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Amen in Olten

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Im Lautsprecher wird meine Ankunft angekündigt, und schon komme ich; die Abfahrt wird angekündigt, und schon fahre ich wieder ab. Ein Zug bin ich, ein Personenzug: einer von vielen, effizient und pünktlich, im dritten Jahrtausend.

Im Dienst der Öffentlichkeit fahre ich auf Schienen kreuz und quer durch die Welt, CH ist meine Welt: mit irdischer Gewissenhaftigkeit, in amtlichem Auftrag; mit Decrescendo und Crescendo, kreischenden Bremsen, ratternden Rädern, wechselnden Menschen, die aus- und einsteigen; dann los, mit Höchstgeschwindigkeit unter jedem Himmel die tausend Schicksale zu befördern, die in einem einzigen vereint sind: meinem. Für eine Wegstrecke, für eine Portion Leben, registriert in Stunden, Minuten und Sekunden, verkörpere ich das Los meiner Passagiere: Ich nehme sie auf und übernehme die Verant­wortung, die Sache ist nicht ohne, und das wissen sie. Man braucht nur die Signora anzusehen, die in Wagen 3 eingestiegen ist; kaum hat sie sich ans Fenster gesetzt, noch nicht einmal den Mantel ausgezogen, nicht einmal die literarischen Zitate überflogen («Moi, le mauvais poète qui ne voulait aller nulle part, je pouvais aller partout.» Blaise Cendrars) oder das Gepäck der anderen beachtet, wendet sie sich in Gedanken schon den letzten Dingen zu, die plötzlich drohen, endgültig, keinen Blick wirft sie mehr auf den winkenden Enkel noch auf die Uhr am Bahnhof, in Olten: Schon formuliert sie in Gedanken ihr Gebet, gnädig sei ihr die Stunde, vielleicht die letzte, ihr wie jedem.

Dass sie betet, den Annehmlichkeiten abhold, die ich ihr bieten könnte, erkennt man an dem starren Blick; an den gefalteten Händen, am Zittern der Lippen. Wir vom Zug würden alles tun, damit ihr Köfferchen aufrecht zu ihren Füssen stehen bleibt, damit Handtasche und Schirm ihr nicht von den Knien rutschen. Ich persönlich würde gern zu ihr sagen Amen, Amen, und weiter geht’s. Allen von der Reise und der Unerbittlichkeit der Reise schwer geprüften Damen, allen verloren in der Riesengrösse des Zugs sitzenden Damen sage ich mein riesengrosses Amen; ihnen zuallererst: so häuslich fürs Jenseits eingerichtet, mit gezücktem Billett.

Der Habitué dagegen, und solche gibt es in jedem Wagen, zeigt, dass er keine Minute seiner An­we­senheit, seiner Reise, seiner Chance verpassen will. Alles nutzt er: belegt zwei Plätze, am liebsten oben, für sich und für die Zeitungen; wirft durchs ganze Abteil prüfende Blicke auf die Blätter der Mitreisenden, um sie sich anzueignen, sobald jemand aufsteht; sofort liebäugelt er mit dem Sitz gegenüber, den er einnehmen wird, falls gelegentlich die Richtung wechselt, in Luzern zum Beispiel. Und vor allem sichert sich der Habitué auf seinem Beobachtungs­posten die schöne Aussicht: nein, nicht auf die Weiden, die Wälder, das Röhricht von Sempach, mit dem Glockenturm im Hintergrund zur Erinnerung an den Sonntag; das alles ist selbstverständlich. Nein, unfehlbar reserviert er sich, schräg aus dem Augenwinkel, über und neben der aufgeschlagenen Zeitung, den Blick auf das schöne Mädchen, das telefoniert, die Wiesen betrachtet, liest, träumt, das Mobiltelefon kitzelt, sich schminkt, Tagebuch schreibt, kaut, die Tage zählt, sich eigensinnig die Haarspitzen abschneidet, anscheinend schielt es.

Gut, sage ich zu diesem ungeduldigen Mann: Du, der du die Zeit in der Hand hast, der du dich so genau auskennst, dass du beinahe vor mir am Ziel bist, und dann den Zug von dir abstreifst, wie man sein Jackett ablegt, gut, dass du im Ausschnitt über der Zeitung den langsamen Rhythmus eines Mädchens wahrnimmst, zwischen einem bedruckten Blitz und dem nächsten, in einer Andeutung ohne Überschrift die glatten Zeiten einer Julia erreichst, nennen wir sie so; ruhig gleiten ihre Gedanken über den See, wie die seidigen Haare einzeln durch ihre Finger, über den verzauberten Augen.

Seidenweich fügen sich dabei für sie jedes Ja, jedes Nein aneinander, die sie in ihrem Leben schon gesagt, schon erobert hat, seit sie sich erinnern kann. Manche davon kassiert sie, als löschte sie sie am Computer, delete, andere speichert sie und ordnet sie neu ein, mit politischem Instinkt, ohne Kamm, rechts oder links vom Scheitel; schon will sie sie mit dem Gummiband hinten zusammenbinden, da besinnt sie sich eines Besseren, sie schüttelt sich, wirft das Gewicht nach vorn, zerzaust alles vor den Augen und beginnt von vorne, schielender denn je.

Für sie, für die Julias, würde ich die Fahrt verlangsamen, ich täte das Unmögliche, führe endlos rund um den See. Leicht würde ich dahingleiten, zusammen mit den Schwänen, die paarweise auf dem Wasser hoch erhobenen Hauptes die Mücken zählen, ohne Julia von ihrer privaten Berechnung abzulenken. Die Minuten denken daran, sich zu verdoppeln, gespiegelt auf der Oberfläche: das Weiss dem Weiss treu, die 2 der 2 treu, so dass man nicht sicher ist, was dann wirklich stirbt, die Zahl oder ihre Spiegelung. Aber nichts da, kaum habe ich mir eine harmlose Abschweifung ausgemalt, höre ich schon, wie mich der unausbleibliche, erklärte Feind verflucht: dickbäuchig, aber jugendlich in der Kleidung, Sonnenbrille und Mütze mit Schirm nach hinten, als sässe er am Steuer eines Rennwagens. Auch die Schlüssel knallt er mir auf die Ablage, Schlüssel und Zigaretten: damit mir nur ganz klar wird, dass der Zug nichts ist für ihn.

«Hätte ich das Auto genommen, wäre ich jetzt schon in Fanta», gibt er mir zu verstehen.

Superpünktlich fahren wir durch Scienza: keine Verspätung angekündigt, milder Winter, null Reklamationen. Nur er: Der fingierte Jugendliche protestiert, misst die Zeit im Negativen: Wo wir nicht sind, wie spät es nicht ist.

«Nicht einmal in Finte wärst du.»

Er nimmt die Mütze ab, setzt sie wieder auf; steckt die Schlüssel wieder in die Tasche; sucht Schnee, wo keiner ist.

«Versteht ihr, wie langweilig Zugfahren ist.»

Rundherum findet er keine Zustimmung. Die meisten Leute schlafen, zu zweit, zu dritt, zu Telefonmusik; zwei Kinder lachen laut mit vollem Mund.

«In einer halben Stunde wäre ich da.»

Er schaut auf die Uhr, fügt hinzu, zieht ab; sein Knie wippt ungeduldig, das eine, das andere.

Würde er doch erkennen, mit wie viel Geschick, mit wie viel Elan ich mich in die Kurven lege, gerade schräg genug, um den Zug voranzubringen, ohne den Schwung zu verlieren, um schon Tunnels, Weichen, Stationsvorsteher vorauszusehen, die mir freie Fahrt geben, und meine Passagiere zufriedenzustellen. Ihn inbegriffen.

«Fanta», spuckt er ins Mobiltelefon.

«Finte», erwidere ich, im Vorsprung.

Auf der Autobahn stehen die Autos im Stau.

Finta, hier Bahnhof Finta: Der Lautsprecher erklingt im Ticken der Uhr; er wiederholt die Ansage auf Deutsch, mit grossem Erfolg: Eine Frau steigt ein, ganz Überschwang, die Arme voller knospender Kame­lien, Stechpalme und Calycanthus, ein Sonnentransport. Niemand hilft ihr, doch lächeln die Blumen in ihrem Arm, dem Garten treu; Verstimmtheit kennen sie nicht, der Hecke eingedenk werden sie die Möglichkeit haben, auf der Reise ihre Reifezeit zu vollenden, im Zug aufzublühen, als wäre der März schon fortgeschritten, als brächte mir schon der Osterverkehr in voller Fahrt den Fahrplan des ganzen Jahres durcheinander.

Circolare

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