Читать книгу Das Erwachen der Raben - Anke Schmidt - Страница 4
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ОглавлениеDer Wind schüttelte die Bäume, die den Parkplatz vom Altenstift „Sonnensturm“ säumten. Als Maria aus ihrem Wagen stieg, rollte ihr eine Kastanie vor die Füße. Sie bückte sich und hob die braune Kugel auf, die sich glatt anfühlte. Ihre Finger begannen, die Oberfläche nach Unebenheiten abzusuchen. Bis auf die kleine Mulde, die noch kurz zuvor in ihrer stacheligen Umhüllung geborgen war, konnten sie nichts erfühlen. Eine perfekte Nuss, dachte Maria. Wenn sie genau hinsah, konnte sie eine Holzmaserung aus Brauntönen auf der Haut erkennen. Die feinen Linien schienen die Schönheit des zukünftigen Baumes bereits anzudeuten.
„Hallo, Maria!“, rief eine Stimme hinter ihr. „Wie geht es deinem Vater?“
Maria sah auf und erkannte Herma Mensen. Ihre Mutter hatte den Einkaufsladen in Eichenstövel betrieben, dem Dorf, aus dem sie stammten. Jeden Tag besuchte Herma ihre Mutter im Altenheim, eine alte Dame e mit ängstlichem Blick. Maria biss sich auf ihre Lippe, denn sie selbst schaffte es nicht jeden Tag zu ihrem Vater, nur vielleicht jeden zweiten. Das schlechte Gewissen plagte sie oft. Insbesondere, weil sie ihn extra hierher nach Rahmeln ins Altenstift geholt hatte, damit sie so oft wie möglich zu ihm konnte.
„Soweit ganz gut“, antwortete sie und hoffte, dass diese Begegnung nicht lange dauern würde. „Und deiner Mutter?“, fragte sie und wollte lediglich höflich sein, denn im Grunde wusste Maria, dass Hermas Mutter schwer demenzkrank war und nicht mehr viel gemein hatte mit der vitalen Frau, die früher die lebende Zeitung des Dorfes gewesen war.
„Sie hat heute ihren Kuchen allein gemümmelt und ich musste sie nicht füttern.“ Herma schloss die Tür ihres Autos auf und zuckte mit den Schultern. „Man freut sich schon über die kleinen Dinge, nicht wahr.“
„Da hast du recht.“ Maria nickte. Ihr Vater war ein starker Mann gewesen, der einen Apfel mit einer Hand zerquetschen und einen Acker von zweihundert Quadratmetern an einem Nachmittag mit dem Spaten umgraben konnte. Heute war er zu schwach, um ohne Gehwagen auf die Toilette zu gehen. Noch immer topfit im Kopf, empfand er den stetigen Abbau seines Körpers umso quälender. Maria fühlte sich verpflichtet, sich als einziges Kind um ihren Vater zu kümmern, sie wollte eine gute Tochter sein, sich niemals etwas vorwerfen müssen. Aber es fiel ihr schwer. Ihr Verhältnis war seit vielen Jahren nicht besonders herzlich. Sie schüttelte den Kopf und ballte ihre Hand so stark um die Kastanie, bis ihre Knöchel ganz weiß wurden und schmerzten. Doch die Gewissheit, ungeliebte Tochter zu sein, blieb hartnäckig. Herma winkte zum Abschied und fuhr auf die Straße. Auf dem Weg zum Foyer steckte Maria die Kastanie in ihre Hosentasche. Vielleicht würde sie die Nuss in ihrem Garten in die Erde stecken. Einen Baum zu pflanzen, war eines der Dinge, die sie irgendwann in ihrem Leben tun wollte. Irgendwann. Vielleicht.
Alberts Augen leuchteten kurz auf, als er Maria erkannte, aber dann bekamen sie wieder ihren trüben Ausdruck. Er saß in einem Lehnstuhl auf der Terrasse, den Gehwagen hatte er griffbereit daneben geparkt. Sie war froh, dass er trotz des relativ rauen Wetters noch draußen saß und sie so dem Mief im Haus entgehen konnte.
Ohne Lächeln nickte Maria ihrem Vater kurz zu, nahm seine Decke und legte sie sorgfältig enger um seine Beine.
„Danke“, murmelte er.
„Möchtest du etwas trinken?“, fragte sie leise. Er schüttelte den Kopf und sah an ihr vorbei ins Blumenbeet. Die letzten Dahlien des Herbstes leuchteten vor dem grauen Himmel. Maria setzte sich neben ihn auf den Stuhl, nahm die Zeitung aus ihrer Tasche, schlug sie auf und begann zu lesen.