Schultern, drückte sie auf die Knie runter, während die anderen Mädchen zuschauten. Der Himmel war schwarz, die Welt war schwarz, außer das Fleckchen Wiese, auf dem sie standen, mit dem Feuer, mit den Blumen, in ihren weißen Kleidern, an denen eine Feder befestigt war. Plötzlich spuckte Claudia ihr ins Gesicht, was Johanna erstarren ließ. Die Spucke rann ihr die Stirn hinab. Claudia war hinterhältig, war gemein. Sie hätte es wissen müssen. Doch dann beugte Claudia sich zu ihr hinunter und strich mit ihrer Feder die Spucke weg. Johanna hörte Claudia wieder diese Zauberwörter sagen.

„Rabenkind“, sagte sie dann weiter, „aus meinem Mund erfährst du deinen Namen.“ Sie trat hinter Johanna, legte die Hand auf den Kopf und drückte ihn hinunter zu den Feuersteinen. Nun zog sie das linke Ohrläppchen auf einen der Steine.

Wieder überkam Johanna ein Schrecken. Oh, nein, sie will nicht den Kopf, sondern das Ohr abhacken. Das Opfer würde ihr Ohr sein. Die Kinder in der Schule würden sie hänseln, ihre Mutter würde weinen und der Vater würde mit ihr schimpfen. Nein, sie musste jetzt wegrennen. Doch bevor sie aufspringen konnte, war da etwas Spitzes, gefolgt von einem Schlag, einem Schmerz.

„Steh jetzt auf“, befahl Claudia. Johannas Knie zitterten, ihr war schwindelig. Ein Zwilling half ihr auf und hielt noch den Stein in der Hand, mit dem er den Nagel durch das Ohrläppchen getrieben hatte. Ihr war als würde ihr Ohr in Flammen stehen. „Wähle nun“, sagte Claudia hoheitsvoll zu ihr, „wem aus dem Clan der Raben du deinen Namen verraten willst.“

Konnte es sein, sie gehörte nun tatsächlich zu ihnen? Die Angst wich der Freude. Sie hatte bestanden, sie hatte nicht versagt, sie hatte noch nicht einmal geschrien. Erwartungsvoll musterte sie die Mädchen, was würde nun passieren? Hoppla, sie sollte ihren Namen verraten? Den kannten doch alle! Nein, Claudia wollte ihr einen Namen geben; sie hatte ihr nach dem Schlag etwas zugeraunt. Hatte sie ihren neuen Namen richtig verstanden? Blöd, wenn sie ihn jetzt falsch sagen würde. Sie sollte wählen, also sollte sie nicht allen ihren Namen sagen, aber war das erlaubt? Johanna tat, was ihr das Sicherste erschien. Sie ging zu Astrid und flüsterte ihr den Namen ins Ohr. Astrid nickte, es war also die richtige Entscheidung. Aber noch immer ruhten Blicke gespannt auf ihr. Sie war nun im Clan der Raben. Sie richtete sich zu voller Größe auf. Sie gehörte endlich dazu. Diese Gedanken kreisten durch ihren Kopf. Auch Beatrice und Maria gab sie ihren Namen. Dann waren da wieder Zweifel. Sollte sie den Zwillingen den Namen geben, schließlich hatten sie nicht für sie gestimmt, Claudia kannte ihn, oder kannte Claudia ihn erst, wenn sie ihn ihr nannte? Sie wog ab und als sie sich endlich entschloss, auch den letzten drei den Namen zu geben, packte Astrid sie am Arm und sprang mit ihr über die Flammen.

Nun war auch für die anderen kein Halten mehr. Alle sprangen. Es ertönte ein Gekreische und Gejohle, in das Johanna einstimmte. Sie tanzten, drehten sich um das Feuer, stießen die Laute, die in ihnen waren, in die Nacht. Drehen, Kreisen, Stampfen, Füße hoch, Füße runter, Arme überall, die Glieder schwer, die Gedanken leer. Immer weiter. Als Johanna zu Boden fiel, sah sie den Rasen auf sich zukommen, sah die Grashalme, die Blumen und spürte die Feuchtigkeit der Erde auf ihrer erhitzten Haut. Sie glitt in einen Traum.

Als sie die Augen wieder öffnete, schrie sie auf, denn sie konnte nichts sehen, wusste nicht, wo sie war. Noch einmal schrie sie, als etwas nach ihr griff, doch da hörte sie Astrids Stimme. Langsam setzte sie sich auf und nun konnte sie das Glimmen des Feuers erkennen und Astrid, die davor hockte und mit einem Stock darin rumstocherte. Schnell rutschte Johanna neben ihre Freundin, suchte Schutz, schließlich waren sie mitten in der Nacht allein am Waldesrand.

„Du bist ohnmächtig geworden, aber du brauchst keine Angst zu haben, ich habe die ganze Zeit auf dich aufgepasst“, sagte Astrid, ohne dabei die Glut aus den Augen zu lassen. Das stimmte, sie brauchte keine Angst zu haben, denn sie hatte ihre Freundin an ihrer Seite, die beste Rabenfreundin, die sich ein Mädchen wünschen konnte, eine, die dich nie allein lässt. Endlich gehörte sie zum Clan der Raben. Das war einer der glücklichsten Momente der Kindheit gewesen.

Kinder und ihr magisches Denken, dachte Johanna und klemmte sich die Zeitschrift mit den Frisuren, die sie Sara zeigen wollte, unter den Arm. Sie stand vom Stuhl auf und blickte über ihren Garten, über den Rasen, die Sandsteine und die Pflanzen. In all den späteren Jahren hatte Johanna bezweifelt, dass die Dorfmädchen jemals ihre Freundinnen gewesen waren, aber solche Erinnerungen stimmten sie wehmütig.

Johanna ging hoch zu Sara und klopfte bei ihr an. Als sie eintrat, beugte sich Sara über ein Mathebuch.

„Schau mal, Sara, wäre das nichts für dich? Ich finde es hübsch. Weißt du, wir könnten gemeinsam zum Friseur. Der Salon um die Ecke bietet Rabatt, wenn Mutter und Tochter kommen. Danach könnten wir ein Eis essen gehen.“

Sara konzentrierte sich weiterhin auf ihr Buch. „Du bist nicht meine Mutter“, sagte sie beiläufig.

Wenigstens war sie so gnädig gewesen, ihr nicht ins Gesicht zu schauen, um zu sehen, wie es in sich zusammenfiel. Aber es war wohl nur Gleichgültigkeit.

Johanna stammelte: „War nur eine Idee, muss nicht sein.“ Haltung bewahren, Haltung bewahren, dachte Johanna und machte sich auf den Rückzug. War sie als Mutter weniger wert, weil sie das Kind nicht höchst persönlich aus ihrem Leib gepresst hatte? Musste sie erst Blut, Dammriss, entzündete Brustwarzen aufweisen, um als Mutter geadelt zu werden? Johanna hätte jetzt gern irgendetwas an die Wand geschmissen. Dieses kleine Biest.

Sie ging in ihr Arbeitszimmer, massierte ihre Schläfen. Arbeiten war immer eine gute Möglichkeit, sich auf Kurs zu bringen. An Sara durfte sie jetzt nicht denken, sonst würde sie sich noch zu einer Dummheit hinreißen lassen. Johanna schrieb derzeit an einem Buch über Armut in Deutschland, ein Thema, das sie in verschiedenen Varianten in ihrer Sendung diskutiert hatte. Der Verlag drängte sie zur Fertigstellung. Sie fuhr ihren Rechner hoch.

Katja, erinnerte sich Johanna, verachtete Menschen, die ihr Leben nicht selbst meistern konnten, die auf Hilfe angewiesen waren. Schuld seien sie alle selbst, sie seien faul, dumm oder schwach. Nun, damit war Katja nicht allein in diesem Land gewesen. Johanna sah Katjas Gesicht vor sich, wie sich die Falten um ihren Mund vertieften. Derselbe grimmige Ausdruck wie damals bei ihrer Zwillingsschwester Karola am See.

Im letzten Sommer auf dem Lande hatte Johanna ihre Barbiesammlung mit zum Opa genommen und auf diese Weise Pummelchen kennengelernt. Sie hatte gefragt, ob sie einer der Puppen die Haare kämmen könne, als sie Johanna auf der Pferdekoppel entdeckt hatte. Ihre Familie hatte das Knusperhäuschen am Walde, das seit Tante Heides Tod leer gestanden hatte, für drei Wochen gemietet. Johanna mochte die Nähe des niedlichen, rosigen Pummelchens, das Sanftmut ausstrahlte. Vor Pummelchen musste sie nicht auf der Hut sein, bei ihr musste sie mit keinen Überraschungen rechnen.

Das war bei Astrid und Claudia ganz anders. In der zweiten Woche übernachtete Johanna bei Pummelchen und dachte kein bisschen an die Clique. Überhaupt hatte sie in den letzten Tagen die meiste Zeit mit der neuen Freundin verbracht. Am nächsten Mittag begleitete Pummelchen sie auf dem Heimweg, auf dem sie Astrid, Claudia und Beatrice trafen. Die drei saßen auf dem Mauerstück am Bach und pafften. Astrid versperrte den beiden Mädchen den Weg.

„Na, hattet ihr Spaß?“, fragte Astrid mit einem Grinsen, das hinterhältig wirkte.

„Wir haben immer Spaß“, erwiderte Johanna trotzig.

Claudia schlenderte jetzt auch zu ihnen. „Wie schön für Dick und Doof.“

Johanna merkte, wie Pummelchen einen Schritt zurücktrat. „Ich habe keine Lust, mit dir Stinker zu reden“, sagte sie.

Claudia stieß Johanna mit ihrer Schulter an. „Du bist doch nur zu feige zum Rauchen.“

Johanna hatte es einmal probiert, für schlecht befunden und es dann gelassen. Astrid klatschte in die Hände und richtete damit die Aufmerksamkeit der Streithähne auf sich.

„Ich kenne ein Spiel mit einer Überraschung am Ende. Komm, Johanna, umarme mich und drück so fest du kannst gegen meinen Bauch.“ Johanna wollte nicht. Beatrice reckte den Hals, blieb aber auf der Mauer sitzen.

„Das ist albern“, sagte Johanna.

„Nein“, tönte Astrid, „willst du nicht die Überraschung herausfinden?“

Okay, dachte Johanna, ein Spaß kann nicht schaden und dann lässt uns Astrid weitergehen. Johanna schlang von hinten die Arme um Astrid und drückte zu. Plötzlich fühlte sie ein Brennen und zog die Hände weg.

Claudia lachte aus vollem Hals. „Mensch“, japste sie, „die ist echt doof!“

Astrid schaute, als wäre nichts gewesen. Johanna wollte sich nichts anmerken lassen, nicht zugeben, dass die Zigarettenglut, die Astrid auf ihren Handrücken gepresst hatte, Schmerzen verursachte.

„Und wo ist die Überraschung?“, fragte sie stattdessen.

Auf der Hand war ein roter Kreis und sie befürchtete, er würde für immer bleiben. Pummelchen war verschwunden.

Am nächsten Tag schaute Johanna bei Pummelchen vorbei, doch sie sei krank, behauptete ihre Mutter. Also schlenderte Johanna zum See, wo sich die Clique treffen wollte. Als sie ankam, waren Astrid, Claudia und Katja im Wasser. Nur Karola saß am Ufer, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, die Lippen zusammengepresst und starrte hinüber zu den Wasserratten. Karola konnte nicht schwimmen, wollte es auch nicht lernen, da sie Angst hatte. In diesem Sommer war es möglich, die Zwillinge auseinander zu halten, wenn sie an einem Platz waren. Sie kleideten und frisierten sich unterschiedlich. Hatte die eine von ihnen einen Pferdeschwanz, trug die andere das Haar offen oder geflochten. Die eine war immer mit den Freundinnen zusammen, die andere stand immer abseits. Karola war es, die ihrer Schwester wie ein Hündchen hinterherlief. Katja war es, die ihre Freiheit wollte.

Schnell hatte es sich Johanna angewöhnt, Karola nicht zu beachten, das machten alle so und von Karola war sowieso keine Antwort zu erwarten. Und wie sie da jetzt saß, schien es keine gute Idee zu sein, sie anzusprechen. Manchmal beschimpften die anderen Karola, weil sie ständig hinter ihnen herschnüffelte oder warfen Steine nach ihr, damit sie verschwand. Die Clique wollte nichts mehr mit Karola zu tun haben. Inzwischen war sie ganz anders als ihre Schwester geworden. Eine Spielverderberin und eine Petze. Außerdem gruselte sich Johanna vor Karola, auch wenn sie wusste, dass Karola nichts dafür konnte. Heimlich schaute sie, ob irgendwelche Missbildungen sichtbar wurden.

Seit Astrid ihr die Wahrheit über die Eltern von Karola und Katja erzählte hatte, war Johanna gehemmt gegenüber den Zwillingen, obwohl Astrid ihr gesagt hatte, dass Katja normal sei, nur Karola hätte es getroffen. Karola würde eine Schwachsinnige werden. Das sei das Gesetz der Vererbung. Astrid hatte gesagt, es sei die Strafe dafür, wenn Schwester und Bruder miteinander vögelten und Kinder bekamen. Im Dorf wüsste jeder davon, aber niemand würde darüber reden, zumindest nicht offen. Astrid hatte ihre Ohren überall und im Friseurladen ihrer Mutter bekam sie mehr mit als die Erwachsenen ahnten. Johanna war schockiert gewesen.

Nein, mit dieser Karola wollte sie nicht allein sein, also winkte Johanna Astrid zu, die daraufhin zum Ufer schwamm.

„Na, hat Pummelchen keine Lust mit dir zu spielen?“

Mist, vor Astrid ließ sich nichts verbergen. Johanna wurde rot; sie hatte Astrid belogen und behauptet, sie müsse dem Opa helfen und könne deswegen nicht mit zum See kommen. Sie verstand selbst nicht, warum sie ein schlechtes Gewissen bekam, wenn sie sich mit Pummelchen treffen wollte. Es war dieser Blick, den Astrid beherrschte, der Johanna einschüchterte, dem sie sich nicht entziehen konnte. Selbst wenn Johanna auf Astrid wütend war, schaffte es Astrid, ihren Willen durchzusetzen.

Um von ihrer Lüge abzulenken, zog sie sich schnell bis auf die Unterhose aus und sprang ins Wasser. Johanna war eine Schwimmerin, die es gerade schaffte, ihren Kopf über Wasser zu halten. Gegenüber den drei Mädchen wirkte sie wie eine Fußkranke bei der Wassergymnastik. Nach ein paar Minuten glaubte sie, genug Buße getan zu haben und wollte zurück zum Ufer. Astrid entschied jedoch dagegen, indem sie den Freundinnen zurief, Johanna hätte noch keine Wassertaufe erhalten. Plötzlich tauchten Hände auf ihren Schultern Johanna unter.

„Im Namen des Vaters“, rief Astrid.

Johanna kämpfte sich nach oben, schnappte nach Luft, wurde erneut heruntergedrückt von Claudia.

„Des Sohnes.“

Dann war Katja an der Reihe.

„Und des Heiligen Geistes.“

Nun war der Spaß zu Ende, glaubte Johanna. Wieder spürte sie Astrids Hände.

„Und der Heiligen Lügnerin.“

Johanna hörte unter Wasser das Lachen, allmählich bekam sie Panik. Dann waren da wieder Claudias Hände.

„Und der Heiligen Pisse.“

Katjas Hände.

„Und des Heiligen Kuhfladens.“

Ein Fuß traf Johanna am Oberschenkel. Vor Schmerz schluckte sie noch mehr Wasser. Sie strampelte, versuchte an die Oberfläche zu kommen. Kaum konnte sie nach ein bisschen Luft schnappen, wurde sie wieder gepackt und untergetaucht. Sie hörte nicht mehr, was die Mädchen sagten. Nur ihr Gurgeln rauschte ihr in den Ohren. Nach einer Weile ließen sie von ihr ab, als Astrid ausrief, dass es nun reiche. Sofort schwamm Johanna ans Land. Sie zitterte, ließ sich auf den Boden fallen. Ihr war übel von dem vielen Wasser im Bauch und von der Anstrengung. Claudia war ihr gefolgt und holte einen Ball aus ihrer Tasche.

„He, Bohnenstange, kannst du wenigstens mit einem Ball umgehen?“, fragte sie. „Eher nicht. Was sind das für hässliche Sandalen?“ Claudia drehte einen von Johannas Schuhen in der Hand und schleuderte ihn dann ins Gebüsch. „Wo kauft deine Mutter ein, beim Lumpensammler?“

Der andere Schuh und das Kleid folgten im hohen Bogen. Johanna konnte sich nicht wehren, war damit beschäftigt, nicht in Tränen auszubrechen. Aber der Druck hinter der Stirn verstärkte sich. Sie konnte es nicht verhindern, Tränen quollen hervor. Claudia baute sich vor Johanna auf und ditschte den Ball gegen ihren Kopf. Geschickt fing sie ihn wieder.

„Jetzt kriegt sie auch noch Doofheitspickel.“

Johanna wischte sich über das Gesicht; sie bekam immer Flecken vom Weinen. Claudia tippte Johanna mit dem Fuß an, doch als sie nicht reagierte, befand sie wohl, dass es sich nicht mehr lohnte und ging ins Wasser.

Johanna wollte nach Hause, nach Frankfurt. Sie wollte, dass ihre Mutter kam und sie mitnahm, dass ihre Mutter sie nie wieder hierher schicken würde. Sie würde ihre Mutter anrufen. Langsam rappelte Johanna sich auf, sah kurz hinüber zu Karola, die weiterhin die Wasserratten anglotzte. Diese Missgeburt, diese blöde Karola. Johanna sammelte ihre Sachen ein und ging. Sie weinte noch immer, ihre Mutter würde sie nicht holen, ihre Mutter würde sich nicht die Mühe machen. An der Abzweigung schlug Johanna nicht den Weg zum Opa ein, sie wählte die Straße zu Maria.

Vor dem Haus sprangen Maria und Beatrice Seil. Maria merkte sofort, dass etwas nicht stimmte.

„Was ist mit dir?“ Ihre besorgte, sanfte Stimme war Balsam für Johanna. Wäre Maria doch nicht in der Clique, dann könnte Johanna öfters bei ihr sein, ohne Claudia und Astrid, doch Maria war gerne in der Clique.

„Ich Dussel“, Johanna zeigte ihren Ellenbogen und verdrehte die Augen, “habe mir den Musikantenknochen gestoßen.“ Sie grinste Beatrice an, die ein „Autsch“ erwiderte.

Froh, dass die beiden ihr glaubten, hellte sich ihre Stimmung auf, auch Maria, die ihr über den Arm strich und ihr Erdbeerpudding versprach, trug dazu bei. Selbst Beatrice, die sich selten für jemand anderen interessierte, gab Johanna das Seil in die Hand und band das andere Ende vom Zaun ab. Henriette, goldene Kette, goldener Schuh, wie alt bist du?, sangen sie, während Maria hüpfte. Fast vergaß Johanna darüber den Kummer, den sie verspürte. Eine halbe Stunde später holte Maria einen Teller Erdbeerpudding aus dem Kühlschrank.

Die Mädchen gruppierten sich auf dem Boden um den Teller. Sie knufften sich in die Seiten, lachten und verschmierten die Hälfte des Puddings, als sie versuchten, sich mit dem Löffelstiel im Mund gegenseitig zu füttern. Das war ein Spaß. Jemanden untertauchen, das war kein Spaß. Johanna musste an die Zwillinge denken und dann entschlüpfte ihr: „Komisch, die Zwillinge.“

Maria senkte ihren Kopf und leckte einmal über den Teller. „Och, an Katjas Stelle wäre ich auch sauer auf Karola“, sagte sie, „aber nur eine Woche.“

Beatrice zog ihren Finger akkurat um den Tellerrand. „Ich wäre total stinkig und ich finde es schäbig, wie feige Karola war“, Beatrice lutschte am Finger, „und sie gibt es einfach nicht zu.“

Johanna zog die Brauen hoch, sie wusste nicht wovon die beiden redeten. Maria klärte sie auf.

In der Schule waren Frau Baukötter, der Lehrerin, während der kurzen Pause fünf Mark abhanden gekommen. Sie hatte bereits den Aufgabenzettel für den Mathetest verteilt und die Schüler rechneten eifrig, als sie das Fehlen des Geldes bemerkte. Sofort mussten alle ihre Stifte aus der Hand legen und niemand durfte weiterschreiben bis der oder die Schuldige sich melden würde. Es war mucksmäuschenstill in der Klasse gewesen und Frau Baukötter hatte hinter ihrem Pult gesessen, ihre Armbanduhr abgebunden und gewartet. Die Zeit rückte vor. Der Köter, wie Astrid die Lehrerin nannte, schaute Maria immer wieder an. Fast hätte Maria die Anspannung nicht ausgehalten, glaubte sich erbrechen zu müssen, denn sie fürchtete, der Köter würde mit dem Finger auf sie zeigen. Der Köter mochte Maria nicht, sagte Gemeinheiten zu ihr. Erst letztens hatte er vor der Klasse gemeint, Maria müsse beim Diktat gemogelt haben, weil es nur zwei Fehler aufwies.

Frau Baukötter trommelte mit den Fingern aufs Pult und nahm Maria ins Visier. Schließlich stand sie auf und forderte Maria auf, die Schultasche zu leeren. Maria gehorchte. Mit zittrigen Händen breitete sie ihre Hefte und Bücher auf den Tisch aus. Das ging Frau Baukötter viel zu langsam, daher schritt sie auf Maria zu und durchsuchte die Sachen. Der Köter fand nichts und fletschte die Zähne. Kein gutes Zeichen. Denn das, was als Lächeln verstanden werden sollte, war eine Warnung. Die Stimme der Baukötter wurde höher und forderte alle Schüler auf, ihre Taschen zu leeren. Nur Astrid rührte sich nicht.

Der Köter kläffte sie an, ob sie eine Extraeinladung brauche. Doch Astrid kümmerte das nicht, sie zog sogar mit dem Fuß ihre Tasche zu sich, als die Lehrerin sie vom Boden heben wollte. Die Baukötter schnappte nach Luft. Astrid setzte gleich eins drauf und meinte, es sei doch wohl eine Entschuldigung bei Maria fällig, wenn die Schweißhände einer Lehrerin ihre Hefte beschmutzten, schließlich sei so etwas widerlich. Frau Baukötters Gesichtszüge entglitten. Fast wäre ihr das Taschentuch, das sie immer in den Händen hielt, heruntergefallen. Die Frau hatte Schwachstellen und damit kannte Astrid sich aus, auch damit, wie man sich eine Freistunde verschaffte. Die Baukötter hauchte ein „Verschwinde aus meinem Klassenzimmer“, was sich Astrid nicht zweimal sagen ließ.

Der Köter stürzte sich auf die nächstsitzende Schülerin, die Schwäche zeigte. Karola wagte nicht aufzuschauen, als die Lehrerin ihre Bücher und Hefte schüttelte und auch nicht als der Geldschein hinausfiel. Die Baukötter war selbst dermaßen überrascht, dass sie zunächst nur starren konnte, aber dann hob sie den Schein mit gespreizten Fingern auf. Sie hatte wieder die Oberhand.

„Ich bin sehr enttäuscht von dir, Karola“, sagte die Lehrerin und dann zu Katja gewandt, „und von dir genauso, weil du mir nichts gesagt hast.“ Sie klatschte in die Hände und befahl der Klasse, mit dem Test fortzufahren. Den Zwillingen jedoch nahm sie den Aufgabenzettel weg. „Strafe muss sein“, säuselte die Baukötter bittersüß.

Katja hatte über Tage nicht mit ihrer Schwester gesprochen, hatte sich nicht ihre Ausreden anhören wollen.

Jetzt verstand Johanna. Wie gemein, für das Klauen der Schwester bestraft zu werden. Beatrice schimpfte über Karola. Sie konnte nicht vergessen, dass beinahe die ganze Klasse wegen ihr bestraft worden wäre. Ihr Vater hätte das Cello für eine Woche weggesperrt, wenn sie eine sechs im Mathetest bekommen hätte, er wartete doch nur auf eine Gelegenheit. Maria warf jedoch ein, wie schlimm es für Karola gewesen sein musste. Erst der Beinbruch, wegen dem sie so lange im Krankenhaus bleiben musste und dann, kaum war sie wieder in der Schule, die viele Angst, wegen des Diebstahls bestraft zu werden. So war Maria, sie konnte nicht aus ihrer Haut.

„Papperlapapp“, widersprach ihr Beatrice, „Karola hat sich alles selbst eingebrockt. Warum klettert sie auch auf einen Baum oder klaut Geld von der Lehrerin?“

Johanna wollte wissen, was es mit dem Sturz vom Baum auf sich hatte. Beatrice verdrehte die Augen. Karola, der Angsthase, der Tölpel, hatte sich auf einen Baum getraut, um ihren Drachen zu holen und war runtergefallen, obwohl Astrid hinterher geklettert war, um ihr zu helfen.

Johanna wollte plötzlich nichts mehr davon hören. Sie erklärte, ihr Opa würde warten und verabschiedete sich, während die beiden sich auf zum See machten. Astrid, dachte Johanna. Sie spürte ihr Herz pochen. Würde Astrid Karola das antun? Würde sie Karola absichtlich vom Baum stoßen? Und hatte sie etwas mit dem gestohlenen Geld zu tun? Astrid entging doch sonst nichts. Schnell verscheuchte sie den Verdacht und lief nach Hause.

Sie hockte sich in den Sessel und las „Pippi Langstrumpf“, darüber vergaß sie alles andere bis der Opa sie zum Abendessen rief. Danach spielte sie mit ihm eine Partie Mühle. Das war ein Abendritual, das beide genossen. Kurz bevor Johanna ins Bett gehen wollte, trank sie in der Küche noch ein Glas Milch. Vor Schreck verschüttete sie ein paar Tropfen, als ihr jemand auf die Schulter klopfte. Astrid wollte mit ihr zur Scheune. Das war ihre Art der Wiedergutmachung, dass wusste Johanna. Johanna wischte die Milch weg und erklärte ärgerlich, sie müsse jetzt schlafen. Natürlich ließ Astrid nicht locker. Sie solle nicht eingeschnappt sein wegen des bisschen Wasserschluckens. Johanna schaltete das Licht aus, sie hatte keine Lust zu streiten.

„Sei nicht immer so langweilig, du benimmst dich wie ein Baby“, nervte Astrid.

„Ich bin halt langweilig“, antworte Johanna, wobei sie bereits die Treppe hoch ging.

„Du weißt ganz genau, dass ich nur mit dir dort hingehe“, zischte Astrid, „du willst doch meine Freundin sein?“

Fast hätte Johanna nein gesagt, doch sie betrachtete gerne mit Astrid die Sterne. Bei ihrem ersten Besuch der verwitterten Scheune, draußen vor dem Dorf, hatte ihr Astrid den Sternenhimmel erklärt. Sie wusste alles über die Milliarden Planeten und Galaxien. Astrid hatte auf die Sterne gezeigt; Kassiopeia, Andromeda, Herkules, den Drachen, den Adler, den Schlangenträger, den Delfin, den Großen Bären, den Kleinen Wagen, den Polarstern, und hatte ihr Geschichten erzählt. Sie war eine Geschichtenerzählerin, bei der Johanna es kaum abwarten konnte, wie alles zu Ende ging und gleichzeitig immer mehr hören wollte.

Also folgte Johanna wieder einmal Astrid auf dem Weg. An der Scheunenseite kletterten sie die Leiter hoch und stiegen durch eine Luke ein. Nun war es stockfinster, nicht das Geringste war zu erkennen. Astrid führte Johanna an der Hand zu einer weiteren Leiter, die aufs Dach führte. Johanna musste sich auf Astrid verlassen. Was wäre, wenn Astrid sie loslassen würde, nur um sich lustig darüber zu machen, wie Johanna herumirrte und schließlich heulte? Oder wenn Astrid sie am Rand des Heubodens losließ und sie hinunterfiel, so wie Karola vom Baum gestürzt war? Nein, nein, das würde sie nicht tun. Sie erreichten die Leiter und Astrid half ihr hinauf.

Als sie rittlings auf dem Dach der Scheune saßen, bereute Johanna nicht, Astrid gefolgt zu sein. Über ihnen die Sterne, zu viele um sie zu zählen. Johanna fühlte sich, als säße sie auf dem Dach der Welt. Den Kopf in den Nacken gelegt, sog sie das Funkeln in sich auf und ging auf Reise. Hier würde Astrid sie nicht als Langweilerin, als Baby bezeichnen, hier war Astrid selbst ein Kind des Purpurreichs. Johanna, den Blick auf den Polarstern gerichtet, spürte eine Hand auf ihrem Handrücken.

„Draco“, sagte Johanna, „was können wir tun?“

Seit der letzten Schlacht hatten sie viele Freunde, viele Gefährten verloren und die Häscher des Heiligen Rates waren ihnen noch nie so nahe auf den Fersen. Das Ende - ihr Ende - schien gekommen zu sein. Und Ganter, der Verräter, würde triumphieren.

„Ank-Te-Ka“, sprach ihre Schwester, „uns bleibt nur die Wahl zwischen Tod und Schwarzer Materie“.

Ank-Te-Ka sah keinen Unterschied zwischen den Möglichkeiten. Wenn sie den Sprung in die Schwarze Materie wagen würden, gäbe es keine Rückkehr und die völlige Ungewissheit, was sie erwarten würde. Die Wunde am Bein, die ihr die Wurmdiener geschlagen hatten, schmerzte. Draco wusste um den Schmerz, solche Wunden heilten nie.

„Ich werde es wagen“, sagte Draco, „ich bin bereit.“

Natürlich war Draco bereit, etwas anderes hätte Ank-Te-Ka nie erwartet, doch was war mit ihr? Sie spürte die Trauer in sich aufsteigen. So viel gekämpft, so viel gehofft, alles verloren. Sie konnte niemanden mehr retten, nicht sich selbst, auch nicht die Staubkinder, deren Todesschreie tausendfach mit jedem Atemzug zu ihr drangen. Millionen gab es einst und Ank-Te-Ka liebte jedes einzelne von ihnen. Die Trauer hüllte sie wie eine nasse Wolldecke ein, erstickte ihren Atem, ihren Willen. Sie gab Draco den Abschiedskuss auf die Stirn, jetzt würden sich die Wege der zwei letzten Kriegerinnen des Purpurreichs trennen.

„Niemals lasse ich von dir, Schwester“, flüsterte Draco, „du gehörst zu mir und ich gehöre zu dir.“

Nie hatte Johanna eine größere Verbundenheit zu Astrid gefühlt als dort oben auf dem Dach der Welt. Dort oben liebte sie Draco.

Johanna legte die Karteikarten zurück auf den Schreibtisch. Es hatte keinen Sinn, heute würde sie nicht zum Arbeiten kommen. Sie ging in die Küche, um Sammys Essen in die Mikrowelle zu stellen. Sara stand am Herd und kochte einen Hirsebrei. Es herrschte Funkstille. Johanna wartete mit verschränkten Armen auf das Piepen des Geräts, warf ab und an einen Seitenblick auf Sara. Dann reichte es ihr.

„Isst du jetzt nicht mehr, was ich koche?“, fragte sie gereizt. Sara tat so, als hätte sie nichts gehört. „Wenn du schon kochst, dann wenigsten für alle, dann spare ich mir das.“

Nun drehte sich Sara zu ihr. „Du kochst doch so gut wie nie für uns.“

Es war nicht Johannas Art überzureagieren, aber nun packte sie den Topf am Stiel und warf ihn in die Mülltonne. Sara öffnete den Mund. Gewitter lag in der Luft. Das Piepen ertönte. Johanna nahm den Teller heraus und drückte ihn Sara in die Hand.

„Kümmere dich um deinen Vater“, sagte sie und ihre Miene verriet, dass sie keinen Widerspruch duldete.

Johanna rieb sich über die Augen, was war das denn? Sie würde sich bei Sara entschuldigen müssen. Nein, auf keinen Fall, sie war nicht ihre Mutter, nur ihre Mitbewohnerin und Privatbank. Sie drückte ihr Kreuz durch, ein Gespräch war vonnöten. Vorsichtig ließ sie ihren Kopf kreisen bis das Knacken aufhörte. Ja, sie würde ganz einfach einen Termin mit Sara ausmachen, keine Ausflüchte, kein Verstecken.

Sie ging zum Wohnzimmer, blieb jedoch im Türrahmen stehen. Sara schnitt ihrem Vater gerade die Frikadelle zurecht, spießte ein Stück auf und drückte ihm die Gabel in die Hand. Während er in Zeitlupe kaute, berichtete sie ihm von ihrer letzten Ballettstunde, auch wenn er sich nur für die Fleischstücke auf dem Teller zu interessieren schien. Früher hatte Johanna bei dem Stichwort Ballett nur an Schwanensee und Tänzerinnen in Tutus gedacht. Nicht gerade prickelnd. Nun bewunderte sie Sara bei Auftritten, ihre Kraft, ihre Geschmeidigkeit, ihren Ausdruck. Sie schien den Boden gar nicht zu berühren. Ihr Tanz war wunderschön.

Johanna musste an Beatrice denken, sie hatte Talent gehabt, den großen Durchbruch aber nicht geschafft und Maria, die von Goldmedaillen und Weltrekorden geträumt hatte, sie hatte es auch nicht geschafft. Trotz all des harten Schwimmtrainings. Es gibt keine Sicherheit, irgendetwas kann einem immer in die Quere kommen. War es allein Karola, die ihnen in die Quere gekommen war? Johanna wünschte sich für Sara die Erfüllung ihrer Träume, ihres Strebens. Sie wollte ihr eine Mutter sein, die ihr Rückhalt gab, die sie ermutigte. Im Moment fühlte sich Johanna aber nicht als solch eine Mutter.

Sammy war ein guter Vater gewesen. Ihr lieber Sammy mit den Knopfaugen, dem pechschwarzen Schopf, der schokobraunen Samthaut, war immer für die Kinder da gewesen. Johanna sah noch das Bild vor sich. Sammy mit der kleinen Sara in den Armen, damit seine von Alpträumen geplagte Tochter schlafen konnte. Welche Frau würde einen solchen Mann nicht lieben, der zärtlich den Schlaf seines Kindes behütet, welche Frau würde einen solchen Mann nicht begehren? Sie tat es noch immer und das machte sie verrückt, weil sie sich so sehr nach etwas sehnte, was sie nie wieder bekommen würde. Seine Stirn gegen ihre Stirn gedrückt, hieß, ich bin für dich da, ihre Wange auf seinem Bauch, hier bin ich zu Hause. Seine Finger auf ihren Lippen, den Geschmack seiner Zunge, seine Hand zwischen ihren Schenkeln. Für sie auf ewig verloren.

Johanna hatte öfter den Spruch gehört, Töchter suchten sich einen Mann, der dem Vater ähnelte. Das traf für sie nicht zu. Beide Männer waren zwar schön, aber auf unterschiedliche Art. Sammy, der Familienmensch, ihr Vater, der Arbeitsmensch. Wie wenig sie von ihrem Vater wusste, war Johanna erst in den letzten Jahren klar geworden. Sie erinnerte sich an das Gefühl der Überlegenheit gegenüber Claudia, das sie als Kind gehabt hatte. Zumindest in einem Punkt. Die blöde Kuh war so eingebildet, nur weil ihr Großvater Bürgermeister im Dorf war. Wenn Claudia über ihren Großvater sprach, dann sagte sie immer „der Bürgermeister“. Alle Familienmitglieder, alle im Dorf taten das seit Jahrzehnten. Johanna hatte ihn einmal auf Fotos bei Claudia zu Hause gesehen und nur gedacht, was für ein Klops. Der Mann hatte den Nacken eines Stiers, die Augen eines Schweins, den Kopf eines Elefanten.

Wie elegant und schön war dagegen ihr Vater. Er war ein wichtiger Mann, er leitete eine Zeitung, ohne ihn gäbe es die Zeitung gar nicht. Die Zeitung las man auf der ganzen Welt und nicht nur in einem mickrigen Dorf. Johanna hatte Verständnis dafür gehabt, dass ihr Vater selten Urlaub nahm. Er hatte immer viel Arbeit. Nur dass er, wenn er denn Urlaub machte, alleine fuhr, kränkte sie, wenigstens sie hätte er mitnehmen können.

Von seiner Familie wusste sie damals nur, dass es schlechte Menschen waren, wie sie darauf gekommen war, wusste sie nicht mehr, irgendetwas musste sie aufgeschnappt haben. Es musste etwas sein, das viele, viele Jahre zuvor geschehen war, als der Vater noch ein Junge war. Auch der Vorfall im Park musste damit zusammenhängen.

Ausnahmsweise hatte der Vater Johanna aus dem Kindergarten abgeholt und da es ein Sommertag war, wollte Johanna ein Eis von dem Eisverkäufer im Park. Während sie mit Vorfreude die Sorte auswählte, was gründlicher Überlegungen bedurfte, betrachtete der Vater ein Mädchen im Rollstuhl, das beim Reden den Mund aufriss und so komisch mit dem Kopf wackelte. Jetzt musste auch Johanna hinsehen. Es sah ekelig aus, wie die Begleiterin dem Mädchen den Sabber abwischte, dabei musste das Mädchen älter als Johanna sein. Plötzlich raunzte die Frau den Vater an, was es da zu gucken gäbe. Das fand Johanna nicht in Ordnung. Doch der Vater entschuldigte sich. Warum nur? Er setzte zu einer Erklärung an, sagte „meine Schwester“ und brach dann ab, entschuldigte sich nochmals und ging mit Johanna nach Hause. Das war gemein, wegen dieser Frau bekam sie kein Eis, dabei war sie den ganzen Tag so artig gewesen.

Ihre Laune hob sich dann aber, als die Mutter sie mit einem Gipsarm begrüßte. Sogleich hatte Johanna eine Idee, was sie darauf malen könnte. Gras, Schmetterlinge und ein Reh. Darunter würde sie ihren Namen schreiben, genauso wie es der Künstler gemacht hatte, auf dem Bild, das der Vater gekauft hatte. Doch die Mutter wollte davon nichts hören und schickte Johanna auf ihr Zimmer. Für heute hatte sie genug von den Erwachsenen und sie hörte noch von unten ihre Mutter sagen, „ich könnte tot sein, ihr wäre das egal.“ Fast glaubte Johanna ein Schluchzen zu hören, vielleicht tat der Mutter der Arm weh.

Außerdem war ihr Vater ein wohlhabender Mann. Kurz vor der Hochzeit hatte er Johanna ein Haus geschenkt. Er wollte, dass seine Tochter angemessen lebte, von Sammy erwartete er nicht viel. Für ihn war Sammy nicht der richtige Mann für seine Tochter. Sammy war Übersetzer und hatte sich und die Kinder mit wenig lukrativen Aufträgen über Wasser gehalten.

Johanna hatte am Anfang bezweifelt, dass ihre Eltern geeignete Großeltern abgeben würden. Ihre Erfahrungen sprachen dagegen. Mittlerweile hatte sie ihre Meinung geändert. Menschen werden älter, verändern sich oder haben einfach nur andere Rollen. Selbstverständlich hatte ihr Vater für die Kinder in einen Aktienfond investiert, damit sie die Erträge später für ihre Ausbildung verwenden könnten. Aber da war noch mehr. Er besuchte Saras Auftritte. Es war ihm anzumerken, wie beeindruckt er von Sara war, von ihrem Willen, ihrer Leistung. Er nahm Anteil an ihrem Leben, war selbst ein Teil davon. Die Kinder fuhren gern zu ihren Großeltern. Der Vater war sogar einmal mit ihnen nach Paris geflogen, ins Disneyland. Selbst die Mutter durfte mit. Natürlich wollte sie ihren Liebling David begleiten. Endlich hatte sie ein Kind, das schmusen wollte, das ihr im Garten half, das gern mit ihr bastelte. Die Oma begeisterte sich für alle Pläne von David, egal ob Insektenforscher, Profihandballer oder nun Rockstar auf seiner Wunschliste stand.

Wie anders war dagegen Johannas Verhältnis zur Mutter. Sie erinnerte sich an den Tag im letzten Landsommer, an dem sie geglaubt hatte, ihre Mutter wäre zum Opa gekommen, weil sie ihre Tochter vermisste. Ein Irrtum. Johanna war mit Astrid verabredet gewesen, vor dem Friseurladen. Kaum hatte Johanna sich auf die Stufen gesetzt, öffnete sich die Ladentür und eine Frau mit einem Haarturm auf dem Kopf bat sie hinein. Astrids Mutter erklärte, Astrid müsse noch eine Besorgung für sie erledigen und käme später. Die Frau nahm sie mit nach hinten in die Küche und bot ihr Limonade an. Johanna war unwohl zumute, sie war noch nie in der Wohnung gewesen und irgendwie kam es ihr vor, als dürfe sie nicht hier sein. Astrid hatte gesagt, vor dem Salon, immer trafen sie sich vor dem Salon.

Johanna saß auf einem Stuhl, die Hände im Schoß gefaltet, vor sich ein Glas und versuchte, nicht zu viel von dem schweren Parfüm einzuatmen. Astrids Mutter fingerte eine Zigarette aus einer Schachtel und hinterließ Lippenstift auf dem Filter. Sie blies den Rauch in Johannas Richtung, nicht absichtlich, sondern weil sie den Kalender an der Wand studierte. Endlich drückte sie die Zigarette im Aschenbecher aus. Johanna war froh, den Gestank los zu sein.

„So ein Mistkerl“, sagte die Frau. Der Kalender schien ihre volle Aufmerksamkeit zu fordern. „So ein Mistkerl“, murmelte sie, „am fünfzehnten hatten wir Verkehr und am zwanzigsten wäre ich wieder dran gewesen.“

Johanna wagte nicht, Astrids Mutter anzusehen, das konnte nicht wahr sein. Sie verabscheute Erwachsene, die so taten, als wären Kinder Schwachköpfe, die nichts verstanden. Sie war zwölf Jahre alt. Aus lauter Peinlichkeit starrte Johanna die Tischdecke an. Was erwartete die Frau? Wollte sie Johannas Meinung zu Sex mit Mistkerlen hören? Oder glaubte sie, Johanna wüsste nicht, was Verkehr bedeutete, neben Straßenverkehr. Johannas Handflächen schwitzten, hoffentlich kam Astrid bald.

„Du trinkst wenig, schmeckt es dir nicht?“ Auf der Stirn von Astrids Mutter erschien eine Steilfalte, als wäre sie besorgt. Johanna nahm einen großen Schluck.

„Ist lecker“, sagte sie über das süße Zeug. Die Falte verschwand und ein Lächeln erschien. Sie sah nett aus.

„Du siehst deiner Mutter überhaupt nicht ähnlich.“

Johanna wusste nicht, ob das für oder gegen sie sprach. Astrids Mutter zündete sich noch eine dieser Stinker an.

„Ich sollte mit dem Rauchen aufhören, Astrid klaut mir ständig welche.“ Sie strich sich eine Strähne hinters Ohr, als würde sie das Ohr damit liebkosen wollen. „So ein Luder.“ Johanna suchte nach einer Ausrede, damit sie von hier abhauen konnte. „Ich bin zu nachsichtig, glaub mir. Ich habe deiner Mutter nicht übel nachgeredet, obwohl sie es verdient hätte.“ Jetzt verstand Johanna nur Bahnhof. Warum redete diese Frau überhaupt mit ihr? „Jede Frau musste Angst um ihren Mann haben, und meiner ...“, sie hing ihren Gedanken nach.

Johanna schob sich langsam vom Stuhl, vielleicht könnte sie verschwinden, bevor Astrids Mutter es mitbekam. Zu früh gefreut. Johanna zuckte zusammen, als sie fortfuhr.

„Da flogen die Eier gegen die Fensterscheibe, die Wäsche auf der Leine war zerschnitten, nicht schön. Das hätte sie nicht tun sollen, wo die Frau Bürgermeister erst ein paar Wochen unter der Erde war. Aber deine Mutter hätte auch ihren Bauch nicht so zeigen müssen.“ Auch die zweite Zigarette war geschafft und auf einmal hellte sich das Gesicht der Frau auf. „Ich habe ein Klassenfoto mit deiner Mutter drauf, richtig putzig.“ Sie erhob sich vom Stuhl. „Bin gleich wieder da“, flötete sie.

Nichts wie weg hier. Es war nicht das erste Mal, dass sie Andeutungen zu hören bekam. Sie konnte sich sehr wohl ein Bild daraus zusammensetzten, aber sie vermied es, daran zu denken. Was sie nicht in Sätze formte, was sie nicht aussprach, konnte sie als nicht vorhanden betrachten. Johanna eilte hinaus auf die Straße.

Auf dem Heimweg begegnete ihr Astrid, die sich darüber beschwerte, dass Johanna nicht auf sie gewartet hatte. Das stimmte zwar nicht, aber Johanna stupste sie an und rief, „fang mich doch.“ So konnte sie ihre Gedanken verscheuchen. Sofort nahm Astrid die Verfolgungsjagd auf. Es war ein Heidenspaß. Johanna kreischte, weil Astrid sie bald eingeholt haben würde. Sie umkurvte einen Traktor, einen Brunnen und schließlich einen Misthaufen. Plötzlich machte es Plumps und Astrid lag auf dem Boden. Sie fluchte über den Dreck auf ihrer Hose. Johanna versuchte zu helfen und klopfte den Schmutz von der Jeans, aber der Mist hinterließ Spuren.

„Scheiße, jetzt kriege ich Hausarrest“, sagte Astrid.

„Wegen des bisschen Schmutzes bestimmt nicht“, tröstete Johanna.

„Na, toll, du machst dich nie dreckig und ich sehe wieder wie Sau aus. Meine Mutter kriegt die Krise.“

Johanna überlegte. „Ich kann doch mitkommen und erzählen was passiert ist.“

Astrid verzog das Gesicht. „Klar, dann sieht sie, was dir nicht passiert ist.“ Sie musterte Johanna. „Aber wenn du auch dreckig wärst, dann ...“

Gerne hätte Johanna diesen Blick von Astrid auch gekonnt, der einen durchbohrte. Ein Blick, der forderte, verbot oder lauerte. Johanna ergab sich und kniete sich mit ihrer Cordhose in den Misthaufen. Freunde taten so etwas füreinander. An dem unveränderten Gesichtsausdruck von Astrid erkannte sie, dass es nicht reichte, also rutschte sie hin und her. Astrids Augenfarbe wurde von einem Grubenschwarz zu einem Seidenschwarz. Sie half ihr beim Aufstehen, doch als Johanna die Richtung zum Friseurladen einschlug, winkte Astrid ab, das sei nicht nötig, ihre Mutter würde ihr schon glauben.

Das letzte Stück zum Opa rannte Johanna und stoppte vor dem Renault ihrer Mutter. Es war das erste Mal, dass ihre Mutter sie besuchte. Sie befürchtete nichts Schlimmes, weil sie sich freute und spähte daher durchs Fenster ins Haus. In der guten Stube saß der Opa vor dem Sekretär. Ein paar Meter hinter ihm stand die Mutter, die Arme vor der Brust gekreuzt, die Hände zu Fäusten geballt und starrte auf den Rücken ihres Vaters. Sie konnte ihre Mutter nicht verstehen, aber den Ton ihrer Stimme. Genauso hatte sie gesprochen, als Johanna ihren Opa kennengelernt hatte. Im ersten Sommer.

„Das ist deine Enkeltochter“, hatte die Mutter damals gesagt, „ob du willst oder nicht.“

Der alte Mann hatte sich nicht vom Sofa gerührt, hatte nicht widersprochen, als die Mutter seine Enkelin hinter sich herzog und ins Schlafzimmer brachte, das einmal ihr gehört hatte. Sie hatte den Koffer aufs Bett gelegt und ausgepackt.

„Du bleibst hier und du benimmst dich.“ Johanna hatte den Zorn hinunter geschluckt, weil sie die Tränen kommen spürte. Das durfte auf keinen Fall passieren. „Die Landluft wird dir gut tun, blass wie du bist.“ Die Mutter hatte sie zum Abschied umarmen wollen, aber Johanna hatte sich weggedreht und getan, als würde das Stofftier auf dem Bett ihre ganze Aufmerksamkeit beanspruchen. So war die Mutter ohne ein weiteres Wort davongefahren. Allein. Ohne sie.

Johanna ging nun ins Haus und wollte hören, was los war. Auf Hals und Wangen der Mutter waren rote Flecken. Die bekam sie, wenn sie sich aufregte. Die Mutter erblickte Johanna und schritt auf sie zu, packte sie am Handgelenk und schimpfte sie aus: „Schau dich nur an, wohnst du im Schweinstall? Wir fahren nach Hause!“ Das war doch nur ein bisschen Dreck auf der Hose.

Wieder einmal überrumpelte die Mutter Johanna, die sich mitziehen ließ. Oben auf dem Flur begann Johanna sich zu wehren. Sie wollte bleiben, schließlich trafen sich heute alle Rabenkinder am Lagerfeuer, um Mais und Kartoffeln zu grillen und Gruselgeschichten zu erzählen. Wie oft hatte Johanna sich gewünscht, ihre Mutter würde kommen und sie holen, aber sie kam immer erst am Ende der Ferien, wenn die Schulpflicht wieder begann. Die Mutter wollte sie jetzt nur mitnehmen, weil sie sich mit dem Großvater gestritten hatte. Also stemmte sich Johanna gegen die Mutter, schrie, sie werde nicht mitkommen. Eine Art Tauziehen begann und da trat Johanna der Mutter vors Schienbein. Das Gesicht der Mutter verfärbte sich flammenrot. Sie griff nach dem erstbesten Gegenstand auf der Kommode, schlug zu. Das Bügeleisen traf Johanna an Hals und Schlüsselbein. Es krachte auf die Dielen und die Schritte der Mutter entfernten sich.

Johanna war schwarz vor Augen, fast wäre sie umgekippt, wenn sie nicht die Wand entlang auf den Boden gerutscht wäre. Nachdem die ersten Schmerzwellen abgeklungen waren, fiel ihr das Atmen wieder leichter. Sie musste eine Weile dort gekauert haben bis sie wieder Schritte hörte. Ob es der Mutter leid tat? Doch es war Astrid.

Sie schob die Hand weg, die sich Johanna vor den Hals hielt.

„Was hast du gemacht?“ In der Stimme lag Neugier. Was sollte Johanna erzählen? Niemals die Wahrheit.

„Die Missgeburt ist mit einem Stock auf mich losgegangen“, sagte Johanna und hoffte, ihr würde geglaubt. „Ich habe Karola gesagt, sie soll uns nicht dauernd hinterherlaufen.“ Eine Notlüge war keine Lüge, oder?

Astrid hockte sich hin und strich über das Metall des Bügeleisens. „Deine Mutter hat euch besucht. Die kommt doch sonst nicht.“ Mist, Astrid glaubte ihr nicht. Woher wusste sie von dem Besuch ihrer Mutter? Scheiße. Nun schaute sich Astrid wieder die Verletzung an und dann ihr direkt in die Augen. „Karola braucht eine Lektion. Oder was meinst du?“

Jetzt war der Zeitpunkt, die Wahrheit zu sagen. Doch Johanna konnte die Hürde nicht überspringen, denn Astrid wartete nur darauf, dass Johanna sich als Lügnerin preisgab. Das war mal wieder ihre Art sie zu demütigen. Johanna nickte.

Am Abend saßen die Mädchen um das Lagerfeuer am See. Es war Astrid, die von der Attacke berichtete, worauf Katja ihre Schwester verfluchte, die eine Plage sei. Johanna beeilte sich, die Sache herunterzuspielen und meinte, sie hätte die Sache schon vergessen und hätte Karola nicht provozieren dürfen. Dennoch war Katja einer Meinung mit den anderen Mädchen, sie wollte Karola ein für allemal verscheuchen. Johanna versuchte noch, Maria auf ihre Seite zu ziehen, setzte ihre Hoffnung auf sie, doch Maria war nicht weniger empört als Katja.

„Wie wäre es, wenn wir die Landratte ins Wasser werfen?“, schlug Astrid vor und blickte Johanna in die Augen. Spott las Johanna in ihnen.

„Die dumme Nuss ersäuft uns dann. Nein, sie soll denken, wir würden sie umbringen wollen.“ Katja leckte sich über die Oberlippe. „Ich habe eine Idee.“

Die Mädchen entwickelten einen Plan nach dem anderen, schmückten sie begeistert aus. Für den Rest des Abends schwieg Johanna. Astrid hielt sich zurück, beobachtete stattdessen Johanna, die nicht wusste, was sie tun sollte. Sie konnte nicht zurück. Die Worte kamen einfach nicht über ihre Lippen, egal wie sehr sie sich anstrengte, die Wahrheit herauszupressen. Sie blieb stumm. Konnte eine Lektion denn schaden? Hatte Karola nicht sowieso eine verdient?

Als Johanna sich im Sommer nach dem Unglück weigerte, zum Opa zu fahren, beharrte ihre Mutter zunächst darauf. Sie packte sogar den Koffer, woraufhin Johanna ihn den Müllmännern übergab. Nie im Leben wollte sie mehr ins Dorf fahren. Schon allein der Gedanke daran verursachte ihr Übelkeit. Die Schuldgefühle ließen sie nicht aus dem Würgegriff.

Der Schreck, als Karola sich nicht mehr bewegte, das verzweifelte lieber, lieber Gott, lass alles gut werden, und dann die Gewissheit, dass alles Hoffen vergebens war. Sie war ein schlechter Mensch, das wusste sie nun bis in ihr Innerstes. Sie konnte den Freundinnen nicht mehr gegenübertreten, denn sie wollte keine Geister heraufbeschwören. Es war ein Unfall, es war ein Unfall. Das hatten sie nicht gewollt. Doch Karola lag jetzt in einem Grab. In einem weißen Spitzenkleid, auf einem weißen Kissen, in einem Kindersarg.

Anfangs sah Johanna, wenn sie abends im Dunkeln lag, Karola vor sich. Weiß wie Kreide und die Hände über der Brust gefaltet in der tiefen, feuchten Erde. Johanna wusste nun, sie hatte es verdient, dass ihre Mutter sie nicht liebte. Sie konnte es jetzt akzeptieren. So wie sie es auch hinnehmen musste, dass Maria nicht mehr ihre Freundin war. Maria, bei der sie immer Trost gefunden hatte, wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben.

Nach dem Unfall hatte Johanna das Gewissen geplagt, doch auch die Angst. Die Angst, dass die Freundinnen ihr die Schuld geben würden und die Angst vor Claudia, die ausrasten würde und die Angst vor Astrid, die sie jederzeit verraten könnte. Mit wem hätte Johanna darüber sprechen können? Natürlich mit Maria. Maria würde Johannas Lüge nicht gut finden, doch sie würde ihre Hand nehmen. Sie tadeln und sie trösten. Also hatte Johanna sich auf zu Marias Haus gemacht. Sie ging sogleich nach hinten in den Gemüsegarten, wo sie Maria auch antraf.

Maria zupfte Unkraut aus dem Beet und hob kaum den Kopf, als Johanna an ihre Seite trat. Auf ihre Begrüßung erhielt Johanna keine Antwort, stattdessen konzentrierte sich Maria auf das Unkraut als sei es eine Aufgabe, die keine Unterbrechung erlaubte. Johanna wusste nicht, wie sie anfangen sollte, also fragte sie, ob sie helfen könne, doch Maria schüttelte nur den Kopf. Dann nahm sie allen Mut zusammen und versuchte die Worte zu sprechen, die ihr im Kopf schwirrten. Sie wollte Maria alles gestehen. Doch da war kein Lächeln, nur Marias Rücken und kein Wort wollte ihr über die Lippen kommen, so sehr sie es auch versuchte. Ihr Mund öffnete und schloss sich wieder. Die Worte steckten im Hals fest, waren widerspenstig wie Köderhaken. Würde Maria sie doch nur anschauen. Johanna holte tief Luft, wollte reden, da stand Maria auf. Sie ging an ihr vorbei ins Haus. Kein Wort, kein Blick. Als wäre Johanna ebenfalls für sie gestorben.

Für Johanna fühlte es sich wie ein Schlag an. Schlimmer. Sie starrte auf das Haus, wartete darauf, dass Maria zurückkommen würde, aber Maria kam nicht. Maria, ihre Freundin, ließ sie stehen. Johanna spürte, wie sich ein Bleigewicht auf ihre Brust senkte. Maria wollte nichts mit ihr zu tun haben, Maria mochte sie nicht mehr. Astrid musste gepetzt haben und jetzt würde Maria nie mehr mit ihr reden. Maria verabscheute sie, da war sich Johanna sicher. Es war zu spät.

Mit gesenktem Kopf ging Johanna nach Hause. Auf halbem Weg musste sie sich ins Gras setzten, da ihr schwindelig wurde. Sie stützte die Stirn auf die Knie und umschlang ihre Beine. Sie glaubte, nie wieder aufstehen zu können, so elend und schwach fühlte sie sich. Sie wollte nur noch weg von hier.

Als die Mutter im Jahr danach nicht locker ließ und sie drängte, im Dorf die Ferien zu verbringen, waren die Gefühle, die sie durchlebt hatte, präsent als sei keine Zeit verstrichen. Die Mutter appellierte an ihr Herz. Wer wüsste, wie lange der Großvater noch leben würde, und er würde sich freuen seine Enkelin zu sehen. Sie blieb jedoch bei ihrem Nein, der Großvater könne sie doch mal besuchen kommen. Es gab noch einiges Hin und Her. Als Johanna die Suppenschüssel aus Meißner Porzellan fallen ließ, schickte ihre Mutter sie zu einer Ferienfreizeit nach Ameland.

Der Tiefpunkt zwischen ihnen kam dann im Herbst. Johanna kehrte gerade zurück aus dem Kino, als sie ihre Mutter weinend vorfand, die Augen verquollen. So hatte sie ihre Mutter noch nie gesehen. Sie blieb vor dem Wohnzimmer stehen, überlegte, ob sie sich wieder rausschleichen sollte. Doch ihre Mutter sah sie. Plötzlich sprang die Mutter vom Stuhl auf und schrie sie an: „Dein Großvater ist gestorben und du amüsierst dich!“ Sie schlug ihr die Tür vor der Nase zu.

Der arme Großvater, so allein gestorben. Gerne hätte sie ihn besucht gehabt, aber es ging doch nicht. Sie wunderte sich über die Mutter. Hatte der Großvater ihr so viel bedeutet? Es gab doch nur eine Mauer zwischen ihnen. Sie dagegen hatte sich mit dem Großvater verstanden. Alles im Haus hatte sie sich ansehen, alles anfassen dürfen. Nie hatte der Großvater sie beschimpft oder geschlagen. Sie genoss jede Freiheit. Bei ihrer Ankunft gab es stets einen Teller mit ihren Lieblingskeksen auf dem Küchentisch und im Schrank Kakao, Nutella und Cornflakes. Einmal hatte er ihr sogar gezeigt, wie man schnitzt. Am Ende hatte sie ein wunderschönes Schwert und am Tag ihrer Abreise lag sein Perlmuttmesser auf ihrem Kopfkissen. Der Mutter hatte sie es nie gezeigt, weil sie fühlte, es würde sie ärgern.

Und nun war Johanna mit der Trauer der Mutter konfrontiert. Damit konnte sie weniger umgehen als mit der Wut, denn zu ihrer Verwunderung fühlte sie den Schmerz der Mutter, wie er sich in ihrer Brust ballte, wie er sich in den Kopf schlich und sie nur noch weinen wollte. Und gerade dieses Gefühl erfüllte Johanna mit Zorn. Sie wollte der Mutter nicht nahe sein. Sie und die Mutter hatten keine Gemeinsamkeiten und so sollte es bleiben. Armer Großvater.

Bis zum Tag der Beerdigung hatte die Mutter sie nicht mehr beachtet und sie auch nicht gefragt, ob sie mitfahren wollte. Sie war in ihr Auto gestiegen und hatte einen Zettel am Kühlschrank zurückgelassen mit Aufgaben, die Johanna zu erledigen hatte.

Nach der Beerdigung des Großvaters gab es nie wieder Schläge, aber die Mutter konnte ihre Tochter auch ohne Fäuste verletzten. Wie an dem Tag von Johannas Abiturball.

Das Motto lautete: Freibeuter der sieben Meere. Die Eltern hatte Johanna nicht eingeladen, weil das ihr Abend werden sollte, was der Vater verstand, die Mutter ihr jedoch verübelte. Johanna machte sich gerade im Bad zurecht. Sie trug ein schwarzes Kopftuch, schwarze Hosen und schwarze Kniestiefel, dazu eine weiße Bluse mit breiten Ärmeln und tiefem Ausschnitt. Natürlich musste der Busen zur Geltung kommen, nicht zu groß, nicht zu klein, schön rund war er. Mit ihm hatte sie Selbstsicherheit gewonnen; sie war jetzt nicht mehr ein kleines Mädchen, das herumgeschubst wurde, sondern eine Frau. Für eine Spätentwicklerin nicht schlecht. Trotzdem hatte sie keinen Freund. Jungs schienen ihr die Aufregung und das Getue nicht wert. Außerdem waren die Jungs, die sie kannte, alle Mittelmaß. Da regte sich nichts bei ihr.

Sie schwärzte ihre Augen mit Kajal und Wimperntusche. Perfekt. So sah sie verwegen aus, geradezu gefährlich. Gerade wollte sie Lippenstift auftragen, als ihre Mutter einen Blick ins Bad warf, den Kopf schüttelte und weiterging. Plötzlich kehrte sie um.

„Was ist nur mit euch jungen Leuten los? Statt ein hübsches Ballkleid anzuziehen, verkleidet ihr euch, als sei Halloween. Wie willst du jemals einen Freund finden?“

Die Mutter hätte gar nichts zu sagen brauchen, Johanna wusste auch so, was sie dachte. Vermutlich wollte sie ihr nur die Laune verderben. Erstaunlich, dass sie nichts über den Ausschnitt sagte.

Stattdessen sagte die Mutter: „Du bist wie ich.“

Das war ein Witz, sie war ganz und gar nicht wie ihre Mutter, nicht ein Stückchen. Warum redete diese Frau solch einen Unsinn? Doch dann kam der Hammerschlag, gekonnt wie es nur ihre Mutter beherrschte.

„Sex wird überbewertet. Dein Vater und ich hatten nie welchen und führen trotzdem eine gute Ehe. Es gibt sicherlich einen Jungen da draußen für dich, der ebenso denkt.“ Schon rauschte sie zu ihrer Staffelei, denn sie hatte das Aquarellmalen begonnen.

Der Lippenstift war am Kinn gelandet. Johanna nahm ein Kosmetiktuch und wischte ihn weg. Sie hatte nichts gehört, nein, sie musste es aus ihrem Kopf verbannen. Zu spät. Die Mutter hatte es ausgesprochen. Es gab keinen Weg mehr daran vorbei. All die Jahre hatte Johanna es vor ihr und sich selbst wie ein Geheimnis gehütet. Ihr Wissen, das sie sich aus Aussprüchen der Dörfler gebildet hatte. Niemals hätte sie es gegen ihre Mutter verwendet, auch nicht im härtesten Kampf. Immer hatte sie geglaubt, dass es ein dunkler Punkt im Leben ihrer Mutter war und den hatte Johanna schützen wollen.

Sie wollte auch nicht das Produkt eines Walrosses sein, wollte ihren Vater und nicht den Bürgermeister eines Kaffs namens Eichenstövel. Wie konnte ihre Mutter sich nur mit einem fetten, alten Mann einlassen und sich von ihm schwängern lassen? Sie war eine dumme, blöde Kuh. Wie konnte sie es ihr nur auf diese Art und Weise erzählen? Sie wusste doch gar nichts über ihre Tochter, wusste nicht, wie viel sie wusste. Johanna stand vor dem Spiegel, blinzelte mehrmals und drohte ihrem Gegenüber, nicht die Haltung zu verlieren. Ihre Mutter hatte sie verraten für einen Augenblick der Genugtuung. Johanna hielt sich am Waschbecken fest und ließ den Schmerz in sich dringen, leistete keinen Widerstand. Nur weinen, weinen wollte sie nicht. Keine Doofheitsflecken. Nein, sie würde auf den Ball gehen. Als Piratin, vor der sich die Welt fürchtete.

Ihr Vater hätte ihr so etwas nie angetan. Aber was wusste sie schon über ihn. Warum hatte er eine Frau geheiratet, die er nicht liebte? Hatte er ein Keuschheitsgelübde abgelegt, war er impotent oder schwul? Sie konnte ihren Vater schlecht nach seinem Sexualleben fragen. Und ihre Mutter? Sie war ganz und gar nicht so zufrieden, wie sie behauptete. Nein, sie, Johanna, würde nicht enden wie ihre Mutter. Sie hatte Gefühle in ihrem Körper.

Johanna legte ihre Fingerspitzen auf die Lippen und erspürte ihren ersten Kuss. Damals im Sommer auf dem Land. Warme, weiche Lippen, die ihre berührten und deren Wärme wie ein Strom durch ihren Körper floss. Es war zur Zeit ihrer Ekelphase gewesen. Sie ekelte sich vor dem Glibberspeck am Fleisch, vor Gläsern aus denen bereits andere getrunken hatten, vor dem Gemüse in der Suppe und vor den Jungs, die überall hinrotzten, ihre eigenen Popel aßen und die sich in allem den Mädchen überlegen fühlten. Eine Ausnahme gab es. Ein Blondschopf aus dem Dorf. Er trug die Haare bis zum Kinn und die Leute ärgerten sich darüber, so sähe ein Junge nicht aus. Natürlich entging Astrid nicht Johannas Interesse an ihm und sie versicherte ihr, dass sie keine Chance hätte. Er wollte mit Claudia gehen. Wer wollte nicht mit Claudia gehen? Und im Gegensatz zu Johanna konnte Claudia küssen.

Sie dachte daran, wie Claudia alle Jungs nach ihrer Pfeife tanzen ließ und die sich das gefallen ließen. Neulich hatte sie diesem Rotschopf einen Kuss versprochen, wenn er sich in den Brennnesseln wälzen würde. Claudia stand da, wie es einer Prinzessin geziemte. Um sie herum ihre Hofschar. Prinzen mussten sich den Aufgaben stellen. Alle hielten den Atem an, als der Rotschopf in den Graben voller Brennnesseln sprang. Was für ein Dummkopf. Claudia besah sich den Trottel von oben bis unten und meinte angesichts seiner Rötungen auf der Haut, dass er viel zu hässlich wäre für einen Kuss von ihr. Der ganze Hofstaat hatte gelacht, auch Johanna.

„Aber du hast mich als Freundin“, riss Astrid sie aus ihren Gedanken. „Ich zeige dir wie das geht. Das müsstest selbst du kapieren.“ Astrid nahm ihre Hand und versetzte ihr einen Schmatzer. „So küssen Tanten und so“, es gab den nächsten Kuss, „Kleinkinder“. Dann gab es einen weiteren Kuss, „und so Verliebte“.

Igitt, Spucke war auf ihrer Hand. Johanna ließ sich nichts anmerken, sonst würde Astrid wieder nur die Augen verdrehen.

„So und jetzt küsst du mich auf den Mund, mal sehen wie du dich anstellst.“

Das war nicht ihr Ernst, oder doch? Es war. Blamieren wollte Johanna sich nicht. Wenn sie erst einmal gezeigt hätte, dass sie küssen kann, würde sie es sicherlich nie wieder tun müssen. Sie spitzte die Lippen und drückte sie gegen Astrids Mund.

„Du hast Null Chancen gegen Claudia“, versicherte ihr Astrid. „Sei nicht so verkrampft. Stell dir vor, meine Lippen wären Götterspeise, die du mit verbundenen Augen und Händen essen möchtest.“

Woher nahm Astrid diese Vergleiche? Götterspeise. Das war albern. Aber Johanna schloss die Augen und legte die Hände auf den Rücken. Sie würde es Astrid schon zeigen. Ihre Freundin trat näher an sie heran, fast berührten sich ihre Nasenspitzen. Johanna bewegte sich nicht, spürte Astrids Atem auf ihrem Gesicht, roch den Duft der Wiesenblumen zu ihren Füßen, fühlte die Sonnenstrahlen auf ihrem Haar. Sie wartete und während sie wartete, schien ihr Körper weicher und schwerer zu werden. Lippen berührten ihren Mund, weiche, warme Lippen öffneten sich. So konnte sich also küssen anfühlen? Astrid mag mich, dachte Johanna. Freude durchströmte sie und sie glaubte darin zu versinken, fast fühlte es sich wie ein Schmerz an. Kein Gedanke war mehr in ihr, kein Zögern, keine Scham.

Umso erschrockener und verwirrter war sie, als Astrid sie wegstieß, sich mit dem Arm über den Mund fuhr und sagte: „Das ist widerlich. Du sabberst wie ein Hund.“

Johanna glaubte, ihr Herz würde aussetzten. Ihr ganzes Blut schoss ihr ins Gesicht und schien zu verbrennen. Sie flüchtete nach Hause, rannte und rannte. Astrid rief ihr etwas hinterher, aber es rauschte an ihr vorbei.

Sie war für alle Zeit blamiert und wenn Astrid etwas erzählen würde, würde sie sterben. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Sie war nicht normal, das musste es sein. Kein normaler Mensch fühlt so etwas bei einem Kuss. Sie schwor sich, nie wieder zu küssen, als sie sich auf ihr Bett warf und in das Kissen Wasser und Rotz heulte. Es war, als würde sie unter Krämpfen leiden. Sie hatte keine Kontrolle darüber und konnte es nur geschehen lassen. Allmählich ebbten die Schluchzer ab und der Tränenstrom trocknete.

Die Holzdielen quietschten, jemand kam zu ihr und am Gang erkannte Johanna, dass es Astrid war. Auf keinen Fall wollte sie ihr begegnen, schnell rutschte sie unters Bett und presste sich die Hand vor den Mund, damit sie sich nicht verraten konnte. Die Tür öffnete sich. Johanna betrachtete die Schuhe von Astrid, die mit der Spitze zu ihr wiesen. Was machte Astrid da nur? Oh, Gott, war das ein Spiel, wusste sie, wo Johanna sich versteckte? Tiefer konnte Johanna nicht sinken, wenn Astrid gleich nachsehen würde; wenn gleich ihr Gesicht mit dem Grinsen erscheinen und die Frage kommen würde, was dieser Kinderkram solle. Bei jeder Gelegenheit zeigte Astrid ihr, wie unreif sie sei, ganz im Gegenteil zu ihr oder Claudia. Die linke Spitze bewegte sich. Johanna durchzuckte etwas, das wie der Stromschlag war, den sie abkriegte, wenn sie mit den Mädchen im Wettstreit an den Elektrozaun der Weiden griff. Der Schuh wurde wieder an die alte Position gestellt. Hör endlich auf, Astrid. Am liebsten hätte Johanna wieder zu heulen angefangen, sie wusste, Astrid beherrschte dieses Spiel besser als sie. Noch einmal bewegte sich der Schuh und Johanna nahm die Hand vom Mund, es hatte sowieso keinen Sinn. Der Schuh wurde wieder zurückgezogen und dann ging Astrid weg.

Erst nach einer halben Stunde kroch Johanna unter dem Bett hervor und wusch sich ihr Gesicht. Wie ein Hund, der aus dem Wasser ans rettende Ufer klettert, sein Fell schüttelt und davontrottet, ging Johanna nun zum Opa, um mit ihm eine Partie Mühle zu spielen. So war das damals gewesen mit ihrem ersten Kuss.

Die Piratin hielt ihre Finger noch immer an die Lippen. Sie zwinkerte ihrem Spiegelbild zu und griff nach einem Stift mit dem sie sich einen Schmiss auf die Wange zeichnete. Danach legte sie den Degen an, den sie auf dem Dachboden gefunden hatte. Ihr Vater war in seiner Studentenzeit Mitglied einer schlagenden Verbindung gewesen. Zum ersten Mal in ihrem Leben gefiel sie sich von Kopf bis Fuß. Ja, sie war nicht die Schönste im Land. Ja, sie war die Frucht einer Dorfromanze. Ja, ihre Eltern waren kein Liebespaar. Ja, durch ihre Schuld war ein Mensch ums Leben gekommen. Aber heute Abend würde sie sich amüsieren, würde sie tanzen und lachen, sich ins Leben stürzen. Nein, sie war nicht wie ihre Mutter.

Der Abiturball war ein Erfolg. Johanna redete sogar mit Schülern, mit denen sie in der Oberstufe kaum ein Wort gewechselt hatte. Sie fühlte sich dazugehörig, tanzte mit den anderen im Kreis und trank auf ihre Zukunft. Sie bekam Komplimente wegen ihres Kostüms und der eine oder andere Junge flirtete mit ihr. Sie aber fand Gefallen an dem Kellner. Sie interessierte sich tatsächlich für einen Mann und sie ließ es geschehen. Die ganze Zeit hatte sie ihn im Visier. Conny, die Schulsprecherin, lehnte ihren Arm auf Johannas Schulter.

„Jonnie, Süße, du bist lockerer als ich gedacht habe. Mit dir kann man Spaß haben.“ Johanna gab ihr einen Knutscher auf die Backe. Der Kellner sah herüber zu ihr. Sie grinste ihn an und er grinste zurück. „Du hast Geschmack, der Typ ist heiß“, sagte Conny in einer Lautstärke, die auch er verstehen konnte.

Der heiße Typ ging an den beiden vorbei und streifte dabei Johannas Arm. Ihr wurde etwas schwummrig. Conny holte einen Joint aus ihrer Hosentasche.

„Durchs Pottrauchen haben die Frauen in meiner Familie seit Generationen den Orgasmus entdeckt.“ Conny ließ ihn in Johannas Ausschnitt fallen. „Süße, versau mir die Statistik nicht“, sagte sie und stürzte sich wieder auf die Tanzfläche. Das verrückte Huhn war schon eine Nummer für sich, und sie war wirklich nett.

Johanna fischte nach dem Joint, da fragte sie der Kellner, ob sie Hilfe brauche. Sie käme darauf zurück, antwortete sie. Jetzt galt es, einen Joint auszuprobieren. Schließlich gab es immer ein erstes Mal. Im Vorbeigehen schnappte sie sich ein Streichholzheftchen vom Tresen und verschwand auf den Parkplatz. Kassiopeia, Schlange und die anderen funkelten um die Wette. Bei ihrem ersten Zug bekam Johanna gleich einen Hustenanfall. Das Zeug war stark, brannte im Rachen, aber sie gab nicht auf. Komisch, es schien keine Wirkung auf sie zu haben. Doch dann bemerkte sie ein Kribbeln, das sich ausbreitete. Eine Sternschnuppe blitzte auf. Das fand sie so lustig, dass sie vor lauter Lachen vergaß, sich etwas zu wünschen.

„Darf ich mitlachen?“ Der Kellner war ihr nach draußen gefolgt.

„Das ist dein Wunsch?“, fragte sie, worauf er verdutzt dreinblickte. „Die Sternschnuppe, hast du sie nicht gesehen? Also, was ist dein Wunsch?“

Johanna zückte ihren Degen und richtete ihn auf seine Brust. Er erhob die Arme und kam einen Schritt vor. Die Spitze drückte sich in sein Hemd.

„Ich bin unbewaffnet und ergebe mich Eurer Gnade“, sagte er, wobei sein Blick ihrem standhielt. Es wäre eine Schande gewesen, eine solche Beute zu verschmähen. Ihr Arm senkte sich Stück für Stück, ein Hemdknopf nach dem anderen fiel. Dann warf sie den Degen zu Boden und griff nach seinem Nacken.

Was für ein Körper, was für ein Mund. Sie konnte gar nicht genug bekommen. Und was für Pobacken. Keine Sekunde dachte sie darüber nach, dass jemand sie sehen könnte, dass sie den Mann gar nicht kannte. Sie wollte diesen Mann, genau diesen Mann und zwar hier und jetzt. Das war ihre Nacht, die Nacht, in der sie sich häutete. Schaut nur zu, Kassiopeia und Schlange.

Als im Oktober ihr Politikstudium beginnen sollte, freute sie sich auf das neue Leben. Einen Anfang hatte sie bereits gemacht. Das alte Leben würde zurückbleiben. Johanna hatte gepackt und überlegte, ob sie sich von ihrer Mutter verabschieden sollte. Mit Absicht bügelte die Mutter im Keller die Wäsche. Wenn sie im Wohnzimmer gewesen wäre, hätte Johanna praktisch im Vorbeigehen Tschüss sagen können. So müsste sie hinuntergehen. Das wäre eine Niederlage und genau das wollte ihre Mutter. Darauf konnte Johanna verzichten.

Der Vater fuhr sie zum Bahnhof. Mehr als einen Rucksack und zwei Sporttaschen hatte sie nicht dabei. Sie würde ein möbliertes Zimmer im Studentenwohnheim beziehen, was ihrem Vater nicht gefiel, aber sie hatte sich durchgesetzt. Am Bahnsteig gab ihr der Vater noch einen Fünfzigmarkschein, damit sie in ein Restaurant gehen konnte, schließlich würde sie nicht mehr zum Einkaufen kommen.

Und dann sagte der Vater: „Ruf deine Mutter an. Es ist schwer für sie, dass du fortgehst.“

Für Johanna war es stets seltsam gewesen sich vorzustellen, dass die Eltern über persönliche Dinge sprachen, sich Sorgen und Freuden anvertrauten. Taten sie das? Eher wirkten sie wie zwei Fremde, die sich ab und an in einem großen Haus begegneten. Wahrscheinlich interpretierte ihr Vater zu viel in das Verhalten der Mutter hinein. Die Mutter vermisste jemanden, an dem sie herummäkeln konnte. Johanna nickte und winkte zum Abschied.

Das Leben an einem anderen Ort ermöglicht einem, Ballast zurückzulassen. Doch manchmal reisen einem Altlasten hinterher. Im vierten Semester erhielt Johanna eine Postkarte mit Babyschuhen als Motiv. Katja hatte eine Tochter geboren. Die Eltern verkündeten ihr Glück. Es war die erste Karte von Katja gewesen.

Johanna hatte schon lange nicht mehr an die Freundinnen aus Kindertagen gedacht. Die Sache war für sie abgeschlossen, war verarbeitet. Deswegen wollte sie auch nicht auf die Karte antworten. Warum alte Bindungen erneuern, Höflichkeit war nicht erforderlich nach so vielen Jahren. Doch dann, vielleicht aus einem Impuls vergangener Schuldgefühle, schickte sie Katja eine Gratulationskarte, was ein Fehler war. Von da an erhielt sie jede Weihnachten Briefe, besser gesagt Kopien, in denen Katja über die Entwicklung ihrer Tochter und die Ereignisse in der Familie berichtete. Quasi ein Familienjournal für alle Verwandten und Bekannten und den Ehemann, der häufig auf Montage war. Ein Journal über eine Bilderbuchfamilie, so stellte es zumindest Katja dar.

Am Ende des Studiums war dann sogar ein Anruf erfolgt, in dem Katja ein Treffen vorschlug. Wie Katja an diese Nummer gekommen war, konnte Johanna sich nicht erklären. Sie war zu verdutzt gewesen, um zu fragen und als sie es dann später tat, meinte Katja, Johanna habe ihr die Nummer geschrieben. Das war eine Lüge gewesen, aber sie hatte nicht weiter nachgeforscht.

Johanna löste sich aus dem Türrahmen und ging zurück in die Küche. Sie nahm den Stieltopf aus dem Mülleimer. Der Topf hatte nichts verbrochen. Sich an Dingen zu vergreifen, war keine gute Idee und es wäre auch keine gute Idee, die Einladung zur Beerdigung anzunehmen. Nichts, was sich lohnte, würde sie in diesem Dorf erwarten. Johanna beschloss, die Vergangenheit ruhen zu lassen.

Das Erwachen der Raben

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