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Noer

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Das Schiff näherte sich dem fremden, nie zuvor erkundeten Land. Wohl hatte manch einer der grossen Entdecker diese letzten Minuten wie Amiel verbrachte - eng an den Frontmasten gepresst und mit stockendem Atem - und auf jene sich aufschliessenden Landstriche gestarrt.Mit den sich schärfenden Strukturen jener Insel und den ganzen Erlebnissen der letzten Tage, löste sich Amiels Welt aus aller Erklärbarkeit und Logik. Was hier geschah, überstieg den menschlichen Anspruch nach Vernunft.

Amiel erkannte eine leicht hügelige Landschaft, die kleine Sandbuchten und steinige Anhöhen formte. Liebliches, junges Grün überzog die Hügel, hohes Gras, wo weder Büsche noch Bäume zu sehen waren. Am Strand konnte er vier Holzboote erkennen, die dort befestigt waren.Häuser konnte er jedoch keine ausmachen.Dann sah Amiel drei Personen, die im Schatten eines Felsens sassen und ihn beobachteten. Als er näher kam, erhoben sie sich. Amiel war mulmig zumute. Die Männer waren leicht bekleidet, trugen ausschliesslich knielange Hosen und lange Überhänge.Sie wirkten sehr kräftig, und Amiel war sich seiner Lage bewusst. Seine Augen suchten nach Dalin, der jedoch nirgends zu sehen war. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als direkt auf sie zu zu steuern. Die Männer standen nun mit strengem, verunsicherndem Blick am Strand und warteten, bis er näher kam. Dann riefen sie ihm etwas zu, das Amiel nicht verstand.Doch dann, als wäre ihm eine neue Welt aufgeschlossen worden, erfasste er die unbekannten Silben.Er konnte jedes Wort verstehen, obwohl er die Sprache nie zuvor gehört hatte.

„Anhalten!“, hörte er. Er sah, wie einer der Männer ein Messer zückte. So gut es ging, brachte er das Schiff zum Stehen. Die Männer kamen ins Wasser. Amiel hob abwehrend seine Hände. Erstaunt hörte er sich selbst sprechen:„Ich bin allein und komme in Frieden. Ich bin ein Seefahrer und suche das Land Noer.“Die Männer winkten ihn zögernd heran und Amiel übergab ihnen den Strang seines Seiles. Gemeinsam zogen sie das Schiff an Land. „Wie ist dein Name?“, fragte ihn einer der Männer. Er hatte schwarzes, mittellanges Haar und einen leicht dunklen Teint. „Ich bin Amiel“, antwortete er bereitwillig und staunte noch immer, dass er eine so völlig unbekannte Sprache sprach. „Ich komme aus dem Norden, aus Europa.“Die Männer sahen sich fragend an. Sie halfen Amiel, das Boot fest zu binden und bestanden darauf, sich zu vergewissern, dass er alleine war. Mit grosser Bewunderung betrachteten sie sein Schiff. Aufgeregt begutachteten sie die Segel und den eingerichteten Innenraum. Die kleine Küche schien sie völlig zu faszinieren. Auch der Schiffsmotor wurde eingehend bestaunt.Sie stellten ihm seltsame Fragen, und Amiel begann zu verstehen, dass diese Dinge ihnen unbekannt und neu waren. Schliesslich versprach er ihnen, später einmal alles genau zu erklären und schenkte ihnen einige seiner Habseligkeiten, um sie abzulenken. Einer der Männer war bereits weggelaufen und kam mit fünf weiteren wieder angerannt, die allesamt erneut das Schiff unter die Lupe nahmen und heftig miteinander diskutierten. Erst nach einer ganzen Weile griff ihn ein älterer Herr lachend am Unterarm und führte ihn an den Strand.

„Nun komm aber erst mal an Land, mein Junge. Wir haben hier sehr selten Gäste von fremden Inseln. Du musst eine sehr weite Reise hinter dir haben. Komm und iss mit uns.“

Sie setzten sich zu den Fischerbooten, und mit der Zeit stiessen auch die anderen zu ihnen. Sie assen Brot mit getrocknetem Fisch und frischen Tomaten.

„In der Tat“, sagte der Mann, „du musst von sehr weit her kommen. Wir haben noch nie ein solches Schiff gesehen. Es gibt einige Inseln im Norden, mit deren Bewohnern wir Handel treiben. Aber vom sehr hohen Norden wissen wir nichts, ausser einigen vagen Geschichten und Mythen. Hie und da kommt ein Wanderer in unserem Dorf vorbei. Er hat uns vor ein paar Tagen auch mitgeteilt, dass ein Fremder vorbeikommen wird und wir dich höflich empfangen sollen. Ein guter Kerl, wenn auch etwas eigenartig.“

„Du meinst Dalin? Ist er hier?“, fragte Amiel.

„Nein. Gestern Nacht ist er in die Stadt aufgebrochen. Er meinte, es gäbe Dringendes zu erledigen. Einen guten Freund hast du dir da geangelt. Lässt dich einfach hier alleine zurück.“ Der Mann lächelte aufmunternd. „Aber mach dir keine Sorgen! Du bist hier in guter Gesellschaft. Wenn du willst, bist du willkommen, diese Nacht unser Gast zu sein. Ich wohne oben im Dorf mit meiner Familie. Morgen früh bricht mein Nachbar auf und fährt in die Stadt. Er kann dich bestimmt mitnehmen.“

„Wo ist denn die Stadt?“, fragte Amiel.

„Sie liegt etwas mehr als eine halbe Tagesreise südlich von hier“, antwortete einer der Männer. „Die Stadt Luun, Noers Hauptstadt im Lande des grossen Waldes. Eine prächtige Stadt, das kann ich dir sagen. Wir Anwohner des Meeres kommen leider nur selten in den Süden. Aber das haut auch sein Gutes. Es gibt zu viele Unruhen in den grossen Siedlungen. Hier im Norden sind wir zu abgelegen für solche Dinge.

Sie assen eine Weile und unterhielten sich. Amiel war überrascht, wie friedlich dieses erste Zusammentreffen verlief.

Er konnte nicht fassen, dass er tatsächlich hier war. Die letzten Stunden war er überzeugt gewesen, einem Trug seines Verstandes zum Opfer gefallen zu sein. Doch nun war er hier und spürte, wie er ruhig wurde. Er gab sich dieser Geschichte hin, die sich ihm Stück für Stück erschloss.

Nach all den Tagen verrückter Seefahrt, von innerem Zweifel und Zerrissenheit ermüdet, ergab er sich dem Lauf dessen, was hier längst vorbereitet zu sein schien. Er erkannte seine Rolle, die für ihn daraus zu bestehen schien, sich auf diese Reise als neugieriger Entdecker einzulassen und Land und Leute kennen zu lernen. Darüber hinaus nach Erklärungen zu suchen, war ihm kein Bedürfnis mehr. Es entkräftete ihn nur und liess keine logische Schlussfolgerung zu.

Er blendete den Realismus bewusst aus.

Er beobachtete diese fremden Menschen. Die meisten von ihnen waren dunkelhaarig, trugen kurze Bärte und waren kräftig gebaut. Ihre Kleidung war einfach, ihr Äusseres gepflegt und ihre Sprache war gemächlich und klangvoll.

Amiel beschloss, keine Fragen zu stellen, sondern einfach mal abzuwarten und zu beobachten.

Er war froh, an Land zu sein und genoss die Gesellschaft.

Aber er merkte, wie erschöpft er war und war froh, als die Fischer ihre Netze und Eimer zusammenpackten. Der Fang war heute klein ausgefallen.

Amiel packte seine Habseligkeiten zusammen und beschloss, das Schiff in die Obhut seines Gastgebers zu geben, bis Dalin wieder aufgetaucht war.

Dann gingen sie gemeinsam zum Dorf, welches eine halbe Stunde westlich auf einer Anhöhe über dem Meer stand. Es waren um die zwanzig alte Steinhäuser, die eine kleine Ortschaft bildeten. Die Häuser hatten grosse Gärten, wo tüchtig angepflanzt wurde. Einige besassen grosse Ställe für Kühe, Ziegen und Hühner. Grosse Hunde wachten über Häuser und Vieh. Alles sah recht idyllisch aus, aber es war klar zu erkennen, dass es nicht dem Entwicklungsstand seiner Heimat entsprach.

Amiel erblickte Pferdekarren vor den Häusern und ging an einer Schmiede vorbei, wo der Dorfschmied noch mit Hammer und Kohle Metall bearbeitete.

An den Häuserwänden hingen Heugabeln und Sicheln. Eine Frau holte gerade Wasser aus einem alten Ziehbrunnen, und Amiel sah die grossen Stapel Holz, die vor jedem Haus aufgebaut waren.

Die Männer verabschiedeten sich und Amiel musste versprechen, dass er oder Dalin ihnen eines Tages das Schiff mit den modernen Geräten erklären würde.

Deref, so hiess sein freundlicher Gastgeber, wohnte am Dorfrand in einem grossen Haus. Er zeigte Amiel die Ställe und präsentierte mit Stolz seine drei Pferde. Milch bekamen sie von einem halben Dutzend Ziegen, welche im hinteren Stall hausten.

Es war ein schönes Anwesen. Mit seinen grauen Steinhäuschen, umgeben von Meeresklippen und seichten Hügeln, erinnerte es Amiel an ein irisches Bauerndorf.

Es gibt eine Welt.

Der Wahrscheinlichkeit nach

grenzt das ans Unmögliche.

Es wäre viel begreiflicher,

wenn es einfach nichts gäbe.

Dann könnte sich auch niemand fragen,

warum es nichts gibt.“

Jostein Gaarder „Maya oder Das Wunder des Lebens“ (2002)

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