Читать книгу Circolare - Anna Felder - Страница 12
Merlot im Tarnmantel
ОглавлениеIch habe allen Grund zu wissen, dass nicht Himbeersirup ist, was meine Reisegefährtin wie ein Kind mit einem Trinkhalm aus ihrer grünen PET-Flasche saugt. Der Halm färbt sich himbeerrot, und das Valser-Grün der zur Hälfte gefüllten Halbliterflasche sieht so dunkel aus, dass es irreführend wirkt.
Aber Himbeersirup trinkt die schweigsame Frau nicht, die sich im Abteil niedergelassen hat, und auch keinen Hagebuttentee: An ihrem Eckplatz am Fenster, mit Zeitungen, Proviant und SBB-Abonnement in Reichweite, schlürft die sportliche Dame als Valserwasser getarnten Rotwein, Tessiner Merlot nach Lust und Laune, um sich daheim zu fühlen, bevor sie zu Hause ankommt. Noch vor dem Gotthardtunnel, in Gurtnellen, in Wassen, in Göschenen.
Eine Augenweide, mit welchem Genuss sie die Sonne aus der Flasche zieht, für sich und für ihre abwesenden Tischgenossen: Sonnensaft im tiefsten Schlund der Tunnelketten, im dunkelsten der Abgründe. Und mit dem Saft genehmigt sie sich einen Bissen Brot und einen Happen Käse, die sie aus der Serviette wickelt.
Beneidenswert. Man könnte mit ihr anstossen, wenn sie nicht schon den Eindruck erweckte, in guter Gesellschaft zu sein, sich im gemeinsamen Heim zu entspannen, er und sie zusammen, wie es an einem gelungenen Tag geschieht, wenn man sich gegenseitig noch ein Glas Wein einschenkt.
«Hör, wie er singt», sagt sie mit dem Feuer in der Hand.
«Du bist es, die singt», lacht er und schaut auf ihren Mund.
Einen Kussmund macht jetzt die einsame Reisende im Zug, denn um den letzten Schluck auszukosten, muss sie Mund und Trinkhalm auf den Bodensatz konzentrieren. Wir sind im Tessin, Heimatluft, der Gotthard liegt hinter uns: Im allgemeinen Dämmerzustand scheint es nun, als zöge der Strohhalm die Würze aus den dort an der Sonne gereiften Häusern, aus dem Innersten der Truhen, aus den Kellern. Er scheint in die Hinterhöfe einzutauchen, in Schatten und Licht, in die Kirchen und ja, sogar bis in die Kirchtürme, die stillstehen und warten, Airolo, Prato, Giornico, bis in die Namen und die Wörter, um ihnen direkt aus dem Herzen den lebendigsten der Säfte zu saugen. Prost, Signora!
Ein sachdienlicher Hinweis: Die Reisende will keineswegs eines kommenden Tages im Zug enttarnt werden, wenn sie nach Silenen oder nach Amsteg ihr Labsal in der PET-Flasche hervornimmt. Sie zieht es vor, die Leute, allen voran den Kondukteur, im Glauben zu lassen, sie lösche den Durst mit Sirup, den sie vielleicht mit Mineralwasser verdünnte. Das scheint ihr einfacher, so würde auch ich es halten.
Und vor allem legt sie Wert auf das Geheimnis, denn wenn sie sich jedes Mal vor der Reise schweren Herzens anschickt, den hinter schöner Etikette gelagerten Merlot in ein ungebührliches Gefäss umzugiessen, so liegt ihr umso mehr daran, sich ganz privat, in ein Reiseformat geschlossen, eine Lebensportion DOC einzuschenken: ein Andenken an zu Hause als geistreiches Versprechen.