Читать книгу Das Erwachen der Raben - Anke Schmidt - Страница 8
5
ОглавлениеJohanna wickelte die Zahnseide um die Finger und säuberte ihre Zähne mit geübter Hand. Immerhin machte sie das jeden Tag seit ihrer Jugendzeit. In diesem Alter hatte sie einen wiederkehrenden Traum gehabt, nicht häufig, aber doch über mehrere Jahre in leicht abgewandelten Versionen. Die Zähne verlor sie dabei stets. So wie bei einem Maiskolben, über den ein Daumen fährt und die Körner abreibt. Futter für die Hühner auf dem Hof ihres Großvaters. Im Traum fielen ihr die Zähne ohne Vorwarnung aus, fielen aus ihrem Mund in die Hände, als würde sie ungenießbare Bonbons ausspucken. Jedes Mal war das Entsetzen groß. Plötzlich war sie ohne Zähne in der Welt. Dass auch die Symbolik nichts Gutes verhieß, dazu brauchte es keine Fantasie. Seitdem reinigte sie ihre Zähne mit Zahnseide. Sie wollte kein Risiko eingehen.
Johannas Zähne waren gesund und stark. Nie musste sie sich vor dem Zahnarzt fürchten. Ihre Zähne, die gefielen ihr, was für den Rest ihres Körpers bedingt zutraf. Früher hatte sie unter ihrem Äußeren gelitten. Jetzt dachte sie nicht mehr darüber nach, es störte sie nicht. Aus dem Hadern war sie herausgewachsen. Wie aus zu kleinen Schuhen oder dem Aberglauben, dort oben im Himmel sähe einer alles, was sie hier unten auf der Welt täte.
Nur letzte Nacht hatte ein Zahntraum sie wieder überfallen. Diesmal hatte sie sich keine Sorgen gemacht, gedacht, dass sei nur ein Traum, den kenne sie, da müsse sie sich keine Gedanken machen. Aber dann überkam sie im Traum die Gewissheit, dass sie nicht träumte. Böses Spiel.
Johanna blickte ihr Spiegelbild an, strich mit der Zunge über die Schneidezähne. Alles gut. Plötzlich stieg ihr Übelkeit vom Magen in die Kehle. Sie drückte ihren Handballen gegen die Brust und schluckte. Morgen früh hatte sie ihre Sendung im Radio zu moderieren, da musste sie auf der Höhe sein, Profi sein, so wie sie es von sich gewohnt war, wie sie es auch diesmal wieder erwartete.
Johanna ging zum Lichtschalter, berührte ihn, doch sie zögerte einen Moment. Licht fiel vom Bad ins Schlafzimmer. Die Decke des Doppelbetts war nur auf einer Seite aufgeschlagen, die andere würde leer bleiben. War da ein Geräusch von unten, von Sammy? Sie schritt in den Flur, horchte, doch nichts regte sich. Ihr Blick ging weg von der Treppe, hin zum anderen Ende des Flurs. David hockte sicherlich vor seinem Computer. Sara schlief, sie hatte morgen eine Chemieklausur vor sich. Johanna seufzte auf. Alles zu seiner Zeit. Jetzt erst mal ins Bett. Schlaf finden. Und morgen eine gute Sendung. Sie würde schon alles in den Griff bekommen. Eins nach dem anderen.