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Zu viel

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Wie immer setzte Luigi sich aufs Bett, um die Schuhe anzuziehen.

Schuhe von früher, Wildleder, Oberleder und Sohle noch wie neu.

Zu viele Schuhe hatte er, das sagte er jedes Mal.

Er holte Luft.

Mit dem Schuhlöffel schlüpfte er erst in den linken, dann in den rechten Schuh und zog die Socken straff: damit sie innen keine Falten schlugen, nicht später wehtaten. Erneut holte er Luft und richtete sich auf.

Dann beugte er sich noch tiefer über die Bett­vorlage, sodass er beinahe zwischen den Knien verschwand; vor sich selbst verschwand, denn um diese Zeit war, wenn Mirta nicht da war, niemand im Haus. Um sicherzugehen, drehte er sich um. Niemand.

Bevor er die Schuhe zuband, kontrollierte er, ob die Schuhbändel auch genau gleich lang waren, indem er die zwei Enden nebeneinanderhielt und mit den Fingern glattstrich: damit der Knoten dann nicht asymmetrisch würde.

Und die Schritte nicht schief; auch die Gedanken nicht.

Doch dies ist eine Überlegung von Mirta, eine unausgesprochene Unterstellung.

Im Übrigen war Mirta schon ausgegangen, ohne der Aufgabe des Schuhanziehens beizuwohnen. Sie wollte drei Einkäufe unter den Bogengängen erledigen, wobei sie versprochen hatte, im Lauf einer halben Stunde wiederzukommen, um Luigi auf einem Spaziergang zu begleiten.

«Ich bin gleich zurück», hatte sie mehrmals laut zu dem Mann gesagt, der von den Schuhen noch weit entfernt war.

Die Pantoffeln waren präsent, auch sie unausgesprochen, bequem und ordentlich zusammen mit Luigi, der im Wohnzimmer sass.

Derweil kannst du dich fertig machen.

Mirta hatte die Zeit für die Einkäufe im Viertel ungefähr nach der Dauer des Schuheanziehens zu Hause berechnet.

Doch auf halbem Weg war die Luft plötzlich dunkel geworden, der Himmel zwischen den Dächern trüb, ein schwarzer Hauch war von der Strasse aufgestiegen, und gleich darauf flog Abfallpapier, Fensterläden klapperten, die Leute suchten unverzüglich Schutz, hielten den Schal fest, die Päckchen, das Kind: Das Wüten war heftig, das Gewitter im Anzug.

In der Mitte zwischen Zuhause und Geschäft, konnte Mirta ebenso gut weitergehen: Vielleicht wäre es ihr gelungen, die Bogengänge zu erreichen, ohne nass zu werden, und sie hätte dort das Ende des ­Wütens abwarten können: gar nicht so lange, die Wolkenbrüche ziehen sich ebenso jäh zurück, wie sie auftreten.

In der Tat, noch bevor sie die Hagelkörner vom Boden abprallen sah, spürte sie, wie sie ihr auf den Kopf trommelten. Augenblicklich war die Strasse weiss, dampfte, Rinnsale von Hagel zerflossen und verdunsteten. Mirta schaffte es gerade noch, sich die Plastiktasche über den Kopf zu stülpen, fühlte die Füsse in den Sandalen planschen, es nützte nichts, sich an Hauseingängen unterzustellen, die Böen verschonten nichts und niemand.

«Spaziergang ade», sagte sie sich, bei den Bogengängen angekommen, von oben bis unten durchnässt, auch die Handtasche, das Portemonnaie, das Taschentuch von Wasser durchtränkt.

«Vielleicht hat Luigi die Pantoffeln anbehalten.»

Im Eingangsbereich des Geschäfts an den Einkaufswagen gelehnt, zog sie die Sandalen aus, um sich, so gut es ging, mit einer Papiertüte die Füsse, die Waden, die Hände zu trocknen.

Die Leute, die von der Kasse zum Ausgang strebten, waren trocken, aus einer anderen Welt; doch die Hereinkommenden waren klatschnass wie sie. Nackt wirkten sie; die Kleider lagen an wie Haut, schmerzten fast.

«Trocknet euch ab!», sagte ein herauskommender Vater gebieterisch; er hielt sein Söhnchen fest, stellte kurz die Flaschen ab, zog ein grosses, blaues Tuch aus der Tasche und warf es zwei triefenden Frauen zu.

Einige ahmten ihn nach: Ein untersetzter Bursche liess seine Mütze kreisen und setzte sie einem schönen Mädchen mit Schlangenlocken auf den Kopf, und eine junge Frau kramte einen leichten Schal aus dem Rucksack und legte ihn einem Mann um die Schultern, dem das Gehen schwerfiel, so als watete er immer durch Hochwasser.

Innerhalb weniger Minuten war die Hilfe all­gemein: Wer herauskam, achtete darauf, denen, die ­her­eintraten, einen Stofffetzen, das Taschentuch, das Haarband, eine Rolle Papier, Federn und Stifte oder wenigstens, wie Signora Viscoli, ein Bonbon anzubieten. Auch ein Hund erhielt seinen Teil.

«Ein Hund? Hunde dürfen doch gar nicht in Lebensmittelgeschäfte hinein. Was für ein Hund war es denn?»

«Ein angebundener Hund. Er zitterte. Er bekam ein Fähnchen. Von wem, weiss man nicht.»

«Eine Schweizer Fahne?»

Doch dies sind Fragen von später, als die Sintflut vorbei war. Fragen von Luigi, der mit geschnürten Schuhen auf dem Bett sass und auf Mirta wartete: voller Genugtuung, dass er schneller gewesen war als sie. Nun sieht er sie mit verstörtem Gesicht. Mit vollen Tüten und angeklatschten Haaren.

«Oh, sind sie nass?», fragt er überrascht, während er zuschaut, wie sie die Einkäufe verstaut, «wo warst du denn schwimmen?»

«Womöglich hat er gar nichts bemerkt», sagt sich Mirta, zeigt ihm ihre durchnässten Kleider, die ­Kapuze, die ein Wohltäter ihr geschenkt hat, und wiederholt ihm lauthals die Szene mit den impro­visierten Hilfsaktionen, mit Signora Viscoli und dem Hund.

«Und was hast du gemacht, als du die Schuhe angezogen hattest?», will sie wissen.

«Auch hier ist eine Menge passiert», erwidert er prompt. Er breitet die Arme aus, um zu zeigen, wie viel.

«Ich habe dir noch nicht gesagt, dass sie aus Italien angerufen haben, aus Pisa hat Vincenza ange­rufen mit ihrer Lachlust, doch die sei gar nicht angebracht, habe ich ihr gesagt, es sei nicht der richtige Moment, um am Telefon zu hängen bei diesem strömenden Regen: Du seist unterwegs, ich noch mit durchweichten Schuhen, es sei wirklich nicht amüsant. Sie dagegen wollte wissen, was mit dem Hund war, mit dem Fähnchen, und lachte gnadenlos immer weiter über den armen Hund.» − «Der war überhaupt nicht arm», gab Mirta zurück, «du hättest ­sehen sollen, wie er schwänzelte. Aber wie konntest du diese Geschichten am Telefon erzählen, du wusstest doch noch gar nichts davon.»

«Von wegen! Solche jungen Mädchen wie diese Hundebesitzerin habe ich in meinem Leben zur Genüge kennengelernt. Imstande, den Hund im Geschäft zu vergessen und dem Erstbesten nachzulaufen, um ihm jenseits der Grenze das Edelweiss zu schenken, ohne noch einen einzigen Gedanken an den armen Hund zu verschwenden. Così fan tutte.»

«Glaubst du.»

«Eine Geschichte hätte ich für dich.»

«Die erzählst du mir unterwegs, jetzt lass uns ­gehen, solange der Himmel frei ist.»

«O nein, noch einmal nass werden, das ist nichts für uns.»

«Pass auf, den Wolkenbruch habe ich abgekriegt, du bist schön trocken. Auch die Strassen übrigens, als hätten sie nie einen Tropfen Wasser gesehen. Schau.»

«Schon gesehen.»

«Vom Bett aus siehst du doch nichts.»

«Den Himmel sehe ich. Alle diese Kräne, die ihre Hälse am Himmel drehen. Jeden Tag kommt noch einer dazu. Zu viele Kräne am Himmel. Um Häuser und Fabriken für wer weiss wen zu errichten. Die niemand braucht. Leerstehende Wohnungen, leerstehende Hochhäuser und Hotels. Wer soll da einziehen? Zu viel, zu viel, sage ich, zieh den Vorhang zu, tu mir den Gefallen.»

Circolare

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