Читать книгу Circolare - Anna Felder - Страница 11
Die Eier von Bern
ОглавлениеWäre ich an jenem Montag vor dem Bahnhof von Bern tatsächlich in der anderen Welt gelandet, wem hätte ich dann recht gegeben?
Ihm, der mir zuruft: «Achtung», und mich im letzten Augenblick mit dem Arm und der Tasche warnt, mich nicht vom Trottoir vorzubeugen?
Ihr, die sofort gegen ihren Mann wettert, gegen die Ungehörigkeit, auf der Strasse eine Fremde anzusprechen? Laut keift sie, überschreit die Strassenbahn und die Bauarbeiten, die laufenden Pressluftbohrer; wütend beschimpft sie ihren Mann, er solle sich nicht in das Schicksal Dritter einmischen, das meine, ohne überhaupt zu wissen, wer ich eigentlich sei; was zum Teufel ihm einfalle, mitten im Verkehr eine Unbekannte anzuherrschen: noch dazu eine erwachsene und verantwortliche, selbständige Person ohne Gepäck – von mir, die eben aus dem Zug gestiegen ist, reden sie –, meiner Wege solle man mich gehen lassen in meinem Alter, Versicherung obligatorisch, unter die Strassenbahn solle man mich laufen lassen, wenn ich die Verkehrsregeln nicht kenne. Er solle lieber die volle Tasche nicht kippen, das Mittagessen für morgen stehe in der Tasche auf dem Spiel, Fisch, Eier und alles Übrige, um Gottes willen, die Eier.
Die Ampel bleibt noch einen Augenblick rot, lange genug, damit mir bewusst wird, welcher Gefahr ich entronnen bin: der plötzlich in der Kurve diesseits der Baustellenabsperrungen aufgetauchten Strassenbahn, genau in dem Moment, in dem ich mich, über den Trottoir vorgebeugt, um die für Fussgänger gesperrten Übergänge zu erwägen, blitzschnell wieder aufgerichtet haben muss: in extremis gewarnt von jenem gebieterischen «Achtung».
Danke, sage ich nun, indem ich mich umwende und das zu der Stimme gehörige Gesicht ausmache: Ich lebe noch, sehen Sie, bin gerettet.
Und da bei der Predigt neben mir kein Ende abzusehen ist, wiederhole ich recht laut, um die andere Stimme zu übertönen, an den Mann gewandt mein überzeugtes Dankeschön. Der hält die Augen einfach fest auf die Ampel gerichtet, stumm und aufmerksam, um den Signalen auf der Strasse zuvorzukommen; ohne auf seine Frau oder auch mich achten zu müssen, hält der Herr die Tasche mit den Einkäufen fest in der Hand, Eier und Gewissen unversehrt.
Und sobald die Ampel für die Fussgänger auf Grün springt, ist er bereit, seinen Heimweg fortzusetzen: Kerzengerade marschiert er durch den Radau in der Gewissheit, dass sie ihm folgt: Auf ewig folgt sie ihm, da hat er völlig recht, Stimme und Tonfall sind ihm keineswegs unbekannt; ganz im Gegenteil, sie sind ihm noch vertrauter als Bern.