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Herbstmorgen

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Die Kirche sagt: Die Erde ist eine Scheibe. Ich aber weiss, dass sie rund ist, da ich ihren Schatten auf dem Mond gesehen habe.“

Fernando Magalhaes (1480 - 1521)

Dies ist Amiels Geschichte.

Amiel schreckte auf. In der wirren Zwischenwelt von Schlaf- und Wachzustand hielt er einen Moment inne und fand schliesslich in seine Realität zurück. Er knipste das Licht an und tastete schlaftrunken nach dem Wecker. „05:12“ flüsterte dieser ihm erbarmungslos entgegen. Für ein paar Minuten liess er sich lustlos zurück ins Kissen fallen und schloss nochmals die Augen.

Da war er also wieder, dieser Traum. Nach zwei Jahren kehrte er unangekündigt zurück und zerstörte die Hoffnung, ihn als späte Kindheitsfantasie abhaken zu können.

An Schlaf war nun nicht mehr zu denken. Er starrte eine Weile zur Decke hoch. Dann, mit einem Seufzer, schaffte er schliesslich den Schwung aus dem Bett und trat ans Fenster seiner kleinen, heimeligen Dachwohnung. Zu früh, um aufzustehen, zu spät, um weiter zu schlafen. Draussen schimmerte das erste, sachte Blau am sonst schwarzen Nachthimmel und unterstrich die dünne Mondsichel, die dem hellen Morgenstern zur Seite stand.

Ein klarer, frischer Herbstmorgen, der früh erweckte Lebensgeister dazu einlud, ihr Erwachen mit ihm zu teilen.

Er machte sich auf ins Bad. Wie jeden Morgen wusch er sich das Gesicht mehrmals mit eiskaltem Wasser. Die einzige Chance, dem Schlaf zu entfliehen und dem neuen Tage entgegen zu treten. Er legte das Handtuch beiseite und blieb einen Moment still stehen. Seine Augen waren auf sein Spiegelbild gerichtet. Bei dessen Anblick beschlichen sein Herz nachdenkliche Zweifel. Seine Gedanken wühlten in einem chaotischen Eintopf von verstaubten Empfindungen und alten Fragen.

Eine vertraute Leere überkam ihn. Der Blick in ein Gesicht, das ihm so vertraut und gleichzeitig so fremd war. Die Begegnung mit dem eigenen Ich erschien ihm an manchen Tagen wie ein Blick hinunter in eine dunkle, nicht enden wollende Leere, als würde man in einen tiefen, dunklen Brunnen blicken ohne dessen Ende zu erahnen.

Es war nicht Schwermut und auch keine Traurigkeit. Seine Wesensart war meist fröhlich und aufgestellt.

Aber sein Gegenüber war einmal mehr schweigsam, kühl und voller unbeantworteter Fragen.

Sein Spiegelbild war der stille Gruss eines Unbekannten, wie ein weites, unentdecktes Land ohne Karte und Kompass.

Er betrachtete sich einige Minuten. Seine etwas aus der Form geratenen, buschigen Augenbrauen, die Grube am Kinn und die breiten Wangenknochen. Er hatte beinahe schwarzes Haar und tiefblaue Augen, ein gelungenes farbliches Zusammenspiel, wie die Leute sagten.

Er strich über den stoppeligen Ansatz seines Bartes, der längst einer Rasur unterzogen werden müsste, doch nun war ihm das egal. Er hatte vor, sich heute in der Werkstatt zu verkriechen und anderen Tätigkeiten möglichst aus dem Wege zu gehen, denn es war ihm nach dieser kurzen Nacht nicht nach Gesellschaft zumute.

Doch nun musste er raus zum Fluss, weg von seltsamen Träumen und alten Gegebenheiten. Im Grunde gab es nichts Herrlicheres als so ein Morgenlauf, nur war ihm der Preis der frühen Stunden oft zu hoch. Nun ergab sich diese Möglichkeit mal wieder.

Also verpasste er dem Spiegelbild eine Grimasse und kehrte dem Anflug von Grübelei bewusst den Rücken zu. Er begann zu summen und zog sich die Kleider über.

In der Küche gönnte er sich ein rasches Frühstück mit Käse und Brot und eilte schliesslich die Treppe hinunter. Wohl zu laut, denn unten war bereits die verärgerte Stimme von Herr Morreux zu vernehmen, den die quietschenden Treppen ebenfalls zu früh aus dem Schlafe rissen.

Amiel kümmerte sich nicht weiter darum. Der gute Herr Morreux war Amiels Vermieter und ein alter Bekannter. Ein feiner Kerl, den er seit Jahren vom Fischfang her kannte. Vor fünf Jahren bot er Amiel die kleine Wohnung auf dem Dachstock an, da dieser vom Elternhaus genug hatte und - von der frischen Meerbrise angezogen - beschloss, nach Westen aufzubrechen. Weg vom ländlichen Bauernland.

Schon immer träumte Amiel vom offenen Ozean und begann bald als Fischverkäufer und Bootsmechaniker zu arbeiten. Ausserdem hatte er in seiner Werkstatt alles Mögliche herumstehen, das ihm die Dorfbewohner zur Reparatur brachten. Das Handwerk hatte ihm stets gelegen.

Die Luft war kühl und liess keinen Zweifel, dass der Sommer sich Richtung südliche Hemisphäre bewegte. Wie jedes Jahr kam mit dem harschen Wind, den kürzer werdenden Tagen und dem morgendlichen Nebel ein Hauch von Wehmut auf.

Jedoch war es zweifellos Amiels liebste Jahreszeit. Sie erinnerte ihn an die Tage der Weinernte, die er als Kind in seiner Heimat miterlebte. Die vielen fröhlichen Stunden gemeinsamer Arbeit und abendlichem Feiern, wo es an gutem Essen, Tanz und Gesang nie mangelte.

Er nahm den bekannten Weg. Die Fischer waren längst auf See und brachten den Tagesfang ein. Das Dorf erwachte. Die Bäcker öffneten ihre Rolläden und der verlockende Duft von frisch gebackenem Brot und Croissants stieg ihm in die Nase. Die Marktfrauen schrubbten den Marktplatz und begannen, Eier und Gemüse aufzutürmen. Autos wurden herbei gefahren, Ware wurde ein- und ausgeladen, in der Schreinerwerkstadt ging das Licht an und zwei kleine Hunde jagten eine Katze mit viel Gebell um den Häuserblock.

Amiel liebte die kleine Stadt, so verschlafen und ein wenig altmodisch wie sie war. Doch hat sie all die Jahre ihren alteuropäischen Charme bewahrt und war mächtig stolz auf ihre winzige, aber schmucke Altstadt.

Sie war berühmt für ihre Steinhäuser mit den alten Ziegeldächern und den verzierten Dachgiebeln. Die Häuser der Altstadt waren ringförmig angelegt. In ihrer Mitte befand sich ein stattlicher Kirchplatz mit Pflastersteinen bestückt und einem alten Dorfbrunnen, den die Frauen im Sommer stets mit frischen Blumen schmückten.

Die Kaffeehäuser waren weit herum bekannt und der allmorgendliche Markt war ein beliebter Treffpunkt für Dorfklatsch und politische Unterredungen. An zwei Tagen die Woche verkaufte Amiel Fisch und war stets amüsiert, den heftig gestikulierenden Dorftanten beim Austausch ihrer neusten Schnäppchen und Skandalberichten zuzuhören.

Es gab nicht viele, die hierherzogen und Amiel brauchte seine Zeit, um das Wohlwollen der alteingesessenen Herren zu gewinnen.

Die Stadt war fern von Metropolen und Mode Erscheinungen. Irgendwo an einer vergessenen Küste, wo der Wind die meisten Besucher vom längeren Verweilen fernhielt. Doch die Menschen hier waren damit vertraut und nahmen es gelassen. Hie und da dachte Amiel daran, ein Leben in Paris oder Wien zu starten, doch waren ihm die runzligen Gesichter zu lieb und die See zu wild, um das alles zu verlassen. Er hatte gute Freunde gefunden und liebte die gesellschaftlichen Abende mit Bier und Männergesprächen, welche hier tief verwurzelte Kultur waren. Es war ein fröhliches und zugleich raues Volk, wie das Meer und die Fischerei es nun mal hervor bringen.

Amiel mochte diesen Weg. Ein kleiner Pfad, der sich Kilometer um Kilometer dem Fluss entlang zog und einem das Gefühl gab, weit in der Wildnis Kanadas verloren zu sein. Nur selten traf er hier auf andere Menschen. Dies war sein liebster Ort und sooft er die Möglichkeit hatte, kam er hierher, sass mit seiner Angel stundenlang auf den grossen Steinen, wanderte oder joggte bis über die Brücke und zurück. Das war seine Zeit zum Nachdenken und Träumen. Ein verkappter Philosoph nannten ihn seine Freunde mit einem Augenzwinkern. Vielleicht war er das, vielleicht auch einfach ein junger Mann, der die Natur liebte und hie und da ein Fleckchen Abgeschiedenheit suchte.

Und der manchmal - wie an diesem Morgen - zurückgeworfen wurde in eine alte Geschichte und in ein Gewirr von Fragen und Erinnerungen, die er verzweifelt zu zuordnen versuchte.

Er grub die Hände tief in seine Jackentasche, denn ihm war kalt. Er hielt an und betrachtete die Flussbiegung, die nun unten am Hügel zu sehen war. Wie er diesen Anblick liebte! Der Nebel lag über dem Fluss und bildete einen geheimnisvollen Hauch von Herbst. Er brach das goldene Morgenlicht wie durch trübes Glas, vollkommener als das Werk jedes Künstlers.

Da fand er sich wieder in den Bildern dieses Traumes, die ihn schmerzlich an der Hand nahmen, und zurückführten in ein vertrautes, ungelöstes Rätsel.

Er erinnerte sich ganz genau. Wann immer er in den Spiegel schaute, kamen Fragmente eines alten Lebensfilmes klar und deutlich vor seine Augen. Viel hätte er darum gegeben, sie endlich von sich zu schütteln, denn er war sie leid und sah keinen Sinn darin, sie Jahr für Jahr mit sich herumzutragen.

Es gelang ihm nicht.

Er war nicht wie alle Anderen.

Er war ein junger Mann, dessen Herkunft niemand kannte. Auch er selbst nicht. Er hatte keine Vergangenheit, zumindest fehlte ihm jegliche Erinnerung daran.

Der Traum der vergangen Nacht war Amiel bekannt. Das Erste, an das sich Amiel in seinem Leben überhaupt erinnern konnte, war exakt derselbe Traum, in voller Intensität und Klarheit.

Er erinnerte sich, wie er damals die Augen aufschlug und sich als fünfjähriges Kind alleine am Waldrand vorfand. Niemand war da und während Stunden sass er starr an Ort und Stelle. In seinem ganzen Leben hatte Amiel nichts Schrecklicheres erfahren, als diese ersten Stunden.

Er erinnerte sich an die völlige Orientierungslosigkeit und Ohnmacht, die es ihm unmöglich machten, in irgendeiner Weise zu agieren. Er sass nur da und fühlte Entsetzen.

Geblieben war ihm nichts als nur dieser Traum, nichts als eine graue Decke und das Gefühl, nackt und bloss im Nirgendwo steckengeblieben zu sein. Keine Erinnerung an seine Eltern, Geschwister, Herkunft oder Ereignisse. Er war einfach da, und vorher gab es nichts.

Stunden später begann er zu laufen. Es wurde bereits dunkel, als er ein Dorf erreichte. Er setzte sich auf die Türschwelle eines Hofes und blieb die ganze Nacht still an derselben Stelle sitzen.

So fand man Amiel. Niemand erfuhr jemals etwas über die Hintergründe.

Wie viele tausend Stunden Amiel auch fieberhaft, mit der Angel in der Hand, bei der grossen Flussbiegung darüber nachdachte, bis er fast die Besinnung verlor, nicht eine Erinnerung kam zurück.

Der Bauer, welcher Amiel auf der Türschwelle fand, gab dem Jungen zu essen und brachte ihn zur Polizei, wo ihm viele Fragen gestellt wurden. Amiel verstand sie, doch wusste er nicht, wie er zu antworten hatte und blieb stumm.

Während acht Monaten lebte Amiel in einem Kinderheim, ohne ein Wort zu sprechen. Er blieb die meiste Zeit still am Rande sitzen und beobachtete, was um ihn herum geschah und gewann ganz langsam Vertrauen in seine neue Umgebung.

An einem schönen Sommernachmittag kam ein Auto und seine neue Mutter und sein neuer Vater holten ihn zu sich. Er erinnerte sich, wie ihn seine Mutter strahlend und ungehemmt in ihre Arme schloss.

Er wurde adoptiert und erhielt alle erdenkliche Güte von zwei lebenslustigen, herzlichen Eltern. Seine Mutter erkannte schnell seine Furcht vor dem Alleinsein und sorgte dafür, dass er an Stabilität und Vertrauen gewann. Mit viel Feingefühl und Liebe begleite sie ihn zurück ins Leben. An manchen Abenden schaltete sie die Musik ein und tanzte mit Amiel wild durchs Haus, bis beiden vor Lachen die Luft wegblieb. Die Liebe und Fürsorge seiner Eltern heilten seine Schüchternheit und so begann Amiel zu sprechen und als die Schulzeit kam, bemerkte niemand mehr Amiels verlorene Jahre.

Er war stets etwas eigensinnig. Er war nicht unbeliebt, aber eben ein Träumer, den man gerne für den eigenen Vorteil gebrauchte. Nicht viele wussten von seinen ungewöhnlichen Herkunftsbedingungen, doch er selbst vergass sie keinen Augenblick.

Mit viel Kraft rang er darum, eine Identität zu entwickeln, die andere längst besassen.

Seine Mutter trug viel Sorge um ihn, doch war umso erfreuter zu sehen, wie ihr Sohn die Schwierigkeiten anpackte und begann, für seine Zukunft zu kämpfen.

Wenn Amiel heute an sie dachte, wurde ihm klar, welche Sorge sie um ihn getragen haben musste.

Natürlich hatten sie ihre Hypothesen, Ängste und Annahmen betreffend seiner Vergangenheit. Wurde ihm Gewalt zugefügt? Welche Art Trauma konnte einem Jungen widerfahren sein, dass er sich an keine Silbe seines vorgängigen Lebens mehr erinnerte? Natürlich fragten sie ihn immer mal wieder, ob er sich an etwas erinnerte. Seine Mutter tat dies mit aller Vorsicht und mütterlichem Feingefühl, doch Amiel sah die Verwirrung in ihrem Gesicht, als auch beim Eintreten seines 7. Lebensjahres kein Funke an Erinnerung zurückkam.

Seine Eltern beobachteten ihn genau, unterstützten ihn auf alle erdenkliche Weise und konnten ihre Zweifel doch nicht ganz verbergen. Verheimlichte er ihnen etwas? Gab es mehr als er erwähnte? Er konnte beobachten, wie die Frage seiner Identität seine Eltern ebenso bedrängte wie ihn selbst. Doch er verheimlichte Ihnen nichts. Ihnen zuliebe verbrachte er manchen Nachmittag, an dem seine Kameraden auf dem Dorfplatz Fussball spielten damit, im selbstgebauten Baumhaus ihres Gartens zu hocken und nachzudenken. Ihnen zuliebe hätte er so gerne eine Antwort gefunden. Doch es kam keine.

Die befürchteten Spätfolgen blieben aus. Er wurde psychiatrisch abgeklärt, doch gab es - bis auf seine träumerische, etwas verschlossene Lebenshaltung - keine Hinweise auf psychische Auffälligkeiten. Er entwickelte sich normal und zeigte - bis auf die biographische Eigenart - keinerlei Störungen. Anfangs war er ein sehr fröhliches, wenn auch ruhiges Kind. Erst im Laufe der Jahre, und mit wachsender Verwirrung über seiner eigenen Geschichte, kam eine gewisse Dunkelheit wie ein langsam aufziehender Schatten über ihn. Er war Amiels geheimer Begleiter und dieser hielt beharrlich jedem Versuch stand, sich seiner zu entledigen.

Der Traum jedoch kam zurück. Manchmal alle paar Wochen, dann blieb er eine Weile aus und kam erneut. In gewisser Weise hasste Amiel diesen Traum, denn immer erinnerte er ihn unmittelbar an seine Lebenswunde. Zugleich aber liebte er ihn! Es gab nichts, was ihm herrlicher vorkam als die Bilder dieses seltsamen Landes. Es war sein Schutzort, sein Geheimnis. An jenem Ort war er geborgen und leicht, ganz und gar sich selbst.

Die Mystik dieses Traumes begeisterte ihn und er sann oft darüber nach. War ihm dieser Ort bekannt? Wohnten dort vielleicht seine vergessenen Eltern? Warum gab es diesen Traum und was wollte er ihm sagen?

Als Kind stellte er sich oft vor, an jenem Ort zu sein. Irgendwo ein Haus zu finden, wo ein Cheminéefeuer brannte und ein gedeckter Tisch in der Küche stand. Am Tisch sassen seine erträumten Eltern, seine Brüder und Schwestern. Dort hatte er eine eigene Familie, zu welcher er gehörte.

Mit 10 Jahren hatte Amiel genug von dieser elenden Grübelei. Er beschloss, das alles hinter sich zu lassen und mit Tagträumereien aufzuhören. Das Nachdenken wurde ihm zuwider und er hatte fest vor, das Leben nicht mehr an seine Vergangenheit zu verschwenden.

In diesem Jahr kam sein Bruder Lyon zur Welt. Alles stand auf dem Kopf. Die Eltern waren zutiefst überrascht, denn schon seit Jahren war ihnen klar, dass sie niemals eigene Kinder bekommen konnten. Lyon jedoch schaffte es, sich durch die medizinische Unmöglichkeit hindurch zu schleichen und brachte grosse, unerwartete Freude in die Familie. Auch für Amiel, denn er hatte sich sehnlichst einen Bruder gewünscht. Selbst wenn dieser ein kleines Baby war und kein ebenbürtiger Spielkamerad, kümmerte er sich rührend um Lyon und platzte oft fast vor Stolz über seinen hübschen Bruder. Die Eltern waren hocherfreut über dieses Geschenk. Es war wie ein frischer Frühling und die sorgenvolle Aufmerksamkeit gegenüber Amiel wurde durch die neue Aufgabe abgelenkt. Über diese gegebene Distanz zu seiner Herkunftsgeschichte war er äusserst dankbar.

Versunken in all diesen Erinnerungen war er am Fluss angekommen. Der Waldboden war übersät mit farbigen Blättern, alles war still und andächtig. Sein Vater war ein begnadeter Pilzesammler und hatte ihm vieles beigebracht. Wie oft waren sie im Wald und suchten nach Pilzen. Er mochte die Naturverbundenheit seines Vaters. Schon sehr früh brachte er ihm das Fischen mit der Angel bei und gelegentlich durfte er mit zur Jagd.

So fand er auch an diesem Morgen einige Pilze, die er zufrieden einsteckte. Er kochte ganz gerne und freute sich auf ein gutes Abendessen. Er begann, nach passenden Kräutern zwischen den Gräsern zu suchen.

Lyon wurde kürzlich 15 Jahre alt. An seinem Geburtstag reiste Amiel seit langen wieder einmal nach Hause. Es war schön zu sehen, welche Fortschritte Lyon machte und wie sehr er sich darüber freute, seinen Bruder zu sehen. Es rührte Amiel tief und er war selber immer wieder überrascht, wie viel Liebe für Lyon in ihm aufstieg, wann immer er ihn sah. Und wie viel Schmerz!

Jahre zurück, als Lyon gerade mal 3 Jahre alt war, änderte sich alles. Amiel wollte nicht daran denken. Er ertrug es schlichtweg nicht.

Es war einer dieser grauen Tage im November. Seine Mutter besuchte eine kranke Arbeitskollegin und bat Amiel, mit Lyon spazieren zu gehen.

An jenem Tag wandelte sich etwas, was sich langsam in seinem Innern angebahnt hatte. Denn sein kleiner Bruder wurde grösser, begann zu laufen und zu sprechen. Amiel beobachtete die Entwicklung seines Bruders, wie fröhlich und unbeschwert er war und wie er jedes Herz im Sturm erobern konnte.

Obwohl seine Eltern sich alle Mühe gaben, Amiel dieselbe Aufmerksamkeit zu schenken war es eine unausweichliche Realität, dass er niemals in derselben Weise zur Familie gehören würde, wie Lyon. Der Gedanke schlich sich ein, ihnen lästig zu sein und unterschwellige Wut begann sich breit zu machen.

Die Jugendjahre brachen an und erneut kamen Selbstzweifel auf. Lyon wurde auf einmal zur Bedrohung, denn er kannte seine Herkunft und ging mit einer so offenherzigen, friedlichen Haltung auf die Welt um sich herum zu. Amiel selbst kannte diesen Frieden nicht. Er spürte, wie Verbitterung ihn antrieb und seinen sonst fröhlichen Geist beschwerte und an gewissen Tagen fühlte er eine Art kalte Hand schwer auf seinen Schultern liegen. Er war anders als alle anderen.

An diesem Tag brach das Kartenhaus zusammen. Während er seinen kleinen Bruder im Kinderwagen die Strasse entlang schob, kam nichts als pure Verzweiflung und einen nie gekannten Ärger über ihn. Er wollte Frieden, eine Heimat, die nur ihm gehörte und die er nicht zu teilen brauchte. Er wollte bedeutend sein, in ihm schrie es nach Anerkennung und Wert, ohne diesen ständigen Unterton von Bemitleidung. Er hatte genug davon, sich allem anzupassen und doch nirgends dazuzugehören.

Wütend war er, zum Zerspringen wütend. Die Rolle des armen, verlassenen Kindes legte ihn in Ketten und er war bereit, alles zu tun, um diese abzuschütteln.

Dann fiel sein Blick wieder auf den friedlich schlafenden Bruder- unbeschwert und geborgen- und sein Gegenüber wurde ihm zum Feind. Er fühlte nur noch Eifersucht und Abscheu.

Mit grosser Wucht stiess er den Kinderwagen den steilen Hang hinunter, auf dem sie beide standen. Und ohne die geringste Gefühlsregung sah er mit an, wie der Wagen schneller und schneller wurde, sich überschlug und sein Bruder mit einem Schrei herausgeschleudert wurde und mit voller Wucht gegen den harten Asphalt prallte.

Erst einige Sekunden später, als Amiel realisierte, dass Lyon weder weinte noch schrie, sondern ganz stumm und reglos am Boden lag, kam Panik in ihm hoch. Wie versteinert stand er da, als ihm die volle Konsequenz seiner Tat bewusst wurde.

Dann rannte er hin zu seinem Bruder, von dessen kleinem Köpfchen Blut über den Asphalt floss.

Mit einem Schrei hob er ihn hoch und rannte so schnell ihn seine Beine trugen zum nächsten Haus. Schreiend und voller Verzweiflung hämmerte er an die fremde Türe, wie in Trance versunken.

Dann ging alles sehr schnell. In Amiels Erinnerung waren es nichts als Bewegungen von Menschen, Rufen, Sirenen, wie Momente in Zeitlupe. Er stand nur da bei seinem blutenden Bruder und war taub und kraftlos.

Er sass auch noch da, regungslos und verstummt, als er seine Mutter den Flur des Krankenhauses hinauf eilen sah, zerbrochen und von Schmerz überwältigt. Sie schüttelte Amiel ungehalten, drückte ihn gleichzeitig in tiefer Verzweiflung an sich und weinte.

Lyon lag über eine Woche im Koma. Die Computertomographie zeigte die Kopfverletzung, welche ein grosses Hämatom im Gehirn verursacht hatte. Über die Tage stellte man fest, dass sich die Blutung zurückbildete und die Ärzte schöpften Hoffnung.

Die Mutter verliess das Krankenhaus keinen einzigen Tag. Sie sass an seinem Bett und weinte, streichelte seine Hand oder las ihm Geschichten vor. Wenn Amiel sie beide mit seinem Vater besuchte, so fürchtete er sich am meisten vor dem Anblick seiner leidenden Mutter.

Natürlich hatten sie ihn gefragt wie dies alles passieren konnte. Die Wahrheit hätte er niemals sagen können, das war ihm klar. Er berichtete, wie er gestrauchelt sei und dadurch den Wagen los gelassen habe.

Sein Vater entbrannte in Wut und schrie ihn an. Er entschuldigte sich später, doch Amiel wollte keine Entschuldigung. Die Hilflosigkeit seines Vaters, der in diesen schweren Tagen bei ihm zu Hause blieb und sein Bestes tat, seinen Ärger über Amiels Missgeschick zu verbergen, prägten sich in die Seele ein. Er sah ihn abends mit geballten Fäusten vor dem Haus auf der Bank sitzen und erkannte seine Stunden schweren Haders mit dem Schicksal. Doch es war kein Schicksal, es war Bosheit, nackte Bosheit und niemand ausser Amiel selbst wusste es. Nicht einmal Lyon würde jemals wissen, dass es kein Unfall war.

Die Schuldgefühle zerfrassen ihn. Wenn er je zu dieser Familie gehört hatte, so hat er sich nun zweifelsohne selbst daraus ausgeschlossen. Die einzigen Menschen, die ihn liebten, hatte er beraubt und zerstört. Er sah in den Spiegel und seine Identitätslosigkeit schien auf Ewigkeiten beschlossen zu sein, denn ein Zurück würde es für ihn nicht mehr geben.

Es gab Tage, da hätte er ihnen so gerne die Wahrheit gesagt und hat darauf gewartet, dass sie ihn vor die Türe stellten und niemals mehr ein Wort mit ihm redeten.

Die Worte krochen einige Male wie von selbst über die Lippen, doch im letzten Moment hielt er sie erschrocken zurück. Wo sollte er denn hingehen? Es gab keine anderen Menschen, die er kannte und die ihn liebten. So entschied er sich für die eigene Feigheit und hasste sich dafür.

Lyon erwachte nach neun Tagen und sein Zustand wurde stabil. Zunächst kam endlose Erleichterung über die Eltern. Seine Mutter kam wieder nach Hause und schlief sich aus, ass und schöpfte Hoffnung. Sie setzte sich hin zu Amiel und begann mit ihm über alles zu sprechen. Er selbst hielt sich so knapp wie möglich. Er hatte es nicht verdient, dass sie sich ihm wieder zuwandte. Ach, was war seine Mutter für eine starke Frau. Sie hatte ihr einziges Kind fast verloren und entschied sich trotzdem, Amiel nichts nachzutragen oder ihm weiter Vorwürfe zu machen. Sie war offen und ehrlich zu ihm, erzählte ihm von ihrem Schmerz und ihrer Enttäuschung. Sie versicherte ihm, dass sie ihn liebte und ihn niemals dafür bestrafen würde. Sie entschuldigte sich für ihre Härte und den schroffen Umgang der letzten Woche.

Sie gab sich wirklich Mühe, ihm Nähe zu zeigen und ihm zu helfen, sich selber zu verzeihen. Doch dies konnte er nicht annehmen. Ihn ihm schlummerte nur der Gedanke, dass sie ihn niemals mehr lieben könnten, wenn sie beide die Wahrheit kannten.

Er zog sich wieder in seine Welten zurück und erstickte den Keim seiner Selbstabwertung in einigen wilden Jugendjahren.

Dies war die eine Seite. Die andere aber versuchte verzweifelt, das Leid in der Familie zu lindern. Wenn er zu Hause war, dann half er, wo er nur konnte und hielt sich selbst für nichts zu schade.

Der Unfall hinterliess seine Spuren. Lyon hatte ein Schädelhirntrauma erlitten und die Blutungen schädigten die Nervenbahnen. Ein halbes Jahr lang blieb Lyon in der Rehabilitation und seine Eltern waren voll damit beschäftigt, für ihn da zu sein und so viel Zeit wie möglich bei ihm zu verbringen.

Der Schicksalsschlag veränderte die Familie und alles wurde anders. Die Mutter hörte mit ihrer Arbeit auf und wohnte hauptsächlich bei Lyon. Der Vater arbeitete den ganzen Tag, erledigte mit Amiel den Haushalt und versuchte, so oft er konnte in die Rehabilitationsklinik zu fahren.

Für Amiel blieb wenig Zeit, doch hätte er dies auch nie erwartet. Mit Sorge betrachtete er, wie die Eltern sich abmühten, das Beste aus der Situation zu machen und für die Familienzukunft zu kämpfen. Doch für ihre Ehe war dies eine Zerreissprobe. Sie waren die meiste Zeit getrennt voneinander und wenn sie sich sahen, dann galt ihre volle Aufmerksamkeit Lyons Gesundheit. Die Genesungsschritte verliefen sehr langsam. Er lernte wieder, alleine zu essen, sich zu bewegen und zu sprechen. Er durchlief täglich mehrere, verschiedene Therapien und wurde nach besten Methoden der Medizin gefördert. Nach einigen Monaten konnte er wieder gehen, doch war es eine mühsame Fortbewegung und sein rechtes Bein hinkte von diesem Zeitpunkt an immer etwas nach. Auch beim Sprechen blieb ein Stottern zurück und er suchte oft lange nach den richtigen Worten.

Mit den Jahren wurde klar, dass Lyons grösste Behinderung auf der kognitiven Ebene lag. Er war stark lernbehindert und hatte Mühe, sich räumlich zu orientieren. Er benötigte für alle Verrichtungen des Alltages viel Zeit und seine Mutter übernahm seine vollzeitliche Pflege.

Als Lyon 8 Jahre alt war, kam er in eine Sonderschule. Zur Überraschung aller machte er auf einmal grosse Fortschritte und man entschied, ihn in eine Schule für lernschwache Kinder zu befördern.

Er schleppte sich durch die Schuljahre und hielt sich stets knapp über Wasser. Er kämpfte und lernte jeden Abend einige Stunden extra. Die Eltern unterstützten ihn und zogen professionelle Hilfe bei. Sie schöpften Hoffnung, dass Lyon doch noch einen Beruf erlernen könnte oder irgendwo als Hilfsarbeiter seinen späteren Lebensunterhalt verdienen könnte und wollten ihm unbedingt eine gute Schulbildung ermöglichen,

Amiel tat sein Möglichstes, seinen Bruder zu unterstützen. Von dem Augenblick, als Lyon aus der Therapie entlassen wurde, schwor sich Amiel, seinen Bruder vor allem Bösen der Welt zu beschützen und sein Möglichstes für sein Wohl zu tun. Er half ihm viele Abende beim Lernen, unterstützte ihn bei seiner Körperpflege, kaufte ihm Süssigkeiten, brachte ihn zur Schule und holte ihn am Abend ab. Seine Mutter war über diese Hilfe sehr erleichtert.

Dabei wurde Amiel Zeuge von Lyons wahrer Prüfung.

Lyon war der Schwächste von allen Schülern. Während die anderen mit leichten Einschränkungen kämpften, so hatte Lyon riesige Berge zu bewältigen.

Je öfter ihn Amiel von der Schule abholte, desto mehr beobachtete er die Peinigungen seines Bruders.

Er sah ihn mit seiner Mappe unter dem Arm die Strasse entlang hinken. Die anderen Jungen umringten ihn und verspotteten ihn lauthals. Sie lachten über Lyons nachgezogenes Bein und seine offensichtlichen Macken. Sie witzelten über sein Stottern und äfften ihn hämisch nach. Sein Bruder erduldete hässliche Beleidigungen, Spott und Hohn.

Amiel begann alles daran zu setzten, seinen Bruder vor ihnen zu beschützen. Er versuchte, immer genau zum Schulschluss bei Lyon zu sein, damit er nicht alleine loslaufen musste. Erwischte er jemanden, der Lyon verspottete, so war er erbarmungslos. Einige Male verteidigte er ihn mit blossen Fäusten und hinterliess einige blaue Augen. Er setzte sich mit den Lehrern in Kontakt, doch die schenkten ihm kaum Gehört. Am allermeisten aber versuchte er, dies vor seiner Mutter geheim zu halten. Sie hätte es nicht ertragen, das wusste er.

Lyon selbst nahm alles schweigend hin. Er brauchte schon genügend Kraft, dem ganzen Lernstoff mit seinen Mängeln gerecht zu werden. Es schmerzte Amiel abgrundtief, ihn so zu sehen. Er wusste, dass er sein Bestes tat, seinen Eltern den Wunsch einer guten Schulausbildung zu ermöglichen. Dafür zahlte er einen hohen Preis.

Amiel rächte den Spott, dem sein Bruders und stand für dessen Wohl ein, so gut er es vermochte.

Lyon verehrte Amiel und wäre ohne ihn nicht in der Lage gewesen, die Schuljahre zu bewältigen. Für ihn war Amiel sein treuster und engster Freund.

Amiel selbst aber fand in der Liebe seines Bruders keinen Frieden. Nur Anklage und die harte Forderung an sich selbst, allem Unrecht, das Lyon zustiess, ein Ende zu schaffen.

Er litt grosses Leid, die Einsamkeit und Verstossenheit seines Bruders mit ansehen zu müssen, so sehr, dass er seine eigene ganz vergass.

Es waren Jahre des Zerrisses.

Die Behinderung von Lyon hinterliess schlussendlich auch eine tiefe Wunde in der Ehe seiner Eltern. Auch wenn sich die Umstände verbesserten und die Arbeit weniger wurde, die Kluft war gross.

Die Anspannung ihres Alltages führte immer öfters zu Streit und Unstimmigkeiten.

Sie arrangierten sich mit der gegebenen Situation und es kam weder zur Scheidung noch zur Heilung. Das einstige Familienleben wurde bestmöglichst fortgeführt.

Lyon schaffte seinen Abschluss und begann, eine Arbeit als Bäckergehilfe in der Dorfbäckerei. Die Jahre seiner Qual waren vorüber, niemand schikanierte ihn mehr.

Amiel konnte aufatmen. Doch wusste er genau, dass die Wunden dieser jahrelangen Ablehnung ihn sein Leben lang begleiten würden. Er würde nie sein wie die anderen. Genau wie Amiel selbst. Er war anders und hatte dieses Schicksal nun seinem Bruder auferlegt.

Mit 22 Jahren wuchs ihm der ständige Zerriss über den Kopf. Er musste ihn abschütteln, wollte seine eigenen Mängel hinter sich lassen wie auch die Jahre des mitgetragen Leides seines Bruders.

Er wollte hinaus in die Weite und irgendwo ein Neuanfang machen. Seine Eltern liessen ihn schweren Herzens gehen und Lyon war schrecklich traurig. Amiel versprach, so oft es möglich war, nach Hause zu reisen und ihn wöchentlich anzurufen.

Er zog fort ans Meer und begann ein ruhiges Leben, fern von familiären Spannungen und Selbstvorwürfen.

Es gelang ihm ganz gut. Zum ersten Mal fand er gute Freunde und genoss die Einfachheit des Kleinstadtlebens. Handwerk, Segeln, Fischen und die Ruhe eines geregelten Lebens gaben ihm schlussendlich die ersehnte Zufriedenheit zurück.

Der Abstand tat ihm gut und die alten Lasten brachen weg. Er entwickelte sich zu einem ausgeglichenen, kontaktfreudigen jungen Mann, der sich den Freuden und Schönheiten des Lebens nun bewusst zuwandte. Er fühlte sich endlich mit beiden Beinen am Boden eines selbstbestimmten Lebens.

Bis zu dem Tag, als der Traum zurückkehrte und mit ihm seine Kindheit, die weder beantwortet noch versöhnt war. Sie stellte sich eigenmächtig auf die Bühne der Zeit und verwarf die Epoche des friedlichen, stillen Lebens.

An diesem lauen Herbstmorgen war die Idylle wie weggewischt und seine Geschichte tippte ihm sanft, aber bestimmt auf die Schulter.

Und Amiels Abenteuer begann.

Lebe mit deinem Jahrhundert, aber sei nicht sein Geschöpf!“

Friedrich Schiller

("Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen, 1793- 1794", 9 Brief)

An die Ränder der Erde

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